Von
Axel Gehring
Wie kam es zur Gezi-Revolte, wie zu ihrem Ende und
welche Organisationsformen erwuchsen aus ihr? Ursprünge und Entwicklung der Bewegung
rekonstruiert dieses Gespräch und blendet dabei ein, was in der dominanten
Erzählung über Gezi gern vergessen wird. Die Beteiligung der organisierten
Linken, die den Raum für die Foren überhaupt erst schuf und dennoch an ihre
Grenzen stieß.
Infobrief Türkei: Ich würde gern mit den Wochen vor der Revolte beginnen. Während der dritten Amtszeit der AKP nahm ihre autoritäre Tendenz stark zu, die AKP intensivierte ihre konservative und nationalistische Politik. So traf beispielsweise das Abtreibungsgesetz auf starke Kritik von Feministinnen. Der Bombenanschlag in Reyhanlı und der Luftangriff von Roboski schockierten die Menschen. [In der nahe der syrischen Grenze gelegenen türkischen Kleinstadt fand im Mai 2013 ein Bombenanschlag statt, dessen Aufklärung von den Behörden behindert wurde; in Roboski wurde durch einen türkischen Luftangriff eine Gruppe kurdischer Schmuggler getötet. I.T.]
Ezgi
Pınar: In Roboski starben viele Kurden, dies verstörte die
Menschen – auch ganz normale Türken. Auch schon vor diesem Ereignis hatte sich
die Regierung sehr desinteressiert und unprofessionell im Hinblick auf das
Erdbeben im [kurdischen I.T.] Van gezeigt. So kam es schließlich dazu, dass
sich der Ärger bei den Menschen anstaute, zumal die Regierung schon einige
Monate zuvor [im Oktober 2012 I.T.] beschlossen hatte, Syrien zu beschießen.
Auch diese Attacke trug zur Politisierung der Menschen bei.
Die dritte Brücke am
Bosporus, sowie deren Namensgebung [benannt nach Yavuz-Sultan-Selim, der
zahlreiche Aleviten ermorden ließ I.T.], waren für viele Menschen, insbesondere
Aleviten, inakzeptabel und provokant. Es gab zwar bereits Gespräche zwischen
der Regierung und alevitischen Gruppen über die Brücke, doch dann kam es
unerwartet zu dieser provokanten Namensgebung. Auch das Topçu
Kışlası [das ursprünglich geplante Einkaufszentrum, das nach einer osmanischen
Kaserne benannt und anstelle des Gezi-Parks gebaut werden sollte I.T.], hatte
eine hohe symbolische Bedeutung für die ideologische Restrukturierung der
Gesellschaft in eine konservative und nationalistische Richtung und für die
sunnitische Basis der AKP. Dies war ein weiterer Kritikpunkt, deswegen nahmen
Aleviten an den Gezi-Protesten teil – insbesondere in der Provinz Hatay. [In
dieser Provinz an der syrischen Grenze leben recht viele Aleviten, die von der AKP
per se der Nähe zum Assad-Regime bezichtigt werden. Sie gelten aus Sicht
zahlreicher sunnitischer Islamisten noch nicht einmal als Muslime I.T.].
All dies hat die
Menschen zwar nicht direkt politisiert, aber zur Ansammlung von Verdruss in
ganz unterschiedlichen sozialen Gruppen geführt. Wegen ihrer autoritären
Tendenzen begann die AKP auch ihre Allianz mit den Liberalen zu verlieren, die
bis dahin Erdoğan unterstützt hatten.
Und nicht zu vergessen:
diese Stadtentwicklungsprojekte führen in İstanbul und anderen Teilen der
Türkei zur Vertreibung großer Teile der Gesellschaft aus sehr zentralen Plätzen
des urbanen Raumes.
Daher waren schon im
Vorfeld in den Stadtvierteln, in denen solche Gentrifizierungsprojekte
stattfinden, Protestbewegungen aktiv, die einen Anspruch auf die Stadt erhoben.
Auch die professionelle Mittelklasse und Studierende litten unter den
Projekten. Bereits die Niederschlagung der 1. Mai-Demonstration auf dem
Taksim-Platz zeigte die Empörung über die Schließung des Platzes überdeutlich.
Die Projekte, die den Platz in Gänze verändern sollten, waren schlicht
inakzeptabel für die Menschen.
IT:
In den Monaten vor der Gezi-Revolte kam es zu einer Verdichtung von Ereignissen
in kurzer Zeit; doch welche Gruppen waren während der Revolte aktiv? Die
Gezi-Solidarität rief schon zu Anfang, nach dem schweren Polizeiangriff auf das
Protestcamp im Gezi-Park, die Menschen dazu auf Solidarität zu zeigen und in
den Park zu kommen.
EP:
Ja, sie machten einen Aufruf und viele Menschen folgten ihm wegen der schweren
Attacken der Polizeikräfte. Ganz normale Menschen kamen. Zum Beispiel arbeitet
meine Schwester in einer Bank und eine Gruppe von Kollegen, die in sogenannten
Plazas [Mischungen aus gehobenen Büro-, Shoppingmall- und Wohnkomplexen I.T.]
arbeitet, ging dort auch hin und in diesem Sinne war es wirklich eine
Massenbewegung. Es waren viele Leute mit unterschiedlichem Klassenhintergrund
im Gezi-Park. Während der Gezi-Proteste entstand aus der Solidaritätsplattform
Taksim ein Aktionskomitee. Innerhalb dieser Plattform gab es unterschiedliche
Gruppen, darunter organisierte Linke und auch revolutionäre linke Gruppen.
Diese leisteten einen großen Beitrag, um Gezi in ein emanzipiertes Gebiet zu
verwandeln – sie waren viel erfahrener darin, Barrikaden zu bauen und gegen die
Polizei zu kämpfen. Von den ganz frühen Tagen Gezis an, gab es den Diskurs,
dass der Protest nichts mit der organisierten Linken zu tun habe. Aber soweit
ich es sehen kann, geschah es dank ihrer Präsenz, dass die Barrikaden dort
errichtet wurden und durch ihren Kampf auf den Barrikaden. Viele junge Leute
starben – die meisten davon waren Mitglieder der organisierten Linken. Dies
zeigt uns also, dass sie dort wirklich sehr aktiv waren, sie waren ein Teil der
Verteidigung des Parks.
Aber es gab da etwas,
das sich für die politische Linke sehr anders anfühlte – das Profil der
Protestierenden von Gezi unterschied sich sehr von dem der frühen
Protesttradition der Türkei: Im Hinblick auf seine Instrumente, sein Gewicht
und seinen Zweck. Es war wirklich eine Massenbewegung und brachte verschiedene
Gruppen der Gesellschaft zusammen (…) so dauerte es einen Monat bis es
schließlich mit einem Polizeischlag gelungen war, die Gezi-Kommune wirklich zu
beenden. Während dieser Tage zirkulierten dort viele Menschen, zum Beispiel aus
den Plazas: Bis sechs Uhr hart arbeiten und danach ging es zum Gezi-Park. Das
zeigte mir, dass Menschen, die in einer solchen wettbewerblichen Atmosphäre
arbeiten, Solidarität und kollektive Aktivität brauchten. Zum Beispiel gab es
dort einen „Revolutionsmarkt“, wo man sich einfach so und völlig kostenlos
Essen nehmen konnte. Obwohl diese Leute Geld haben, bevorzugten sie diese Form
der primitiven Tauschbeziehungen. Das kann als ein Ergebnis der
Entfremdungsverhältnisse in einer kapitalistischen Gesellschaft verstanden
werden, insbesondere für diese Leute – sie liebten Gezi wirklich und mochten
diese Art kollektiver Atmosphäre und der Solidarität. Auch wenn ich die
Gezi-Proteste nicht überhöhen möchte, sie zeigten, dass es auch Alternativen zu
den Lebensstilen gibt, die uns der Kapitalismus aufzwingt.
Viele unterschiedliche
Gruppen, Gewerkschaftsmitglieder, konventionelle linke Organisationen, Liberale
sowie Anarchisten waren im Park und kampierten dort über Nacht; wobei sie von
einigen organisierten Linken als piknikci (Picknicker) bezeichnet wurden – auch
solche weniger harmonischen Dinge passierten. Aber es gab nicht viele Konflikte
zwischen den unterschiedlichen Gruppen im Gezi-Park. Linke Gruppen, die sich
ansonsten selbst über die Marschaufstellung zur Mai-Demonstration bekriegen,
vermieden derartiges während des Gezi-Protests. Sie waren sich dessen bewusst,
dass gerade etwas geschieht, was anders ist und dass sie diesen Geist
verteidigen sollten. Ich denke auch, dass die meisten Protestierenden, an
derartigem Konkurrenzgebahren zwischen politischen Organisationen kein
Interesse hatten.
Nach den ersten
Attacken [der Polizei I.T..] begannen auch revolutionäre linke Organisationen
damit, sich im Park aufzuhalten und hatten dort auch ihre Stände, an denen sie
Zeitungen verkauften. Ein anderer Aspekt, der unbedingt erwähnt werden sollte,
ist die TGB (Türkische Jugend Union), das sind Nationalisten. Die türkische
Regierung versuchte Gezi als ein Spiel zwischen der CHP [der kemalistischen
Oppositionspartei I.T.] und den Nationalisten darzustellen. Sie versuchte die
Protestierenden als von Nationalisten manipulierte Subjekte zu zeichnen. Aber
es funktionierte nicht, denn die Nationalisten waren nicht sehr dominant im
Park. Auch ich sah, wie einige Menschen eine Öcalan-Flagge öffneten, während
dort die TBG-Mitglieder waren, aber es passierte nichts. Es war sehr
interessant, sie kamen einander zwar nicht sehr nahe, aber sie kämpften auch
nicht gegeneinander. Dort gab es einige Tendenzen für Konflikte, aber diese
wurden von anderen Teilen Gezis eingedämmt und die Solidaritätsplattform-Taksim
war der führende Faktor in diesem Prozess.
IT:
Es entstand also eine sehr breite und vielschichtige Bewegung. Wie wirkte sich
das auf die Formulierung der Forderungen aus?
EP:
Die Forderungen bezogen sich vor allem auf die lokale Ebene. Die
Taksim-Solidarität erklärte die Aufgabe des Taksim-Projektes und das Recht im
Park verbleiben zu dürfen zu Kernforderungen und dann gab es da noch
Forderungen den Bau der dritten Brücke einzustellen. In den ersten 15 Tagen der
Revolte listete man vier oder fünf Forderungen auf, die hauptsächlich auf
Gezi-Themen zielten.
IT:
Während der Proteste riefen die Menschen doch auch „Hükümet istifa“ und „Tayyip
istifa“ / „Regierung tritt zurück“ und „Tayyip tritt zurück“?
EP:
Ja, das riefen sie, aber das war Rhetorik, das erwarteten sie nicht ernsthaft.
Eine andere Forderung der Taksim-Solidarität war die Bestrafung der
Polizeikräfte, die die Öffentlichkeit terrorisiert und auch einige Menschen
umgebracht hatten. Sie forderten auch die Amtsenthebung des Gouverneurs und des
Polizeipräsidenten. Sie waren kleine, lokale Forderungen – keine großen, die
sich auf die ganze Türkei bezogen. Es waren selbstverständlich politische Forderungen,
aber sie enthielten keinen Bezug zur großen nationalen Ebene.
IT:
Während meiner letzten Tage hier in İstanbul habe ich jeden Tag mindestens
einen Protest gesehen, aber die meisten waren nicht sonderlich groß. Der
vielleicht Größte fand letzte Woche mit etwa 2000 bis 4000 Menschen in Beşiktaş
statt. Die Dinge haben sich also verändert. Was ist das gegenwärtige Stadium
der Protestbewegung?
EP:
Ja, es hat sich etwas verändert. Wir können Gezi als Rebellion bezeichnen, eine
Rebellion geschieht und ebbt wieder ab. Das ist logisch und zu erwarten. Wohin
hat sich der Geist von Gezi verflüchtigt? Als erstes sollten wir über die Foren
sprechen: Tayyip [landesübliche Bezeichnung für Tayyip Erdoğan A.G.] war
während der ersten Tage im Juni außer Landes als er sagte „Ich gebe euch einen
Tag um den Park zu verlassen.“ So begannen die Leute zu diskutieren, was nun zu
tun sei. Auch der Bau von Barrikaden war diskutiert worden und ein großes Forum
entstand während der Gezi-Besetzung. Weitere Foren fanden während der Gezi-Tage
statt, die Menschen lebten dort und es fanden Konzerte statt. Dies war das
tägliche Leben von Gezi und es wurde auch ein großes Forum über die Frage
veranstaltet den Gezi-Park zu verlassen oder dort zu bleiben – es wurde
entschieden zu bleiben. Zum Beispiel sagten einige, traditionelle linke
Gruppen, die einen militanten Ursprung haben, wir sollten uns bewaffnen und
Gezi mit unseren militanten Kräften verteidigen. Dies wurde interessanterweise
auch in den Foren diskutiert. Auf der anderen Seite sagten Menschen „Lasst uns
diesen Platz in ein Woodstock verwandeln“ und einige andere forderten die
Legalisierung von Marihuana. Du siehst die Breite der Forderungen. Nach diesem
Forum wurde die Entscheidung gefällt zu bleiben und der große Streik [zu dem
linke Gewerkschaften aufgerufen hatten I.T.] fand statt (…).
Du kennst sicher auch
den Fall vom Divan Oteli [Im Divan Hotel, das einer großen Holding gehört und
sich in der Nähe vom Gezi-Park befindet, konnten während der Proteste die
Menschen Zuflucht vor der Polizei finden I.T.] und ähnliche Ereignisse, wie zum
Beispiel die Unterstützung durch Cem Boyner [Chef der Boyner Holding I.T.], der
sagte: „Ich bin çapulcu“, sowie die Unterstützung durch die Garanti Bank und
ihr Management: „Wir sind alle çapulcus“. [Tayyip Erdoğan nannte die
Protestierenden çapulcus – Plünderer I.T.] Dies zeigt, wie auch die Bourgeoisie
während der Proteste Stellung bezog. Und für einen kurzen Moment dachten
einige, die Spaltung der Eliten sei zu nutzen. Erdoğan reagierte darauf mit der
Behauptung die „Zinslobby“ stünde hinter den Protesten.
Nach der Räumung des
Gezi-Parks rief die Gezi-Solidarität dazu auf, sich jeden Sonntag auf dem
Taksim-Platz zu treffen. Sonntags dorthin zu gehen, hieß dort sonntags
Polizeiangriffe zu erleben und durch die Straßen von Beyoğlu getrieben zu
werden. Das war Alltag auf der İstiklal [Haupteinkaufs- und Ausgehmeile I.T.],
auch während der Wochentage – aber mit die größten Angriffe fanden an Sonntagen
statt. Hingehen, Polizeiintervention, sich wieder versammeln. Und während
dieser Tage begannen sich gewisse zivil-paramilitärische Kräfte zu formieren, die
Leute attackierten. Diese kamen aus Kasımpaşa,
jenem Stadtteil direkt neben Beyoğlu, in welchem Tayyip Erdoğan lange gelebt
hatte und der sich stark der AKP verbunden fühlt.
Foren entstanden
überall in İstanbul und in verschiedenen großen Städten und in diesen Foren gab
es einen Sinn dafür, Demokratie auf lokaler Ebene zu erleben. Die Menschen in
diesen Foren waren nicht besonders politisiert, sie interessierten sich mehr
für Bürgerrechte, lokale Angelegenheiten, wie Parks oder Wasser und
Verkehrsprobleme in der Nachbarschaft. Aber die Leute dort begannen zum ersten
Mal in ihrem Leben öffentlich über ihre Probleme zu sprechen. Während dieser
Zeit – es war Sommer und dieser war recht angenehm für die Foren – machten die
Menschen in der Türkei eine einzigartige Erfahrung, die es so in der türkischen
Gesellschaft vielleicht zuletzt in den siebziger Jahren gegeben hatte. Die
Menschen begannen Demokratie in ihrem täglichen Leben zu erfahren und fingen,
durch diese Foren angespornt, damit an mehr Demokratie zu fordern.
Man sollte aber auch
die Unterschiede zu den Protesten oder Foren an den eher zentralen Orten der
Stadt sehen. In den Peripherien İstanbuls oder anderen Städten waren die Dinge
anders. Du solltest daran denken was zur gleichen Zeit in Ankara oder İzmir
geschehen ist. Die Polizeiangriffe in Ankara waren zum Beispiel äußerst hart.
Die Protestierenden schafften es noch nicht einmal sich auf dem Kızılay-Platz
zu versammeln oder sie versuchten den Kuğulu-Park wie im Fall von Gezi zu
befreien und scheiterten, weil die Polizeiattacken so viel härter waren. Man
sollte auch diesen Aspekt von Gezi mitbedenken.
Aber die Bedeutung der
Foren begann abzunehmen, weil sie nicht in etwas Organisiertes transformiert
werden konnten und dort keine Organisation erwuchs, nicht einmal für
Kommunalwahlen. Organisiert zu sein, gehörte aber zum Kern der Diskussionen. Da
waren konkrete Forderungen des Gezi-Protestes, doch als dieser zur nationalen
Revolte erwuchs, gab es keinen Plan mehr dafür was zu tun war. Traditionelle linke
Organisationen realisierten, dass da eine Lücke zwischen den Massen und den
linken Organisationen war und versuchten in gewisser Weise sie zu schließen.
Aber wie konnte diese Lücke geschlossen werden? Ich denke, dass auch die
Taksim-Solidarität nicht zu 100% sicher war, was zu tun ist, um den
Gezi-Prozess in etwas Greifbares zu transformieren. Sie hatten keinen Plan,
soweit ich weiß.
IT
(Axel Gehring): Vielen Dank für das
Gespräch.
İstanbul 24.09.2013
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Ezgi Pınar ist
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der İstanbul Üniversitesi