Freitag, 27. Februar 2015

Verteidigung der Wälder und der Städte - Die Kinder von Gezi

Interview mit Çiğdem Çidamlı
Von Ismail Doğa Karatepe und Fıtnat Tezerdi

Die Juni-Revolte hat den sozialen Bewegungen in der Türkei neue Dynamiken geschenkt. Sie stärkte Initiativen zum Schutz der Natur und der Städte. Wir haben mit Çiğdem Çidamlı, Aktivistin bei den Initiativen zur Verteidigung der Nordwälder und der Stadt Istanbul, über die Aktivitäten dieser Initiativen, die verschiedenen Widerstandsebenen und ihre Beziehungen zu anderen Akteuren der gesellschaftlichen Opposition gesprochen.

Infobrief Türkei: Seit langem beobachten wir oppositionelle Initiativen wie die “Verteidigung der Nordwälder” und die “Verteidigung der Stadt Istanbul”. Wie sind diese Aktionsgemeinschaften gegründet worden, welche Ziele verfolgen sie?

Çiğdem Çidamlı: Fangen wir mit der “Verteidigung der Nordwälder” an. Diese Initiative entstand während der Juni-Revolte, nachdem der Gezi-Park geräumt worden war und sich die ersten Stadtteil-Foren bildeten. Es ist ein Netzwerk des Widerstandes. Falls wir ein Gründungsdatum nennen müssten, wäre das der 7. Juli. Da wurden die ersten Schritte eingeleitet, um die dritte Brücke am Bosporus zu bauen. Damals fand auch eine von Radfahrern angeführte Aktion statt — unter dem Motto: “Früher war hier Dickicht” (unbebautes Land). Ein Teil dieser Mitstreiter wusste vorher nichts von dem Widerstand gegen die dritte Brücke. Erst durch das Netzwerk, das durch die Gezi-Proteste ins Leben gerufen wurde, lernten wir sie kennen. Wir schlugen ein Bündnis vor. So wurde unsere erste Aktion verwirklicht. 170 Radfahrer, die Bürger vom Istanbuler Stadtteil Sarıyer und die “3. Köprüye Karşı Yaşam Platformu” (Lebensplattform gegen die dritte Brücke) fanden zusammen und veranstalteten eine Aktion an den Grundsäulen der dritten Brücke. Diese Treffen wurden zu regelmäßigen Foren. Jeden Freitag fanden Versammlungen mit Megaphonen statt. Nach einigen Zusammenkünften und Aktionen nahm die Bewegung dann ihren jetzigen Namen an. Lange Zeit fanden die Sitzungen auf offenem Gelände statt, doch als der Winter kam, nutzten wir überdachte Räumlichkeiten.

IT: Ist die Initiative zur Vereidigung der Nordwälder nur gegen den Bau der dritten Brücke am Bosporus?

ÇÇ: Die Aktivitäten wurden Schritt für Schritt im Zuge der praktischen Erfahrungen und Ereignisse festgelegt. Beispielsweise wurde der Grundstein der dritten Brücke genau drei Tage vor dem 31. Mai 2013 (der Tag, an dem die Juni-Revolte im Gezi-Park losging) gelegt. Davor gab es verschiedenste Widerstandsformen. Am Anfang wollte man die dritte Brücke durch mehrere Stadtteile führen, doch diverse Initiativen haben dieses Vorhaben zum Erliegen gebracht. Der daraufhin abgeänderte Bauplan sah vor, dass die Brücke nun durch die Wälder führen sollte. Als der Widerstand diverser Umwelt- und StadtaktivistInnen mit aller Kraft weitergeführt wurde, entstand das Bedürfnis, in zwei Richtungen zu wachsen. Erstens, sich gegen die zunehmende Zahl weiterer Mega-Bauprojekte zu wehren. Beispielsweise gegen das Projekt eines dritten Flughafens, dessen Fundament 2014 gelegt wurde. Oder gegen das Kanalprojekt in Istanbul (hier wird das Marmara-Meer über einen neuen Kanal mit dem Schwarzen Meer verbunden), das kaum Transparenz vorweist und von dem wir nur bruchstückhaft Genaueres erfahren. Es gibt außerdem zahlreiche Großprojekte, die die Nordwälder bedrohen. Die Nordwälder bestehen aus einem Areal, das nicht nur den Norden Istanbuls bedeckt, sondern sich vom Strandscha-Gebirge in Bulgarien in die Türkei erstreckt. Es ist eine 300km lange Gebirgskette. Kurz, die ganze Marmara-Region ist betroffen.

IT: Welche Konsequenzen hatte das für eure Initiative?

ÇÇ: Die dritte Bosporus-Brücke wird nun im Rahmen des Marmara-Autobahnprojekts geplant. Die Autobahn soll mitten durch landwirtschaftlich genutzte Flächen in der Provinz Izmit verlaufen. Wir hatten bereits früher mit der bäuerlichen Bevölkerung, die Widerstand leistete, im Rahmen der Lebensplattform gegen die dritte Brücke Kontakte geknüpft und ein zweitägiges Camp organisiert, bei der wir unser Programm diskutierten. Dabei haben wir entdeckt, dass es auf der einen Seite Megaprojekte und auf der anderen Seite in einem unvorstellbar großen Gebiet zahlreiche kleinere Bauprojekte gab, die der über den Bausektor organisierten Kapitalakkumulation dienen. Wechselseitige Vernetzung war vonnöten, um die Nordwälder schützen zu können. Außerdem stellten wir fest, dass die gesamte Marmara-Region als ein Großstadtprojekt entworfen wurde: Die dritte Brücke ist nur der Anfang der Planung, es folgt die nördliche Marmara-Autobahn, anschließend der „Goldene Ring”, der die Umkreisung des Marmara-Meers in vier Fahrstunden erlauben soll. Wir nennen ihn die „Beton-Handschelle”. In der Umgebung sollen noch zahlreiche Atomkraftwerke, Kohle- und Steinwerke, Goldsuchanlagen mit Zyankali und weitere Industriebereiche entstehen. Indem die Industrie in den Norden und Süden verschoben wird, soll die Marmara-Region zu einem Immobilienhimmel werden. Eine Stadt ohne Grenzen: Ekümenopolis.

IT: Klingt unheimlich.

ÇÇ: Ja. Wir begriffen, dass wir einem gigantischen Plan gegenüberstanden, der einzig und allein dem internationalen Kapital dieses Gebiet vermarkten soll. Einzelne Kraftwerke und Autobahnen wurden einfach klammheimlich erbaut. Wir mussten also eine Widerstandsform finden, die ganz Marmara umfasst. Es ging nicht mehr nur um eine Politik, die umwelt- und menschenfeindliche Vorhaben stoppt oder verschiebt. Es musste über eine alternative Energiepolitik und über ökonomische Fragen debattiert werden.

IT: Welche Rolle spielt hier die Initiative zur Verteidigung der Stadt Istanbul?

ÇÇ: Die Initiative ist ein Teil des gleichen Prozesses, in welchem die Stadtteilinitiativen in Istanbul — übrigens schon vor Gezi aber besonders danach — den Beschluss fassten, den Widerstand gemeinsam zu koordinieren. Mit dem Aufruf der Nordwälder-Initiative, der städtischen Bewegungen, des Arbeitskreises für das Recht auf Unterkunft und gegen die urbane Transformation, sowie mit der Unterstützung von weiteren 200 Organisationen entstand die Idee eines breiten Istanbul-Meetings. So kam eine Massenbewegung in Gang. Seither finden - bis heute - jede Woche Sitzungen mit etwa 80-90 TeilnehmerInnen statt, um die Strukturen des Widerstandes zusammenzuführen. Im vergangenen Juni haben wir unsere Vereinigung offiziell gemacht: Initiative zur Verteidigung der Stadt. Später verwandelte sie sich zusammen mit anderen Kämpfen zu einem kollektiven Netzwerk.

IT: Besonders in den letzten Jahren ist die Herausbildung solcher Akteure von Bedeutung. Doch was ist der Unterschied zu den früheren Widerstandsbewegungen in den Slums?

ÇÇ: Parallel zu den Schäden, die der Natur, der Landwirtschaft und der Stadt zugefügt werden, erleben wir auch bei den Betroffenheiten einen Wandel. Seit etwa 40 Jahren sind wir Zeugen des Widerstands in den Slums. Gegenwärtig haben wir es jedoch eher mit einem Kampf gegen den gesamten städtischen Wandel zu tun. In den letzten Jahren hat sich nicht nur der juristische Weg der Auseinandersetzungen verändert, sondern auch die Art des Angriffs auf Stadt und Landwirtschaft. Ein Beispiel: Das Gesetz Nr. 6306 gibt Gebiete mit vermeintlichem oder tatsächlichem hohem Risiko für Naturkatastrophen zur Restrukturierung frei. Auf dem behördlichen Wege von den Stadtverwaltungen vorangetrieben, entsteht so ein Zugang zu einer neuen Nutzfläche. Die Bevölkerung wird aus ihren angestammten Stadtteilen verdrängt und der Raum dem Kapital angeboten. Das Gesetz installiert eine Art Ausnahmezustand. Es verleiht der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKİ außerordentliche Befugnisse, zulasten der Öffentlichkeit und zugunsten des Kapitals. Gemäß einem weiteren Gesetz werden nun auch Dörfer zu Stadtteilen gemacht und diesem Gesetz unterworfen. Somit werden ländliche zu urbanen Gebieten erklärt, so dass von einer kompletten Urbanisierung der Türkei die Rede ist.

IT: Was hat das für Folgen?

ÇÇ: Diese neue Ordnung ebnet neuen Kraftwerken, Einkaufszentren und anderen städtischen Großbauprojekten den Weg. Früher wurden ärmere Viertelbewohner verdrängt, heute werden dem Kapital alle kulturellen und historischen Orte sowie Parkanlagen zur Verfügung gestellt. Am Marmara-Projekt sieht man, dass Istanbul komplett umstrukturiert wird und alle Projekte, auch die Verbesserung der Verkehrsmittel, allein diesem Zweck dienen. Letztendlich sind vor allem ärmere Menschen und die bäuerliche Bevölkerung, die enteignet wird, die Verlierer dieses Prozesses.

IT: Also alles aussichtslos?

ÇÇ: Nein, seit Gezi sind wir Zeugen von neuen Akteuren, die sich für den umfassenden Schutz von Grünanlagen, für sämtliche kulturelle Reichtümer und für die ärmeren Stadtteile einsetzen. Das heißt, bei uns machen sowohl Plaza-Mitarbeiter [Plazas stellen Mischungen aus gehobenen Büro-, Shoppingmall- und Wohnkomplexen dar] als auch durchschnittliche Stadtteilbewohner mit. Es geht uns nicht nur um die städtischen Slums. Wir erreichen vielfältige Aktive aus urbanen und ländlichen Gebieten.

IT: Können wir also von einer neuen Qualität des Widerstandes sprechen?

ÇÇ: Ja, das hat eine neue Qualität. Wir erleben die Verbrüderung des Widerstands in Istanbul mit dem aus den ländlichen Gebieten. Das ist nicht bloß ein Zusammenschluss von Sympathisanten, sondern eine neue Qualität des gemeinsamen Widerstands der städtischen wie ländlichen Aktiven gegen die Ausbeutung. Möglicherweise ist das der erste Schritt für ein umfassenderes Netzwerk.

IT: Kannst du das mal konkretisieren?

ÇÇ: Während des Camps der Initiative zur Verteidigung der Nordwälder haben wir unser Programm geändert als uns die Nachricht von den „Arbeitsmorden“ bei den Bauarbeiten der Firma Torunlar in Istanbul erreichte. Wir haben 13 Kameraden verloren, das war insbesondere für unsere KollegInnen von der Gewerkschaft niederschmetternd. Nach diesem tragischen Ereignis waren die beiden Initiativen zur Verteidigung der Natur und der Stadt die ersten vor Ort. Wir protestierten vor den Barrikaden der Polizei und besetzten die Baustelle. Die Firma Torunlar ist nicht nur für den Tod der Arbeiter verantwortlich, sondern auch für die Zerstörung der Natur.

IT: Wie ist die Beziehung dieser Initiativen zur außerparlamentarischen Opposition, zum Beispiel zu den Gewerkschaften?

ÇÇ: Zurzeit ist alles noch sehr neu und begrenzt. Man kann nicht wirklich von einer Übereinkunft sprechen. Bei den „Arbeitsmorden“ von Torunlar beispielsweise entstand eine Diskussion über unsere Anwesenheit und zur Frage, wie es dazu kommt, dass wir und nicht andere Akteure, die viel näher dran sein müssten, zuerst vor Ort waren. Die Aufgabe, die unterschiedlichen Themen in einer gemeinsamen Perspektive zusammenzuführen, steht noch vor uns. Wie können z. B. die Arbeiter, die gegen die Privatisierung der Kraftwerke Widerstand leisten, mit den Bauern zusammen kämpfen, die grundsätzlich gegen den Bau dieser Kraftwerke protestieren? Diese Themen sind sehr neu und es besteht dringend Diskussionsbedarf. Noch besteht zwischen den verschiedenen außerparlamentarischen Akteuren einige Distanz. Trotzdem können wir hier erste Schritte der Verständigung unternehmen, zumal eine Zusammenarbeit dringend notwendig ist. Wir stehen da noch relativ am Anfang. So müssen bestimmte Vorstellungen über den Haufen geworfen und neue Politiken entworfen werden, z.B. bei Industrialisierung, Energiepolitik und Beschäftigungsverhältnissen. Wir brauchen ein linksgerichtetes Programm, das die Rechte der Natur, der Stadt und der Arbeit verteidigt. Diese Annäherung kann mit oder ohne Krisen zustande kommen, aber nicht ohne Entwicklung auf allen Seiten vonstatten gehen.

IT: Wie ist die Beziehung der Aktiven zur Opposition innerhalb des Parlaments? Habt ihr Kontakt zu sozialistischen oder sozialdemokratischen Abgeordneten?

ÇÇ: Wir sind grundsätzlich für jede Politik offen, die nicht faschistische Züge trägt. Wir sprechen von einem gemeinsamen Netzwerk. Uns interessiert nicht, welcher Partei die protestierende bäuerliche Bevölkerung nahesteht. Wer sich für die Arbeit, die Natur und die Stadt stark macht, ist grundsätzlich willkommen. Wir pflegen beispielsweise gute Beziehungen zu Melda Onur, Sebahat Tuncel und anderen Abgeordneten von der CHP (Republikanische Volkspartei) und der HDP (Demokratische Partei der Völker), die eher links stehen. Einige Abgeordnete nahmen mit uns an Aktionen teil, ohne uns „die Show zu stehlen“. Unsere Beziehung zu ihnen ist wie zu allen Mitstreitern, die sich für unsere Anliegen einsetzen und nicht darauf abzielen, unsere Stellvertreter zu werden. Keine inner- oder außerparlamentarische Formation kann diese Bewegung alleine vertreten. Es ist ein Prozess, in dem die Bewegung sich nur aus ihren eigenen inneren Dynamiken heraus formieren kann und wird.

IT: Also haben die Aktiven des Widerstands im ländlichen wie im städtischen Raum Gemeinsamkeiten gefunden und Versammlungen abgehalten. Verfolgt ihr auch das Ziel, diese Bewegung türkeiweit zu koordinieren?

ÇÇ: Dieses Ideal schwingt zweifellos immer mit. Während der Marmara-Meetings wurde dieser Vorschlag gemacht. Da kamen beispielsweise Freunde aus der Schwarzmeer-Region, die sich gegen die Goldsuche mit Zyankali wehren. Wir werden ihnen immer unsere Solidarität versichern, aber noch stehen wir selbst ziemlich am Anfang. Soll also unsere Koordination authentisch sein und wollen wir z.B. den Widerstand gegen den Bau von Wasserkraftwerken in der Marmara- und in der Schwarzmeer-Region koordinieren, müssen wir Schritt für Schritt vorgehen und auch Probleme ansprechen. Sonst kommen wir nicht weiter. Wir haben als Initiative auch mit Spaltungen in unserer Bewegung zu kämpfen.

IT: Was meinst du damit?

ÇÇ: Zum Beispiel sagen wir: Der Schutz von Marmara muss auch Teil eines alternativen ökonomischen Programms sein. Wenn wir aus diesem Vorhaben tatsächlich ein nationales Netzwerk des Widerstandes bilden wollen, müssen wir ein praktisches politisches Bewusstsein entwickeln, das auch nicht mit Rassismus in Kontakt kommt. Ja, eine türkeiweite Koordination ist zwar unser Ziel, aber ein mittelfristiges Projekt. Noch ist es etwas früh.

IT: Wie ist eure Beziehung zur Gezi-Revolte?

ÇÇ: Die Juni-Revolte im Gezi-Park war das Resultat einer langen Entwicklung und hat uns alle ergriffen und erschüttert. Natürlich gab es vorher schon soziale Kämpfe und Widerstand, von denen die Revolte inspiriert wurde. Doch die Gezi-Bewegung gebar neue Kräfte. Manche von ihnen waren Frühgeburten oder Totgeburten. Eine dieser Totgeburten war z. B. der Versuch, die Juni-Revolte in einer Partei unter ein Dach zu bringen. Die traumatischen Wahlergebnisse nach Gezi nahmen einigen Gruppen die Hoffnung, obwohl wir immer betont hatten, dass die Juni-Revolte nicht in die Wahlurnen hineinpasst.

IT: War Gezi wie eine Zäsur?

ÇÇ: Ja und nein. Auf der einen Seite gibt es seit Gezi einen Durchbruch, auf der anderen Seite gibt es da ein weiterhin bestehendes und zunehmend diktatorische Züge annehmendes politisches Regime. Unsere Initiativen sehen sich als die Kinder von Gezi, von dieser Revolte geboren. Wir lieben Gezi wie unsere Mutter. Wir möchten eine Bewegung, die sich nach den Gezi-Protesten entfalten und nun noch weiter zu einem landesweit oppositionellen Netzwerk ausdehnen kann. Hoffentlich reift daraus ein richtiges politisches Projekt heran.

Das Interview führten Ismail Doğa Karatepe und Fıtnat Tezerdi.
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Çiğdem Çidamlı ist Aktivistin bei “Kuzey Ormanları Savunması” (Initiative zur Verteidigung der Nordwälder) und bei “İstanbul Kent Savunması” (Initiative zur Verteidigung der Stadt Istanbul). Im Rahmen dieser Initiativen nahm sie an zahlreichen Aktionen und deren Organisation teil. Seit einigen Jahren arbeitet sie außerdem als Redakteurin für sendika.org.