Mittwoch, 19. April 2017

Gegen die Manipulation in die Diktatur

Von Errol Babacan

Die Mobilisierungsstrategie des Ja-Lagers ist nicht aufgegangen. Die Befürworter der Präsidialdiktatur haben keine Mehrheit. Offensichtlich konnte nur mittels Manipulationen eine Scheinmehrheit hergestellt werden. Sie wird aber ausreichen, um die Diktatur zu verankern und nötigenfalls eine faschistische Ära einzuleiten, wenn nicht sofort Initiative ergriffen und Widerstand geleistet wird.


Zum ersten Mal seit dem Militärputsch von 1980 haben es die rechten Kräfte der Türkei nicht geschafft, eine Mehrheit für ein gemeinsames Projekt herzustellen. An den Schalthebeln der Macht sitzend lassen sie allerdings nicht von ihrem Ziel ab. Inzwischen verdichten sich die Indizien, dass massive Wahlmanipulationen vorliegen. Bereits die Wiedergabe der Zwischenergebnisse am Wahlabend durch die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu (AA) war kurios. Das Ja-Lager startete bei 63 Prozent, wodurch offenbar eine Demoralisierung der Opposition bezweckt wurde, die nichtsdestotrotz dazu aufrief, die Wahlurnen auf keinen Fall zu verlassen. Die Wahl sei nicht entschieden, ganz egal, welche Nachrichten verbreitet würden. Tatsächlich fiel die Zustimmung, bis sie bei etwa 51,3 Prozent wie eingefroren stehen blieb. Äußerst auffällig war die Regelmäßigkeit, mit der die Angaben durch die Agentur erfolgten: Alle paar Minuten fiel die Zustimmung um 0,2 Prozent. Man konnte sehr früh ausrechnen, wo die Ergebnisse stehen bleiben würden.

Arrangierte Urnen

Wenn bereits das arrangiert wirkte, verkündete gleich zu Beginn der Auszählung der Leiter der Wahlkommission YSK auf Antrag eines von der AKP gestellten Mitglieds der Kommission, es gäbe ungestempelte Wahlunterlagen, die aber als gültig zu befinden seien. Abgesehen davon, dass der Wahlleiter nicht befugt ist, eine solche Entscheidung gegen das Wahlgesetz zu treffen und die Behörde bei der Ausbildung der WahlhelferInnen selbst darauf hingewiesen hatte, dass ungestempelte Unterlagen ungültig seien, da sonst nicht mehr ausgeschlossen werden kann, dass Wahlunterlagen von außen in die Wahllokale eingeschmuggelt werden, liegt keine Entscheidung der Kommission selbst vor. Es gibt nur die mündliche Erklärung des Wahlleiters vom Wahlabend. Das ist an sich schon ein Skandal. Nochmal: Es gibt gar keine Entscheidung der Kommission, es wurde nur so getan, als ob. Alle Rechtfertigungsversuche der Erklärung des Wahlleiters im Anschluss lenken von dieser Tatsache wie auch vom Gesetzesbruch ab.

Die Rede ist von 2,5 Millionen ungestempelten Unterlagen, die gehäuft in den kurdischen Gebieten verwendet wurden. Sie würden ausreichen, um die knappe Scheinmehrheit von 1,3 Millionen Stimmen für das „Ja“ umzukehren. Wenn der Eingriff des Wahlleiters bereits eine Manipulation darstellt, so hat die Bürgerinitiative „Hayır ve Ötesi“ (Nein und Mehr) ein Zwischenergebnis ihrer Auswertung veröffentlicht, die weitere wahrscheinliche Manipulationen aufdeckt. [1] Die Initiative hatte BürgerInnen dazu aufgerufen, alle an den Wahllokalen öffentlich aushängenden Ergebnisprotokolle der Wahl abzufotografieren und in ein Computersystem einzuspeisen.

Die vorläufige Auswertung von etwa 20 Prozent dieser Protokolle ergab deutliche Hinweise auf Manipulationen im großen Maßstab. So wurde an 961 Urnen, die überwiegend im Südosten des Landes aufgestellt waren, festgestellt, dass zu 100 Prozent mit „Ja“ abgestimmt wurde. Bei vorangegangenen Wahlen an denselben Wahlorten hatten aber Oppositionsparteien, die für ein Nein warben, eine deutliche Anzahl an Stimmen erhalten. Zudem lag bei 30 Prozent dieser Urnen eine auffällig hohe Wahlbeteiligung, nämlich von 100 Prozent vor. So auch bei weiteren 7.048 Urnen, die 1.672.249 Stimmen entsprechen, bei denen alle (!) registrierten WählerInnen zur Wahl gingen. Teils wurden sogar mehr Stimmen als registrierte WählerInnen festgestellt. Bei diesen Urnen lag das „Ja“ im Durchschnitt mit 60,7 Prozent vorne.

Keine Zeit für Scheindebatten

Hundertprozentige Ergebnisse in dieser Häufung sind aus Diktaturen bekannt. Es war im Vorfeld schon klar, dass bei der hohen Transparenz an den Wahlurnen es nicht leicht sein würde, die Wahlen zu manipulieren, ohne dabei erwischt zu werden. Tausende sind seit drei Tagen auf den Straßen und protestieren. Angesichts dessen erfolgen aus dem Umfeld der AKP Drohungen, jeder Protest werde brutal niedergeschlagen, die Protestierenden würden als Terroristen behandelt werden.

In dieser Lage trudeln nach und nach die Gratulationen aus dem Ausland ein. Trump machte den Anfang, Putin folgte. Das sind fatale Signale, die in die Türkei gesendet werden. Wenn nichts passiert, wird es nicht lange dauern, bis aus Europa weitere Gratulationen folgen. Die europäischen Regierungen haben der Diktatur bis jetzt den Rücken gestärkt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, weshalb sie es nicht auch in Zukunft tun werden. Die deutsche Regierung hat bereits erklärt, das Ergebnis einer freien und gleichen Wahl sei zu respektieren. Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits ein Bericht der OSZE vorlag, dass die Wahlen nicht unter freien und gleichen Bedingungen stattfinden.

Statt klarer Stellungnahmen zur undemokratischen und manipulierten Wahl werden Scheindebatten geführt, wie die über den EU-Beitritt der Türkei, die auch in der Linken in Deutschland Anklang finden. Es rechnet sowieso kein/e mit der Materie vertraute/r kritische Experte/in ernsthaft mit einer EU-Mitgliedschaft der Türkei, seit bald zehn Jahren nicht mehr. Noch unangebrachter ist die wieder aufgeworfene Debatte um die Einführung der Todesstrafe, die die allerletzte aller letzten Linien bilden soll. Die Debatte dient lediglich der Verschiebung von Konsequenzen in eine unbestimmte Zukunft, während alle demokratischen und rechtsstaatlichen Kriterien (so genannte Kopenhagener Kriterien) längst über den Haufen geworfen sind. Es ist jetzt auch nicht die Zeit, einen NATO-Rauswurf der Türkei zu fordern, zumal die Erhebung dieser Forderung von linker Seite lediglich eine Legitimation der NATO als Wertegemeinschaft durch die Hintertür bewirkt. Von der Instrumentalisierung der Verhältnisse in der Türkei für parteipolitische Richtungskämpfe sollte unbedingt abgelassen werden.

Auch ist jetzt nicht die Zeit für Wahlanalysen. Eine Analyse des Wahlverhaltens einzelner Gruppen kann nur erfolgen, wenn sichergestellt ist, dass keine Manipulationen vorliegen. Wer trotzdem meint, Analysen in den Vordergrund stellen zu müssen, der normalisiert und legitimiert eine manipulierte Wahl. Besonders unsäglich ist die merkwürdige Debatte um das Wahlverhalten einer Türkei-stämmigen Minderheit von 13 Prozent, die in Deutschland mit einem „Ja“ abgestimmt hat. Es wird mit kulturalistischen Argumenten um sich geworfen, obwohl gerade diese konservative Minderheit der privilegierte Dialogpartner deutscher Behörden ist bzw. von ihnen mit aufgebaut worden ist.

Kein Abwiegeln, konkrete Forderungen

Angesichts dieser Reaktionen fühlen sich mehrere tausend Protestierende in der Türkei sowie viele Millionen, die sich nicht auf die Straße trauen, im Stich gelassen. Sie kriegen sehr wohl mit, wie das Ausland reagiert. Doch schwerwiegender noch als die Reaktionen in Europa, die vom eigentlichen Skandal ablenken, ist die Haltung einiger Oppositioneller in der Türkei.

Es war schon problematisch, von einer Niederlage oder einem Pyrrhussieg des Ja-Lagers zu sprechen, solange die politische Konsequenz nicht eingetreten ist. Auch ein Scheinsieg ist in dieser Situation ein Sieg. Bei Wahlen gibt es keine moralischen Sieger, es gibt keinen Trostpreis zu gewinnen. Spekulationen über die Stabilität des Ja-Lagers, darüber, dass es den nächsten Winter nicht überleben wird, sind fehl am Platz. Auch sie vertrösten auf eine unbestimmte Zukunft, während für das Erreichen des konkreten Ziels nur ein begrenztes Zeitfenster von wenigen Tagen vorhanden ist: Die konsequente Delegitimation und Annullierung der Wahl.

Erdogan und die AKP sind in einen Weg eingebogen, von dem es kein Zurück mehr gibt. Wer es bis jetzt nicht glauben mochte, dass von dieser Partei alles zu erwarten ist, der/dem sollte spätestens die freche Wahlmanipulation die Augen geöffnet haben. Die Präsidialdiktatur wird durchgedrückt, wenn die Opposition den Protest nicht ausweitet. Man darf sich auch nichts vormachen: Der Faschismus benötigt keine überzeugte Mehrheit, um sich durchzusetzen und wahnsinnige Zerstörung anzurichten.

Die CHP trägt die Hauptverantwortung als größte Oppositionspartei, die Gegenwehr zu organisieren. Es darf nicht zugelassen werden, dass die Partei abwiegelt und beschwichtigt, den Protest ins Abseits lenkt. Ein Widerspruch bei der YSK, die die Manipulation offensichtlich organisiert hat, muss zwar eingelegt werden, aber das reicht nicht aus. Es gibt schon seit langem keine unabhängigen Justizorgane mehr. Die Linke in der Türkei und Teile der CHP-Basis bemühen sich, die CHP dazu zu bewegen, auf die Straße mobilisieren. Vielmehr müssten die CHP-Abgeordneten zuerst auf die Straße gehen.

Die Annullierung der Wahl muss vor den Türen der Wahlkommission gefordert werden. Die nächste Forderung ist die Aufhebung des Ausnahmezustands. Ein günstigerer Zeitpunkt wird nicht kommen. Die Diktatur hat keine Mehrheit, sie ist nicht durch Wahlen legitimiert. Die Mobilisierung des Nein-Lagers im Vorfeld des Referendums war selbst unter den widrigen Umständen offensichtlich erfolgreich. Die ganze Arbeit wird aber umsonst sein, wenn jetzt nicht alles versucht und nachgelegt wird. Linke und DemokratInnen sollten insbesondere in Europa auf die Straße mobilisieren, damit das Arrangement mit der Diktatur gestört und demokratische Signale in die Türkei gesendet werden.

_____________________________

[1] Siehe Zwischenbericht von „Hayır ve Ötesi“.