Von
Errol Babacan
Der Putschversuch hat die
AKP mit einer Initiativhoheit ausgestattet, die sie voll ausschöpfen wird. Auf den
Straßen wird die Inthronisation des islamisch-faschistischen Mobs eingeübt.
Als am Abend des 15. Juli
die ersten Nachrichten über die Blockade der Bosporus-Brücke und tieffliegende
Kampfjets über Ankaras Himmel die Runde machten, herrschte große Besorgnis und zugleich
Überraschung auf Seiten der demokratischen und linken Kräfte des Landes. Die Sorge
galt nicht der AKP-Regierung und der “demokratischen Grundordnung”, wie viele
Staatsmänner und -frauen am nächsten Tag sich ausdrückten. Letzteres besteht in
der Türkei schon lange nicht mehr. Vielmehr kann von der Armee, so die
überwiegend geteilte Meinung, nichts Gutes kommen, auch dann nicht, wenn sie
gegen die AKP vorgeht. Nicht nur die historische Erfahrung, sondern auch die blutige
Niederschlagung des Aufstands in den kurdischen Städten in jüngerer Zeit lehrt,
dass die Armee autoritäres Zentrum eines aggressiven Nationalismus ist.
Das zweite Gefühl der
Überraschung entsprang daraus, dass es trotz wiederkehrender Spekulationen über
einen möglichen Putsch keine konkreten Anzeichen für einen Zwist zwischen
Armeeführung und Regierung gab. Im Gegenteil, im Krieg gegen die kurdische
Bewegung war eine neue Allianz zwischen Neo-Faschisten der MHP, kemalistischen
Hardlinern in der CHP und den regierenden Islamisten geschmiedet worden. Und
spätestens seit 2014 harmonieren die Armee und ihr näheres Umfeld, zu dem auch
das Netzwerk ehemaliger Offiziere gehört, mit der Regierung in wichtigen
politischen Belangen. Bereits vor zwei Jahren wurden Dutzende hochrangige
Offiziere wieder auf freien Fuß gesetzt, die im Zuge des Ergenekon-Prozesses
verhaftet worden waren. Zwei gemeinsame Feinde – die kurdisch-demokratische
Bewegung und die Gülen-Bewegung – bildeten die Basis dieser Annäherung.
Wer
führte die Regie?
Außerdem hatte die Regierung
seit 2010 die höheren Ränge der Armee Schritt für Schritt ausgetauscht, so dass
einfach nicht vorstellbar war, dass der Regierung von dieser Seite ernsthafte
Gefahr drohen sollte. Und trotzdem schien ein Putsch zu laufen. Der Generalstab
war scheinbar ausgeschaltet bzw. festgesetzt worden. Erste Informationen über
die Putschisten von regierungsnahen Medien verbreiteten das Gerücht, die “terroristische”
Gülen-Sekte stecke hinter dem Geschehen. Wie sie zu dieser Information wenige
Augenblicke nach Beginn der Aktionen gelangten, ist bis jetzt im Dunkeln
geblieben. Die Putschisten verheimlichten ihre Identität. Im von ihnen
besetzten staatlichen Fernsehen ließen sie eine erste Erklärung von einer
Nachrichtensprecherin verlesen, in Duktus und Wortwahl sehr eng an die „berühmte”
Rede Atatürks an die Jugend angelehnt.
Unterdessen besetzten
Soldaten den Taksim-Platz und den Istanbuler Flughafen. Präsident Erdoğan erschien
im Privatfernsehen, das die ganze Zeit mehr oder weniger störungsfrei lief, per
Handyzuschaltung und rief die Bevölkerung dazu auf, auf die Straße zu gehen und
sich hinter die Demokratie zu stellen. Es wurde berichtet, Erdoğan befinde sich
im Flugzeug und fliege nach Istanbul.
Spätestens zu diesem
Zeitpunkt, etwa drei bis vier Stunden nach Beginn des Putsches, kamen starke Zweifel
am Gelingen desselbigen auf und bald danach auch Zweifel an seiner Echtheit. Wozu
sollte es gut sein, mit einer Handvoll junger Soldaten nicht den Taksim-Platz, wie
es hieß, sondern lediglich die Statue auf dem Platz zu besetzen? Wer sollten die
Anführer dieser Putschisten sein, die sich kein Gesicht gaben und keinerlei
Anstalten machten, die Öffentlichkeit für sich zu mobilisieren, während die
Gegenmobilisierung eingeleitet wurde? Welchem Zweck außer Medienwirksamkeit diente
die Besetzung der Bosporus-Brücken? Wie kann es sein, dass der Staatspräsident sich
die ganze Zeit in einem Flugzeug befunden haben soll, dann auf dem Istanbuler
Flughafen landete, während Kampfjets über Ankara sausten und das Parlament
bombardierten? Und überhaupt: welche strategische Bedeutung hatte die
Bombardierung des Parlamentsgebäudes?
Die Vorbereitung eines
Putschs, sollte man annehmen, erfordert einen gewissen Grad an Absprachen. Ein Plan
und eine Koordinierung sind erforderlich. Wie, mit welchen Mitteln soll dies im
21ten Jahrhundert ausgerechnet in der Institution, in der jeder Schritt
Überwachungs- und Disziplinierungsmechanismen unterliegt und deren Schaltstellen
– wie erwähnt – maßgeblich von der AKP besetzt worden war, vorbereitet worden
sein, ohne dass die verschiedenen Geheimdienste auch nur Wind davon bekamen?
Gottes
Segen
Vieles passt einfach
nicht. Der Putsch wirkt wie eine Inszenierung, bei der allein die Darsteller an
die Echtheit ihrer Rolle glaubten. Doch wer hatte die Regie inne und wer behielt
den Überblick? Ertuğrul Kürkçü, Parlamentsabgeordneter der
kurdisch-linksliberalen HDP, vermutet wie inzwischen viele andere auch, dass
die Regierung von den Putschplänen einiger Offiziere wusste, den Dingen jedoch
ihren Lauf ließ, im Wissen, dass die Putschisten in Armee und Öffentlichkeit
weitgehend isoliert bleiben würden.
Dass es so oder so
ähnlich gelaufen sein könnte, ist leicht vorstellbar. Wer solche Überlegungen
als weit hergeholt abtut, ist jedenfalls vergesslich. Denn es wäre nicht der
erste fingierte Putsch, den die Türkei erlebt. Auch bei dem bereits erwähnten
Ergenekon-Prozess, der dafür sorgte, dass die AKP in einer kritischen Phase von
Liberalen und einigen Linken unterstützt wurde, ging es um einen Putschversuch
von Generälen. Dieser wurde jedoch nie nachgewiesen. Die beschuldigten Offiziere
befinden sich wieder auf freiem Fuß, ohne dass je ein Hahn danach krähte, wie
es denn sein kann, dass dieser so genannte Jahrhundertprozess, der die
„militärische Vormundschaft“ ein für alle Mal beenden sollte, sang- und
klanglos im Nichts versandete.
Warum sollte die AKP solcherart
Bewährtes nicht wiederholen? Und hatte nicht der Chef des Geheimdienstes Hakan
Fidan bei einer Unterredung mit dem damaligen Außenminister Ahmet Davutoğlu im
Jahr 2014 gesagt, dass, wenn der politische Wille vorhanden sei, “ich 4 Leute
auf die andere Seite [nach Syrien] schicke, die 8 Raketen [auf türkisches
Gebiet] abfeuern”, um einen Kriegsgrund zu fabrizieren?
Doch noch wichtiger ist,
dass die nachfolgenden Entwicklungen für Kürkçüs Version sprechen. Die AKP
hatte es dringend nötig, ihre Legitimationsbasis zu erneuern. Im Innern sorgte
die Normalisierung der (ohnehin nur noch an der ideologischen Oberfläche
angespannten) Beziehungen mit Israel für erhebliche Verstimmung. Vor kurzem
wies Erdoğan die gegen die Annäherung an Israel protestierenden Islamisten, die
auch das Mavi Marmara-Schiff starteten, das 2010 die Gaza-Blockade Israels
durchbrechen sollte, brüsk zurecht, sie hätten ja auch nicht um seine Erlaubnis
gefragt, als sie sich mit Israel anlegten. Gegenteilige Aussagen Erdoğans, die Gaza-Flottille
habe seine ausdrückliche Zustimmung gehabt, sind noch gut in Erinnerung, womit
ein Glaubwürdigkeitsproblem entsteht. Die gläubige und naive Basis musste wieder
von der „rechtschaffenen Sache“ überzeugt werden. Der Putsch kommt hier wie gerufen,
oder wie Erdoğan sagte: Er ist ein Segen Gottes.
„Gottes Segen“ ist auch
die nun entstandene Möglichkeit, in der staatlichen Bürokratie ein weiteres Mal
gründlich aufzuräumen. Offenbar geht es nicht nur um die Armee. 2.750 Richter
und Staatsanwälte sollen vorläufig ihres Amtes enthoben, gegen viele von ihnen
sollen Haftbefehle erlassen worden sein. Zwei Verfassungsrichter wurden
verhaftet, ein Novum in der Geschichte der Türkei. Sie wurden noch vom
damaligen Präsidenten Abdullah Gül ernannt. Inzwischen geht es offenbar nicht
mehr um kemalistische Überbleibsel in der Bürokratie, sondern um Personal, das
von der AKP selbst eingesetzt wurde, nun jedoch nicht mehr ganz auf Linie
liegt. Die Schnelligkeit mit der die AKP vorgeht, ist ein weiteres entlarvendes
Moment, das für Kürkçüs These spricht. Von der Dichte der Ereignisse offenbar überrascht
kam kaum jemand auf die Idee, danach zu fragen, was denn die Richter und
Staatsanwälte mit dem Putsch zu tun haben. Niemand weiß, was konkret gegen sie
vorliegt.
Überraschungsmoment
nutzen
Der echte Putsch folgt
nun auf den offensichtlich fingierten Putsch. Die Aufforderung Erdoğans an die
Bevölkerung noch mindestens eine Woche auf der Hut zu bleiben, lässt erahnen,
dass eine größere “Säuberungsaktion” durchgeführt werden soll, von der auch
weitere Institutionen wie Universitäten betroffen sein könnten, bevor sich der
Nebel auflöst und Widerstand formieren kann. Unter “normalen” Umständen ist
unvorstellbar, tausende Bürokraten auf einen Schlag auszuschalten.
In dieser Situation ist
es ein Zeichen sonderbarer Schwäche, dass sich die Oppositionsparteien – allen
voran die HDP – auf eine gemeinsame Erklärung mit der Regierung einließen, die
vor Demokratie-Prosa trieft, in der es heißt, der Wille des Volkes müsse
geachtet werden. Als ob nicht diese Regierung seit Jahren eine Hexenjagd auf
Oppositionelle organisiert, sich an keine Gesetze gebunden fühlt und den Willen
des Volkes insbesondere aber nicht nur in den kurdischen Kommunen mit den Füßen
tritt.
Das Überraschungsmoment
wirkt stark. Der fingierte Putsch hat die AKP mit einer Initiativhoheit
ausgestattet, die sie voll ausschöpfen wird. Der von ihr mobilisierte Mob auf
den Straßen, der in der eben erwähnten gemeinsamen Erklärung des Parlaments als
heldenhaftes Volk bezeichnet wird, das sich schützend vor die Demokratie stellte,
fordert die Todesstrafe für die Putschisten und vollzieht dies offenbar gleich
selbst mit IS-Methoden. Bilder eines enthaupteten Soldaten und von weiteren
Gefesselten, die mit Schlägen aus der aufgebrachten Menge traktiert werden,
machen die Runde. Die AKP hat eine Hoheit über die Straße hergestellt, die von
islamistischen Parolen widerhallt. Angriffe auf kurdische, alevitische und
säkulare Viertel finden statt, der islamisch-faschistische Mob durchläuft
offensichtlich seine Inthronisation als Straßenmacht.
Bitter ist die von der
überraschten Opposition und den Medien geleistete Wiederherstellung der Moralhoheit,
die die AKP spätestens mit dem Juni-Aufstand verloren hatte. Zwar wird dieser
Zustand ganz sicher nicht lange vorhalten, aber möglicherweise lange genug, um weitere
entscheidende Schritte in die Diktatur zu tun.