Von
Errol Babacan
Die Mobilisierungsstrategie des
Ja-Lagers ist nicht aufgegangen. Die Befürworter der Präsidialdiktatur haben
keine Mehrheit. Offensichtlich konnte nur mittels Manipulationen eine Scheinmehrheit
hergestellt werden. Sie wird aber ausreichen, um die Diktatur zu verankern und
nötigenfalls eine faschistische Ära einzuleiten, wenn nicht sofort Initiative
ergriffen und Widerstand geleistet wird.
Zum ersten Mal seit dem Militärputsch
von 1980 haben es die rechten Kräfte der Türkei nicht geschafft, eine Mehrheit
für ein gemeinsames Projekt herzustellen. An den Schalthebeln der Macht sitzend
lassen sie allerdings nicht von ihrem Ziel ab. Inzwischen verdichten sich die Indizien,
dass massive Wahlmanipulationen vorliegen. Bereits die Wiedergabe der
Zwischenergebnisse am Wahlabend durch die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu
(AA) war kurios. Das Ja-Lager startete bei 63 Prozent, wodurch offenbar eine
Demoralisierung der Opposition bezweckt wurde, die nichtsdestotrotz dazu
aufrief, die Wahlurnen auf keinen Fall zu verlassen. Die Wahl sei nicht
entschieden, ganz egal, welche Nachrichten verbreitet würden. Tatsächlich fiel
die Zustimmung, bis sie bei etwa 51,3 Prozent wie eingefroren stehen blieb.
Äußerst auffällig war die Regelmäßigkeit, mit der die Angaben durch die Agentur
erfolgten: Alle paar Minuten fiel die Zustimmung um 0,2 Prozent. Man konnte sehr
früh ausrechnen, wo die Ergebnisse stehen bleiben würden.
Arrangierte
Urnen
Wenn bereits das arrangiert wirkte,
verkündete gleich zu Beginn der Auszählung der Leiter der Wahlkommission YSK
auf Antrag eines von der AKP gestellten Mitglieds der Kommission, es gäbe ungestempelte
Wahlunterlagen, die aber als gültig zu befinden seien. Abgesehen davon, dass
der Wahlleiter nicht befugt ist, eine solche Entscheidung gegen das Wahlgesetz
zu treffen und die Behörde bei der Ausbildung der WahlhelferInnen selbst darauf
hingewiesen hatte, dass ungestempelte Unterlagen ungültig seien, da sonst nicht
mehr ausgeschlossen werden kann, dass Wahlunterlagen von außen in die Wahllokale
eingeschmuggelt werden, liegt keine Entscheidung der Kommission selbst vor. Es
gibt nur die mündliche Erklärung des Wahlleiters vom Wahlabend. Das ist an sich
schon ein Skandal. Nochmal: Es gibt gar keine Entscheidung der Kommission, es
wurde nur so getan, als ob. Alle Rechtfertigungsversuche der Erklärung des
Wahlleiters im Anschluss lenken von dieser Tatsache wie auch vom Gesetzesbruch
ab.
Die Rede ist von 2,5 Millionen
ungestempelten Unterlagen, die gehäuft in den kurdischen Gebieten verwendet
wurden. Sie würden ausreichen, um die knappe Scheinmehrheit von 1,3 Millionen
Stimmen für das „Ja“ umzukehren. Wenn der Eingriff des Wahlleiters bereits eine
Manipulation darstellt, so hat die Bürgerinitiative „Hayır ve Ötesi“ (Nein und Mehr) ein Zwischenergebnis ihrer Auswertung veröffentlicht, die weitere wahrscheinliche
Manipulationen aufdeckt. [1] Die Initiative hatte BürgerInnen dazu aufgerufen,
alle an den Wahllokalen öffentlich aushängenden Ergebnisprotokolle der Wahl
abzufotografieren und in ein Computersystem einzuspeisen.
Die vorläufige Auswertung von etwa 20
Prozent dieser Protokolle ergab deutliche Hinweise auf Manipulationen im großen
Maßstab. So wurde an 961 Urnen, die überwiegend im Südosten des Landes
aufgestellt waren, festgestellt, dass zu 100 Prozent mit „Ja“ abgestimmt wurde.
Bei vorangegangenen Wahlen an denselben Wahlorten hatten aber Oppositionsparteien,
die für ein Nein warben, eine deutliche Anzahl an Stimmen erhalten. Zudem lag bei
30 Prozent dieser Urnen eine auffällig hohe Wahlbeteiligung, nämlich von 100
Prozent vor. So auch bei weiteren 7.048 Urnen, die 1.672.249 Stimmen
entsprechen, bei denen alle (!) registrierten WählerInnen zur Wahl gingen.
Teils wurden sogar mehr Stimmen als registrierte WählerInnen festgestellt. Bei
diesen Urnen lag das „Ja“ im Durchschnitt mit 60,7 Prozent vorne.
Keine
Zeit für Scheindebatten
Hundertprozentige Ergebnisse in
dieser Häufung sind aus Diktaturen bekannt. Es war im Vorfeld schon klar, dass
bei der hohen Transparenz an den Wahlurnen es nicht leicht sein würde, die
Wahlen zu manipulieren, ohne dabei erwischt zu werden. Tausende sind seit drei Tagen auf den Straßen und protestieren. Angesichts dessen erfolgen aus dem
Umfeld der AKP Drohungen, jeder Protest werde brutal niedergeschlagen, die
Protestierenden würden als Terroristen behandelt werden.
In dieser Lage trudeln nach und nach die
Gratulationen aus dem Ausland ein. Trump machte den Anfang, Putin folgte. Das
sind fatale Signale, die in die Türkei gesendet werden. Wenn nichts passiert,
wird es nicht lange dauern, bis aus Europa weitere Gratulationen folgen. Die
europäischen Regierungen haben der Diktatur bis jetzt den Rücken gestärkt. Es
gibt keinen Grund anzunehmen, weshalb sie es nicht auch in Zukunft tun werden. Die
deutsche Regierung hat bereits erklärt, das Ergebnis einer freien und gleichen
Wahl sei zu respektieren. Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits ein Bericht der
OSZE vorlag, dass die Wahlen nicht unter freien und gleichen Bedingungen stattfinden.
Statt klarer Stellungnahmen zur
undemokratischen und manipulierten Wahl werden Scheindebatten geführt, wie die über
den EU-Beitritt der Türkei, die auch in der Linken in Deutschland Anklang
finden. Es rechnet sowieso kein/e mit der Materie vertraute/r kritische Experte/in
ernsthaft mit einer EU-Mitgliedschaft der Türkei, seit bald zehn Jahren nicht
mehr. Noch unangebrachter ist die wieder aufgeworfene Debatte um die Einführung
der Todesstrafe, die die allerletzte aller letzten Linien bilden soll. Die
Debatte dient lediglich der Verschiebung von Konsequenzen in eine unbestimmte
Zukunft, während alle demokratischen und rechtsstaatlichen Kriterien (so
genannte Kopenhagener Kriterien) längst über den Haufen geworfen sind. Es ist
jetzt auch nicht die Zeit, einen NATO-Rauswurf der Türkei zu fordern, zumal die
Erhebung dieser Forderung von linker Seite lediglich eine Legitimation der NATO
als Wertegemeinschaft durch die Hintertür bewirkt. Von der Instrumentalisierung
der Verhältnisse in der Türkei für parteipolitische Richtungskämpfe sollte
unbedingt abgelassen werden.
Auch ist jetzt nicht die Zeit für
Wahlanalysen. Eine Analyse des Wahlverhaltens einzelner Gruppen kann nur
erfolgen, wenn sichergestellt ist, dass keine Manipulationen vorliegen. Wer
trotzdem meint, Analysen in den Vordergrund stellen zu müssen, der normalisiert
und legitimiert eine manipulierte Wahl. Besonders unsäglich ist die merkwürdige
Debatte um das Wahlverhalten einer Türkei-stämmigen Minderheit von 13 Prozent,
die in Deutschland mit einem „Ja“ abgestimmt hat. Es wird mit kulturalistischen
Argumenten um sich geworfen, obwohl gerade diese konservative Minderheit der
privilegierte Dialogpartner deutscher Behörden ist bzw. von ihnen mit aufgebaut
worden ist.
Kein
Abwiegeln, konkrete Forderungen
Angesichts dieser Reaktionen fühlen
sich mehrere tausend Protestierende in der Türkei sowie viele Millionen, die
sich nicht auf die Straße trauen, im Stich gelassen. Sie kriegen sehr wohl mit,
wie das Ausland reagiert. Doch schwerwiegender noch als die Reaktionen in
Europa, die vom eigentlichen Skandal ablenken, ist die Haltung einiger
Oppositioneller in der Türkei.
Es war schon problematisch, von einer
Niederlage oder einem Pyrrhussieg des Ja-Lagers zu sprechen, solange die
politische Konsequenz nicht eingetreten ist. Auch ein Scheinsieg ist in dieser
Situation ein Sieg. Bei Wahlen gibt es keine moralischen Sieger, es gibt keinen
Trostpreis zu gewinnen. Spekulationen über die Stabilität des Ja-Lagers,
darüber, dass es den nächsten Winter nicht überleben wird, sind fehl am Platz. Auch
sie vertrösten auf eine unbestimmte Zukunft, während für das Erreichen des konkreten
Ziels nur ein begrenztes Zeitfenster von wenigen Tagen vorhanden ist: Die
konsequente Delegitimation und Annullierung der Wahl.
Erdogan und die AKP sind in einen Weg
eingebogen, von dem es kein Zurück mehr gibt. Wer es bis jetzt nicht glauben
mochte, dass von dieser Partei alles zu erwarten ist, der/dem sollte spätestens
die freche Wahlmanipulation die Augen geöffnet haben. Die Präsidialdiktatur
wird durchgedrückt, wenn die Opposition den Protest nicht ausweitet. Man darf
sich auch nichts vormachen: Der Faschismus benötigt keine überzeugte Mehrheit,
um sich durchzusetzen und wahnsinnige Zerstörung anzurichten.
Die CHP trägt die Hauptverantwortung
als größte Oppositionspartei, die Gegenwehr zu organisieren. Es darf nicht zugelassen werden, dass die Partei abwiegelt und beschwichtigt, den Protest ins
Abseits lenkt. Ein Widerspruch bei der YSK, die die Manipulation offensichtlich
organisiert hat, muss zwar eingelegt werden, aber das reicht nicht aus. Es gibt
schon seit langem keine unabhängigen Justizorgane mehr. Die Linke in der Türkei
und Teile der CHP-Basis bemühen sich, die CHP dazu zu bewegen, auf die Straße
mobilisieren. Vielmehr müssten die CHP-Abgeordneten zuerst auf die Straße
gehen.
Die Annullierung der Wahl muss vor
den Türen der Wahlkommission gefordert werden. Die nächste Forderung ist die
Aufhebung des Ausnahmezustands. Ein günstigerer Zeitpunkt wird nicht kommen. Die
Diktatur hat keine Mehrheit, sie ist nicht durch Wahlen legitimiert. Die
Mobilisierung des Nein-Lagers im Vorfeld des Referendums war selbst unter den
widrigen Umständen offensichtlich erfolgreich. Die ganze Arbeit wird aber
umsonst sein, wenn jetzt nicht alles versucht und nachgelegt wird. Linke und
DemokratInnen sollten insbesondere in Europa auf die Straße mobilisieren, damit
das Arrangement mit der Diktatur gestört und demokratische Signale in die
Türkei gesendet werden.
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