Von
Errol Babacan
Mit dem Ausnahmezustand wurde die Installation der Diktatur
abgeschlossen. Der Krieg ist das Bindemittel einer asymmetrischen Koalition zwischen AKP, MHP
und CHP. Im kurdischen
Südosten werden direkte Kolonialpraktiken angewendet, die Faschisierung nimmt
Fahrt auf. Das Scheitern des neo-osmanischen Expansionismus vor Augen wächst
indessen die Kluft zur EU und den USA.
Unmittelbar nach Verhaftung der
HDP-Abgeordneten und der Attacke auf die Zeitung Cumhuriyet ist die westliche Kritik
an den politischen Zuständen in der Türkei lauter geworden. Die liberale
Anrufung der „Wertegemeinschaft“, für Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit
einzutreten, scheint inzwischen ganz oben Gehör zu finden. Sogar die von
marginalen linken Kreisen vorgebrachte Diagnose eines aufkommenden Faschismus
wird salonfähig. Zum rauen Wind, der dem AKP-Regime seit geraumer Zeit aus den
westlichen Leitmedien entgegenweht, gesellen sich Vergleiche zum Nationalsozialismus,
wie die des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn. Nach Jahren engster
Kooperation, systematischer Ausblendung und Schönfärbung der repressiven
Zustände werden gar effektive Druckmittel wie Wirtschaftssanktionen ins
Gespräch gebracht. Selbst die deutsche Regierung, deren Kritik trotz
unablässiger Provokationen aus der Türkei bislang vergleichsweise zurückhaltend
ausgefallen ist, sandte ein deutliches politisches Signal: Für politisch
Verfolgte gelte das deutsche Asylrecht.
Inwieweit den Worten Taten folgen
werden und das Versprechen nicht nur auserwählten Intellektuellen gilt, bleibt
abzuwarten. Als konkrete Tat mit politischer Signalwirkung kann der Entscheid
eines belgischen Gerichts in einem Prozess gegen kurdische Politiker im
europäischen Exil gewertet werden. Das Gericht führte jüngst aus, in der Türkei
herrsche Krieg, die Aktivitäten der PKK seien nicht als terroristisch, sondern
im Rahmen eines bewaffneten Konflikts zu werten. Es widersprach damit der Nennung
der PKK auf der EU-Terrorliste. Angenommen diese Auffassung wird hegemonial, so erscheinen auch Sanktionen und andere in die Waagschale geworfene
Optionen, den NATO-Austritt der Türkei herbeizuführen und die
EU-Beitrittsgespräche zu kündigen, nicht mehr so weit entfernt.
Die Brisanz besteht allerdings darin,
dass solche Maßnahmen eine Reihe von langfristigen wirtschaftlichen und
geostrategischen Interessen, die entgegen der Beschwörung von Werten die
eigentlich heiligen Kühe des Westens sind, empfindlich berühren. Die
Interessenlage in den Beziehungen zur Türkei muss nüchtern betrachtet werden. Die
Situation ist offensichtlich sehr ernst. Die Annahme, in der westlichen
Hemisphäre bestünde ein grundsätzliches Problem mit Diktaturen oder
reaktionären Bewegungen, lenkt von der Sache ab. Von Eigengewächsen abgesehen
ist aktuell noch vor der Türkei die enge und stetig intensivierte Kooperation
mit Saudi Arabien anzuführen, das eine patriarchale Diktatur inklusive praktizierter
Todesstrafe darstellt und als Heimstatt des internationalen salafistischen
Terrors fungiert. Auch Kriegsflüchtlinge oder politisch Verfolgte sind der EU prinzipiell
egal. Deals mit Diktaturen und die vielen Toten im Mittelmeer bilden den Alltag
des EU-Grenzregimes.
Nicht zuletzt bei der
Diskussion um die Visafreiheit für türkische StaatsbürgerInnen kam die
Doppelmoral offen zum Tragen. Wiederholt wurde ins Feld geführt, die
Visafreiheit könne einer großen Zahl Menschen aus der Türkei zur Flucht vor den
inländischen Verhältnissen verhelfen, was es unbedingt zu vermeiden gelte. Dass
es Fluchtgründe gab, wurde nicht nur anerkannt, sondern als Argument zur
Abschottung eingesetzt. Demokratiebesorgte Motive, wie die geforderte
Reformierung der „Terrorbekämpfungsgesetze“, waren indes schlicht vorgeschoben.
Deren Verschärfung stammte aus einer Zeit (2006), in der die Türkei noch als
demokratisches Vorbild gehandelt wurde. Werte oder verspätete Einsichten taugen
also nicht zur Klärung der Motive. Warum wird jetzt die Tonlage derart
verschärft?
Ein
NATO-Putsch?
Denkbar ist sicherlich, dass die
verbale Drohkulisse den linken/liberalen KritikerInnen innerhalb der EU und der
USA den Wind aus den Segeln nehmen soll. Die polizeiliche und militärische
Zusammenarbeit, die „historische Waffenbrüderschaft“ mit der Türkei besteht ja fort
[1]. Die wirtschaftliche Integration des Landes in westliche Strukturen greift
sehr tief. Die strategische Bedeutung der Türkei im westlichen Verbund ist
groß. Nichtsdestotrotz besteht eine offensichtliche Kluft zum AKP-Regime, die
nach dem Putschversuch größer geworden ist.
Apropos Putschversuch: Es ist nicht
pauschal von der Hand zu weisen, dass westliche Akteure in diesen tiefer
involviert waren, als die assoziierte Öffentlichkeit wahrnehmen will. Die
Behauptung einer vollkommenen Unwissenheit westlicher Dienste über Abläufe und
Bewegungen in einer der wichtigsten NATO-Armeen mit vielen
Verbindungsoffizieren, wichtigen westlichen Militäreinrichtungen, Radaranlagen
und Nuklearwaffen, in einem Mitgliedsland, in dem schon mehrere Putsche
stattgefunden haben, dessen Armee traditionell Schauplatz von politischen
Machtkämpfen und Intrigen ist und das sich aktuell an vorderster Front eines Kriegsgeschehens
mit globaler Tragweite befindet, sollte zumindest skeptisch stimmen. Die konkreten
Bedenken, die auch von integren KritikerInnen der türkischen Regierung geäußert
werden, gehen weiter. Sie schließen die pro-amerikanische Ausrichtung der
Putschisten, die abwartenden und nebulösen Reaktionen aus den USA in der
Putschnacht sowie die Rolle der NATO-Basis Incirlik ein, von der aus Kampfjets
gestartet sein sollen, woraus auf eine Mitwisserschaft von NATO-Offizieren
geschlossen wird.
Beweise, die den begründeten Verdacht
erhärten könnten, gibt es allerdings keine, echte Einblicke fehlen. Als wichtigster
Belastungsmoment kann angeführt werden, dass die Führung des Gülen-Netzwerks,
das nach plausiblen Erkenntnissen eine zentrale Rolle bei der Durchführung des
Putschs spielte, in den USA sitzt [2]. Dass die Putschisten quasi in der Luft
hingen, ihnen jede parteiliche Anbindung zu fehlen schien, deutet ebenfalls auf
das Netzwerk. Zu denken gibt in diesem Zusammenhang, dass das Gülen-Netzwerk im
Westen noch immer als zivil, liberal und außerweltlich – das Zauberwort aus der
esoterischen Mottenkiste lautet Sufismus – verharmlost werden kann. Als ob es die
Verbrechen und Gewalttaten, die Gülens Leute im Militär, in der Polizei und der
Justiz, begleitet von medialer Propaganda aus allen erdenklichen Kanälen, durchführten,
nie gegeben hätte. Dass die Führung dieses Syndikats, das ja nicht nur
Kemalisten verfolgte, sondern auch linken und kurdisch-demokratischen Kräften
das Leben über Jahre zur Hölle gemacht hat, im US-Bundesstaat Pennsylvania
sitzt, sagt jedenfalls viel über die Rolle der USA bei den demokratischen
Kämpfen in der Türkei aus.
Zurück zur eigentlichen Frage: Worin
könnte der Interessenkonflikt bestehen, der so tief greift, dass nicht
ausgeschlossen werden kann, dass sogar ein Militärputsch „geduldet“ wurde, der
das Potential barg, das Land massiv zu destabilisieren? Ein wirklichkeitsfernes
aber sich hartnäckig haltendes Argument, das der oberflächlichen
Kulturkampfpropaganda Folge leistet, lautet, der Islamismus der AKP bedinge
eine Abkehr vom Westen, worauf dieser wiederum mit einem Putsch reagiert habe.
Der erneute Verweis auf den westlichen Intimus Saudi Arabien und die kurze aber
heftige Liebschaft mit den Muslimbrüdern mag genügen, um das Vorurteil zu
entkräften. Weder der Islam noch der Islamismus bilden auf der Ebene der
politischen, wirtschaftlichen aber auch (para-)militärischen Zusammenarbeit ein
grundsätzliches Hindernis.
Es muss also andere Gründe geben, die
selbst oder gerade wegen der engmaschigen und langfristigen Integration der
Türkei in den westlichen Kapitalismus bestehen. Es sei nochmals unterstrichen,
dass Sanktionen eine Desintegration der Türkei aus dem westlichen Verbund forcieren
könnten. Es ist nicht plausibel, dass diese Möglichkeit ohne Not und schon gar nicht
aus ideologischen Gründen ausgesprochen, geschweige denn ein solcher Prozess angestoßen
wird. Von mittelfristigen Interessen westlicher Konzerne abgesehen, würde eine
Abkopplung der Türkei schließlich in eine Schwächung der EU und der USA in der
imperialen Konkurrenz münden.
Regimeform:
Illiberale Demokratie oder Diktatur?
Als Erklärung für den Zwist mit dem
Westen kann schließlich ein Machtkampf innerhalb der Bourgeoisie der Türkei
herangezogen werden. Bekannt ist, dass mächtige, mit westlichen Konzernen
verquickte Kapitalgruppen mit der Machtkonzentration bei Erdoğan hadern, da
dieser die zumeist kleinere, mit dem politischen Islam entstehungsgeschichtlich
verwachsene Konkurrenz protegiert. Dass es bei diesem Konflikt um eine Abkehr
vom Westen, allgemeiner um die globale Ausrichtung der türkischen Ökonomie gen Osten
oder in eine andere Himmelsrichtung geht, lässt sich aber
nicht durch überprüfbare Daten erhärten [3].
Die Entwicklungen vor und nach dem
Putschversuch deuten auf einen anderen Zusammenhang: Als eigentlicher
Knackpunkt tritt der Verlauf des Krieges in Syrien und im Irak hervor. Auf die
Bourgeoisie wirkt sich der Kriegsverlauf, auf den weiter unten eingegangen
werden wird, eher einigend als spaltend aus. Dies lässt sich allerdings nur indirekt
anhand der Haltung der drei großen bürgerlichen Parteien schließen. Der Krieg fungiert
seit einiger Zeit als Bindemittel eines asymmetrischen Zweckbündnisses zwischen
der AKP, der MHP und der CHP. Zwar bestand das Bündnis bereits vor dem
Putschversuch, danach wurde es jedoch vertieft. Es steht definitiv nicht auf
dem Boden der parlamentarischen Demokratie. Die Einbindung der MHP und der CHP
geschieht nicht über die Legislative, sondern über die Bürokratie. So ist auch
zu erklären, dass die Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie und
des Laizismus sowie eine Zurückdrängung der Islamisierung mit diesem Bündnis
keinesfalls verbunden sind.
Mit dem Ausnahmezustand wurde die Installation
der Diktatur in Form einer Gewalteneinheit abgeschlossen. Die vom Präsidenten dominierte
Exekutive hat in allen Belangen das letzte Wort, das Parlament ist zum Theater
degradiert und die Justiz zur Makulatur geworden. Die Asymmetrie des Bündnisses
kommt auch darin zum Tragen, dass die Schließung von Parteien per
Präsidialdekret verfügt werden kann. Mit Verweis auf den Ausnamezustand hat das
Verfassungsgericht, dem solche Entscheidungen bislang oblagen, erklärt, dass es
sich nicht für zuständig in der Überprüfung der Dekrete hält. Mit anderen
Worten, die Verfassung ist aufgehoben.
Das bedeutet allerdings nicht, dass
nicht weiterhin nach Wegen der Legalisierung des extralegalen Zustands gesucht
wird und gleichzeitig Gesetze und Dekrete erlassen werden, die den Anschein von
Legalität erwecken. Die Gesetze und Dekrete stellen jedoch nur insofern
Legalität her, indem sie Direktiven darstellen, die das verbindliche
Funktionieren des Staatswesens gewährleisten und verhindern sollen, dass die extralegale
Position des Präsidenten auf das innere Funktionieren der Bürokratie
übergreift, sprich jeder Polizeibeamte oder Richter sich ein Vorbild an Erdoğan
nehmend seine eigenen Gesetze zu diktieren beginnt. Die Entgrenzung der
präsidialen Vollmachten soll sich nicht innerhalb der Befehlskette
reproduzieren können.
Wie dieses Regime adäquat bezeichnet
werden soll, ist umstritten. Der Begriff der illiberalen Demokratie, der
Gemeinsamkeiten zu Ländern wie Russland oder Ungarn herausstreicht, ist zu unspezifisch,
in sich zu widersprüchlich, um die politische Form zu fassen. Die Aussage,
wonach in der Türkei noch reguläre Wahlen und Parteienkonkurrenz stattfänden,
trägt nicht zur Klärung der realen Verhältnisse bei. Treffender ist der Begriff
der Diktatur, faschistische Tendenzen sind zu erkennen [4].
„Gülenisierung“
der Parteien
Es mag irritieren, dass gleichzeitig
von einer Diktatur und einem Dreiparteien-Bündnis die Rede ist. Wie erwähnt
geschieht die Einbindung der MHP nicht über politische Posten, sondern über
bürokratische Wege. Die Kader der MHP im Militär, in der Polizei und der Justiz
sind wichtige Stützpfeiler des Regimes, die nach der Ausschaltung des
Gülen-Netzwerks an Gewicht hinzu gewonnen haben. Gesteuert wird dieser Prozess
aus dem Präsidentenpalast, den der Vorsitzende der MHP zwecks Absprachen
inzwischen regelmäßig besucht.
Die neo-faschistische MHP ist
politisch und ideologisch ohnehin nicht weit von der AKP entfernt. Die Partei hat
bereits nach den Juni-Wahlen 2015 den Weg eines informellen Regierungspartners
eingeschlagen. Sie öffnete der AKP die halb-legale Tür zu Neuwahlen und gab erst
kürzlich grünes Licht für ein Referendum über die Einführung des
Präsidialsystems. Die AKP und die MHP sind informelle Koalitionspartner bei der
Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Die Beseitigung der HDP und die
Usurpation der von der Schwesterpartei DBP regierten kurdischen Kommunen sind
Teil dieses Vorgangs.
Wie aber steht es um die CHP? Teile
der Partei sind in einen ähnlichen Deal verwickelt. So wurden bspw. nach dem
Putschversuch etliche Offiziere rehabilitiert, die im Zuge des
Ergenekon-Prozesses aus der Armee entlassen und inhaftiert worden waren. Die
Offiziere stehen dem rechts-kemalistischen Flügel der Partei nahe. Die Einbindung
dieses Flügels führt eine faktische Spaltung der CHP herbei, deren
sozialdemokratischer und nach links offener Flügel lahm gelegt und der
Repression ausgesetzt wird. Im Angriff auf die Zeitung Cumhuriyet schlägt sich
diese Spaltung nieder [5]. Sie bestand aber auch schon, als die Parteiführung
trotz deutlicher Kritik aus den eigenen Reihen und ausdrücklicher Kenntnis der
Verfassungswidrigkeit der Aufhebung der Immunität von Parlamentsabgeordneten
zugestimmt hatte und so den Weg für die laufenden Verhaftungen frei machte.
Im Übrigen fand auch in der MHP ein
Abspaltungsprozess statt, bei dem eine konkurrierende Strömung innerhalb der
Partei mit Hilfe der AKP-Justiz lahm gelegt wurde. Der logische Endpunkt dieses
Prozesses der Einbindung der MHP und der CHP über die Bürokratie wird die
Auflösung von politischen Parteien in Netzwerke oder Cliquen sein, die sich in
der Bürokratie organisieren. Das Vorbild für diese Organisierungsweise lieferte
ironischerweise das Gülen-Netzwerk. In diesem Sinne kann von einer
Gülenisierung der Parteien gesprochen werden.
Kolonie
Kurdistan
Die Cumhuriyet ist noch nie die
Zeitung der gesamten CHP gewesen. Repräsentativ für die realpolitische Position
der CHP ist heute die auflagenstarke, ultra-nationalistische Zeitung Sözcü. In
diesen Kreisen wird der Staatszerfall als die dringlichste Gefahr wahrgenommen.
Zwar wird diese Angst schon seit dem Osmanischen Reich tradiert und ist in den
Gründungsmythos der Republik eingeschrieben. Doch heute erscheint diese Gefahr
akut, insofern die Entwicklung des Krieges im Äußern verstärkend auf die
Staatskrise zurückwirkt. Hervorgerufen wurde die Staatskrise durch die
militärische Bekämpfung der kurdischen Befreiungsbewegung, angetrieben wurde
sie durch die Ablehnung einer politischen Lösung, die eine Teilung der Macht mittels
demokratischer Reformen umfasst.
Eine politische Lösung steht nicht
nur im Gegensatz zum gesellschaftlichen Programm der regierenden Islamisten. Auch
die MHP und große Teile der CHP zeigen sich unnachgiebig. Die Dauer des
Bürgerkriegs und seine ideologische Artikulation lassen oft übersehen, dass das
Problem in die Klassenverhältnisse des Landes eingelassen ist. Lösungsansätze,
die hierüber hinweg sehen, die einen abstrakten autoritären Staatsgeist zur
Erklärung heranziehen, erfassen den Charakter des Konflikts nicht vollständig.
Neben billigen Arbeitskräften ist das
kurdische Siedlungsgebiet reich an natürlichen Ressourcen, insbesondere an Wasser.
Mit der Kontrolle über die Flüsse kann Kontrolle über die südlichen
Nachbarstaaten ausgeübt werden. Daneben besteht die regionalstrategische
Bedeutung des Gebiets aus türkischer Perspektive darin, dass es das Tor zum
Nahen Osten bildet. Handelswege und Pipelines verlaufen hier. Eine militärstrategische
Bedeutung kommt hinzu. Ein Kontrollverlust über das Gebiet bedeutet einen
Kontrollverlust über Arbeitskräfte, Märkte, Handelswege, Ressourcen, kurz über
Produktivkräfte und Akkumulationsmittel, und würde sich als Schwächung der
gesamten inländischen Bourgeoisie, insbesondere aber der gen Süden orientierten
Fraktionen niederschlagen.
Doch berührt der Konflikt nicht nur
die Interessen der Bourgeoisie. Auch innerhalb der türkischen Mittelklasse wird
ein kurdischer Machtgewinn oder eine Autonomie als eine Schwächung der Türkei
wahrgenommen, die nicht akzeptiert wird. Letztlich verfügt diese Sichtweise über
eine innere Logik, denn die Reproduktionsgrundlagen von bürgerlichen
Mittelklassen hängen erheblich an der wirtschaftlichen Macht (Prosperität)
ihres Landes. Dass die Werktätigen ebenfalls eine offene Flanke für diese
Wahrnehmung aufweisen, hängt wiederum auch damit zusammen, dass in der
Konkurrenz innerhalb der werktätigen Klassen sich die ethnische Zugehörigkeit in
Hierarchien auf dem „Arbeitsmarkt“ niederschlägt, bei denen Kurden/Kurdinnen in
der Regel unten stehen.
Für eine kurze Zeit schien der so
genannte Friedensprozess in der Türkei einen Ausweg aus dem Bürgerkrieg zu
bieten, indem die Lösung quasi nach außen verlagert wurde. Die Bürgerkriege im
Irak und in Syrien wurden als „historische“ Chance gesehen, eine regionale
Führungsrolle im Verbund mit den Muslimbrüdern einzunehmen. Die scheinbare
Liaison mit der kurdischen Bewegung war vor diesem Hintergrund konzipiert als
Erweiterung der Staatsgrenzen in die südlichen Nachbarländer. Mit anderen
Worten, der „Friedensprozess“ wurde auf dem Boden der Expansionsgelüste
türkischer Kapitalfraktionen geschmiedet [6].
Nachdem sich Syrien und der Irak als
Sackgassen erwiesen haben und klar geworden ist, dass die regionalen
Kräfteverhältnisse keine derartige Expansion zulassen, setzt nun Katerstimmung
ein. Vielmehr wirft das Scheitern des Expansionismus den Bürgerkrieg mit aller
Härte in die Staatsgrenzen der Türkei zurück, so dass auch wieder direkte
Kolonialpraktiken in Kurdistan angewendet werden, wie sich in der Ernennung von
Kolonialbeamten (offiziell Statthalter/Zwangsverwalter genannt) anstelle der verhafteten
BürgermeisterInnen kurdischer Kommunen zeigt.
Indes zieht die PKK aus der
Schließung des politischen Raums umso mehr Legitimation für den bewaffneten
Kampf, den sie absehbar intensivieren wird. Wenn alle Kräfte beseitigt sind, die
für einen Zusammenhalt und eine friedliche Lösung eintreten, drängt sich die separatistische
Option geradezu auf. Die Vertiefung des Krieges kommt gleichzeitig aber der AKP
zupass, sie provoziert ihn wie bereits unmittelbar nach den Juni-Wahlen 2015. Der
Krieg konsolidiert die Diktatur, provoziert unkontrollierte Gewalt, soll die
kurdische Bewegung auf sich selbst zurückwerfen sowie eine Annäherung mit
anderen unterdrückten Gruppen wie den AlevitInnen verhindern.
Abkehr
des Westens
Der Krieg verlief für das AKP-Regime
vollkommen anders als geplant. Das Dringen und Drängen, an den Offensiven gegen
den IS in Rakka und in Mossul teilzunehmen, stellt kaum mehr den Versuch dar, das
neo-osmanische Expansionsstreben umzusetzen. Es erscheint vielmehr als letzter
Versuch der Vorwärtsverteidigung, so wie es bereits die Invasion syrischen
Staatsgebiets darstellte. Doch die USA haben sich in eine andere Richtung
orientiert und es sieht nicht mehr danach aus, dass sie die türkischen Wünsche
unterstützen werden. Sie präferieren – zur Bekämpfung des IS aber auch in
Konkurrenz zu Russland – nicht türkische, sondern andere Streitkräfte im Irak
und in Syrien. Der seit dem Kampf um Kobanê Ende 2014 eingeleitete Prozess der
Annäherung zwischen der PKK, der syrisch-kurdischen PYD und den USA schreitet
voran, während der Konflikt zwischen den USA und dem Iran – ein
regionalpolitischer Konkurrent der Türkei – zurückgestellt worden ist.
Nun lässt sich ein Zwischenresümee
ziehen, indem die Eingangsfrage wieder aufgegriffen wird: Worin besteht der
Interessenkonflikt mit dem Westen, der sogar begründeten Anlass gibt,
die Verstrickung des Westens in den Putsch zu befragen? In der Verfolgung ihrer
Kriegsziele sind die USA, auf die die AKP gebaut hat, in Widerspruch zu
türkischen Kriegszielen geraten. Mit anderen Worten, der Kriegsverlauf ist in
einer Abkehr des Westens von der Türkei in der für sie entscheidenden Kriegsfrage
gemündet. Die Türkei ist mit ihren Vorstößen in Syrien und im Irak zu einem
Unsicherheitsfaktor geworden. Eine türkische Invasion in Syrien und ein Angriff
auf die dortigen Verbündeten des Westens waren unerwünscht, so wie auch die
Annäherung der Türkei an Russland nicht gern gesehen wurde.
Dass die USA der Türkei kurze Zeit
nach dem Putschversuch grünes Licht für den Einmarsch nach Syrien gaben,
erscheint als Zwischenlösung, um die Türkei nicht ganz zu verprellen [7]. Aktuell
stellt sich die Frage, ob eine außenpolitische Verrücktheit des Präsidenten
Erdoğan, im Widerspruch zu den realen Kräfteverhältnissen ein militärisches
Abenteuer im Irak zu wagen, zu erwarten ist. Das ist nicht gänzlich
auszuschließen. Schließlich bildet der Krieg eine zentrale Grundlage seiner innenpolitischen
Macht. Dass der militärische Interventionismus und die Bekämpfung der PKK nicht
allein vom Präsidenten ausgehen, verstärkt diese Befürchtung. So lautete ein
bemerkenswerter Vorwurf des Vorsitzenden der CHP nach der Verhaftung der
HDP-Abgeordneten an die Regierung, sie solle sich nicht mit Mücken abgeben,
sondern den Sumpf austrocknen, womit die Aufforderung einer Bombardierung des
Kandil-Gebirges – der Hauptbasis der PKK im Irak – verbunden war. Ein
militärischer Alleingang der Türkei im Irak würde jedoch zu einer Konfrontation
mit der irakischen Armee, dem Iran und wohl auch den irakischen Kurden führen
und könnte sogar eine Eskalation auf globaler Stufenleiter auslösen. Sofern
sich die US-amerikanischen Ziele nicht in Richtung einer Ausweitung des Kriegs
verschieben, wodurch die Türkei wieder stärker gebraucht werden würde,
erscheint dieses Szenario allerdings nicht sehr wahrscheinlich.
Drohender
Staatszerfall
Insgesamt ist also ein
außenpolitisches Fiasko festzustellen, aus dem in der Türkei ein
Untergangsszenario erwächst, das Vergleiche zum Ersten Weltkrieg ziehen lässt,
das die unbändige Wut auf den Westen, das verzweifelte Augenzwinkern Richtung Russland
und die große Härte und Eile im Vorgehen gegen liberale, linke und kurdische
Kräfte erklärt.
Die Umkehr der Kriegslage und der
Bündniskonstellationen erklärt die Haltung der CHP insbesondere nach den
Juni-Wahlen 2015. Die Konsolidierung Rojavas und die Kooperation zwischen den
USA und der PKK bzw. der PYD in Syrien werden von großen Teilen der CHP als
existentielle Bedrohung wahrgenommen. Der Häuserkampf im Südosten der Türkei,
der beinahe ein Jahr andauerte, hat diese Wahrnehmung verstärkt. Vor dem
Hintergrund der oben skizzierten Bedeutung Kurdistans für den türkischen
Machtblock wird verständlich, an welchem Punkt die Befürchtung einer Abspaltung
des kurdischen Südostens ansetzt. So verwundert es nicht, dass die Reaktion großer
Teile der CHP auf die Repressionswelle gegenüber der HDP aber auch der Zeitung
Cumhuriyet zwischen verhaltener Kritik und praktischer Zustimmung schwankte.
Der „Besitzanspruch“ auf Kurdistan,
der sich in der Haltung der CHP niederschlägt, verhindert maßgeblich die
Bildung einer Opposition, die dem Totalitarismus und der Radikalisierung von
Tötungsabsichten, wie es sich auch in der Popularisierung der Todesstrafe ankündigt,
die Stirn bieten könnte. Noch hält die Bekämpfung der HDP und anderer Kräfte,
die eine sozial fortschrittliche Führung der Bevölkerung organisieren könnten,
das Kriegsbündnis zusammen. Der Auflösungsprozess der CHP von links hat aber bereits
begonnen, wie sich am verbal-radikalen, letztlich aber passiven Verhalten der
CHP-Führung nach der Attacke auf die Cumhuriyet ablesen lässt. Daneben sind
weitere Putschversuche nicht auszuschließen, wenn das Kriegsbündnis zerbricht
und die lang erwartete Wirtschaftskrise eintritt [8].
Es lässt sich daher schließen, dass
die jüngeren Reaktionen aus der EU nicht nur die Verschiebung in der
Bündniskonstellation im Nahen Osten in Richtung PYD/PKK widerspiegeln, sondern auch
das skizzierte Szenario vorwegnehmen. Nichtsdestotrotz liegt entgegen des
türkischen Verschwörungswahns ein vollumfänglicher Bürgerkrieg in der Türkei
kaum im Interesse des Westens, nicht aufgrund von grundsätzlichen Werten,
sondern aufgrund konkreter materieller und strategischer Interessen, die
eingangs angesprochen wurden. Schlussendlich würde es Russland in die Karten
spielen, wenn die NATO an ihrer Südflanke plötzlich einen „failed state“
beherbergen würde. Und der EU würde sich dann ein ganz anderes
„Flüchtlingsproblem“ stellen. Exakt in diese Richtung steuert aber die Türkei.
Auf den Westen kann aber nicht gebaut
werden, einem erneuerten Arrangement mit dem Regime stehen schließlich keine
prinzipiellen Werte entgegen. Der Prozess lässt sich nur von innen stoppen. Für
die Einsicht, dass die Türkei sich niemals in die Kriege in ihren
Nachbarstaaten hätte einmischen dürfen, ist es zu spät. Berichte über eine
massive Bewaffnung der Bevölkerung nehmen zu, nicht zuletzt hat der
Dschihadismus Fuß gefasst im Land. Auch zu spät erscheint die Einsicht, dass eine
Friedensperspektive einer sozialistischen Komponente bedarf. Schließlich
unterliegt dem Bürgerkrieg und den reaktionären Bewegungen des Landes eine
kapitalistische Dynamik. Nicht zu spät ist es aber für die Einsicht, dass ein
Frieden mit der kurdischen Bewegung und die Einheit aller demokratischen Kräfte die letzte Chance ist, die faschistische
Entwicklung aufzuhalten, die schlimmste Zerstörung abzuhalten und eine
Zukunft zu erhalten.
________________________________
[1] Vgl. Murat Çakır (2016): „Noble Einsamkeit“ und strategische Prioritäten – Über die vermeintlichen Verwerfungen in den deutsch-türkischen Beziehungen. In: Infobrief Türkei,
Nr. 13.
[2] Vgl. zur Rolle des
Gülen-Netzwerks Dani Rodrik (2016): Is Fethullah Gulen behind the coup? Und Is the US behind Fethullah Gulen? In: Dani Rodrik’s weblog.
[3] In diese Richtung
argumentiert bspw. Sungur Savran: „So war es also eine Allianz von
pro-amerikanischen Säkularen und den Eingeweihten einer religiösen Bruderschaft
unter dem Schutz der USA, die den Putsch führte.“ Savran lokalisiert den
Grundkonflikt darin, dass Erdoğan und eine assoziierte Bourgeoisie die Führung
der muslimischen Welt gegen den Westen anstrebten. Hierzu lässt sich
feststellen, dass es zwar den ambitionierten Plan der Türkei gab, eine
Regionalmacht zu werden (Stichwort Neo-Osmanismus). Der Witz ist aber, dass
dieser Plan im Einklang und nicht im Widerspruch zu US-amerikanischen Plänen
geschmiedet wurde und der Zwist erst entstand, als der „große“ Plan bereits
gescheitert war. Sungur Savran (2016): Der Krieg zweier Putsche in der Türkei. In: Luxemburg Online.
[4] Allerdings impliziert die
Diagnose eines Faschismus die Unmöglichkeit bzw. Absage an Widerstandsformen
zivilen und demokratischen Charakters, was vor dem Hintergrund eines bereits
vorhandenen bewaffneten Widerstands diskutiert werden muss. Die meisten
Vertreter der Faschismusthese schweigen sich an dieser Stelle aus oder lehnen
den bewaffneten Widerstand sogar rundweg ab. Um nicht missverstanden zu werden:
Dies ist kein Plädoyer für den bewaffneten Kampf, es ist lediglich der Hinweis,
dass die Faschismusdiagnose praktische Implikationen birgt, die diskutiert
werden müssen.
[5] Bei aller Absurdität der
Anklageschrift sei bemerkt, dass die Anklage gegen die Herausgeber und
Journalisten der Cumhuriyet sich auch auf eine Intrige gegen die linke/liberale
Mehrheit seitens einer rechts-kemalistischen Minderheit innerhalb der Stiftung
stützt, die die Zeitung herausgibt. Die in die Minderheit geratenen
Rechtskemalisten klagten gegen die Wahl des Stiftungsvorstands, die sie
verloren hatten. In einem nur auf Türkisch vorliegenden offenen Brief des geschäftsführenden Vorstandsmitglieds Akın
Atalay, der inzwischen festgenommen wurde, wird der Sachverhalt geschildert.
[6] Ein früher Hinweis auf diesen
Zusammenhang findet sich im Infobrief Türkei Nr. 4. Ercan Geçgin (2013): In 10 Fragen – Die Verhandlungen über die kurdische Frage und der Nahe Osten.
Zum Verlauf des Krieges im Zusammenhang mit dem „Friedensprozess“ siehe Arzu
Yılmaz (2016): Friedensweg mündet im Krieg – Die Internationalisierung der kurdischen Frage.
In: Wissenschaft und Frieden, Dossier Nr. 82.
[7] Die USA üben offensichtlich Druck
auf die Türkei und auf Rojava aus, eine direkte Konfrontation zu vermeiden.
Faktisch unterstützen sie den türkischen Vorstoß, einen dauerhaften Keil
zwischen die Kantone Rojavas zu treiben. Die Präsenz von türkischem Militär in
Syrien ließ auch die Option einer türkischen Beteiligung an der Eroberung der
IS-Hochburg Rakka realistischer werden. Vermutlich erhöhte diese Situation den Druck
auf die militärischen Einheiten Rojavas, dem seit längerem bestehenden US-amerikanischen
Drängen nachzugeben, Rakka anzugreifen. Spätestens mit der Besiegung des IS
wird dieses Doppelspiel an eine Grenze stoßen.
[8] Eine von der äußeren Entwicklung
unabhängige Kriegsdynamik, auf die hier nicht eingegangen werden kann, bildet der
totalitäre Expansionismus des politischen Islam nach Innen. Siehe hierzu Errol
Babacan (2016): Unauflösbare Widersprüche. Die kurdische Bewegung und die AKP.
In: Wissenschaft und Frieden, Dossier Nr. 82.