Was bei der Debatte um den 24. April zu kurz kommt,
ist die Frage nach den Besitztümern. Dabei lautet eine der ersten Fragen, die
einem von der türkisch-offiziellen Version der Geschehnisse aufgedrängt wird:
Wenn die gefährlichen Ereignisse, die von den Armeniern ausgingen, sich
hauptsächlich an den Grenzen des Reichs abspielten, warum wurde dann die Vertreibung
aus den inneren Regionen betrieben? Ein Edikt vom 10. Juni 1915 gibt
Aufschluss.
Nachdem ein ganzes Jahrhundert vergangen ist, gibt
es erste Ansätze seitens der Republik Türkei, den Akt gegen die Armenier als
„eine schlechte Sache“ zu benennen. Reichlich spät.
Und wie diese „Sache“ genau zu benennen ist, bleibt
ein Problem. Der wichtigste Grund hierfür ist, dass mit der Benennung des
Genozids die Frage nach dem enteigneten Land und die Forderung nach
Entschädigungen aufkommen werden.
Ein Edikt vom 10. Juni 1915 gibt einen Aufschluss über
die Dimension dieser Frage.
Auszug aus
dem Edikt zum Umgang mit dem Hab und Gut,
den Immobilien und Grundstücken der aufgrund des Kriegszustands und außerordentlicher
politischer Zwänge umgesiedelten Armenier
Artikel 1:
f1. Die
behördlichen Zuständigkeiten und Kompetenzen bei der Ausführung dieses Edikts
zum Umgang mit dem Hab und Gut, den Immobilien und verlassenen Grundstücken sowie
anderen Angelegenheiten der an andere Orte verbrachten Armenier wird im
Besonderen gemäß der unten stehenden Artikel definiert.
Artikel 2:
f1. Nach der
Räumung eines Ortes werden die den Deportierten gehörenden Gebäude und die in
ihnen enthaltenen Gegenstände durch Beamte oder Sondergremien, die vom
Leitungsgremium ernannt werden, versiegelt und unter Schutz gestellt.
Artikel 3:
f1. Nachdem
die unter Schutz gestellten Gegenstände gemäß Gattung, Menge, geschätztem Wert,
Namen des Besitzers im Detail katalogisiert wurden, werden sie unter besonderer
Kenntlichmachung des Besitzers in geeignete Lagerstätten wie Kirchen, Schulen
oder Herbergen transferiert, dort ein Lagerbuch angelegt, das Qualität und Menge
der Gegenstände, ihre Besitzer, den Herkunfts- sowie den Lagerungsort festhält,
und das Original des Lagerbuchs dem lokalen Gremium und eine beglaubigte Kopie
dem Leitungsgremium für Verlassene Besitztümer übergeben.
Artikel 4:
f1. Bewegliche
Gegenstände, deren Besitzer nicht bekannt sind, werden nach dem Dorf, aus dem
sie stammen katalogisiert und unter Schutz gestellt.
Artikel 5:
f1. Verderbliche
Gegenstände sowie Tiere werden durch eine vom Gremium ernannte Delegation in
öffentlicher Versteigerung verkauft, der Erlös falls bekannt dem Besitzer übergeben
und falls nicht bekannt der Finanzkasse des Dorfes anvertraut, aus dem die
Gegenstände entstammen
f2. Gattung,
Schätzwert, Herkunftsort, Käufer und Verkaufswert der versteigerten Gegenstände
werden detailliert in einem eigenen Buch festgehalten, das Dokument wie vom
Versteigerungskommitee festgelegt und beglaubigt als Katalog angefertigt, das
Original dem lokalen Gremium und eine beglaubigte Kopie dem Leitungsgremium für
Verlassene Besitztümer übergeben.
Artikel 6:
f1. Gegenstände
in den Kirchen, Bilder und heilige Bücher werden in einem Heft erfasst, dem
Protokoll hinzugefügt, darauf geachtet, dass sie an Ort und Stelle geschützt
werden und später durch Verwalter an die Dorfbevölkerung der zugehörigen Kirche
in ihrem Transferort verschickt.
Artikel 7: …
Artikel 8:
Falls sich
auf den verlassenen Grundstücken Erzeugnisse oder angebaute Flächen befinden,
werden diese durch eine vom Gremium ernannte Delegation öffentlich versteigert,
der Erlös im Namen des Besitzers der Finanzkasse anvertraut und ein Protokoll
erstellt, dessen Original dem lokalen Gremium und beglaubigte Kopie dem
Leitungsgremium übergeben wird.
Artikel 9:
f1. Falls
sich für die angebauten Flächen und vorhandenen Erzeugnisse keine Käufer finden,
werden diese gegen eine Kaution und einen Vertrag Interessenten auf dem Wege
der Halbe-Halbe-Teilung gegeben, der Erlös aus der Pacht oder dem Verkauf im
Namen des Besitzers der Finanzkasse übergeben.
Artikel 10:…
Artikel 11:
f1. In die
geräumten Dörfer werden Immigranten angesiedelt, vorhandene Häuser und Grundstücke
an die Immigranten unter Beachtung des Bedarfs und der landwirtschaftlichen
Kapazitäten der Familien mittels provisorischer Dokumente verteilt.
Artikel 12:
f1. Die
angesiedelten Immigranten werden nach detaillierten und geordneten Kriterien
registriert, per Haushalt der Name, Herkunftsort, Ankunftsdatum, Ankunftsort im
Buch erfasst, die ihnen übergebenen Häuser und Grundstücke nach Art, Gattung, Wert
und Ort extra erfasst, ihre Ansiedlung gewährt und ihnen ein Dokument ausgehändigt,
das die ihnen übergebenen Gegenstände, die Immobilie und das Grundstück anzeigt.
Artikel 13:
f1. Für den
Schutz der Gebäude und der angepflanzten Bäumen in den Dörfern sind die
Immigranten verantwortlich, Schäden werden ohne Beachtung der für die Tat Verantwortlichen
von allen Siedlern gemeinsam beglichen, während die Täter vom Dorf entfernt und
ihre Rechte verlieren, die Immigranten zustehen.
Artikel 14:
f1. Nachdem
die Ansiedlung der Immigranten geleistet wurde, werden in die übrig gebliebenen Dörfer
Nomadenstämme aus der Umgebung angesiedelt, die nach gleichem Recht wie die
Immigranten behandelt werden.
Artikel 15:
f1. In die
geräumten Häuser in den Städten und Kleinstädten werden bevorzugt städtische
oder kleinstädtische Immigranten angesiedelt und unter Beachtung ihrer vormaligen
ökonomischen und finanziellen Situation sowie ihrer bautechnischen Fähigkeiten Grundstücke
in ausreichender Größe übergeben.
Artikel 16:
f1. Einkunftsträchtige
Gegenstände wie Geschäfte, Herbergen, Fabriken, Waschhäuser, Lagerhäuser sowie
für die Ansiedlung der Immigranten nicht geeignete oder nach der Verteilung übrig
gebliebene Gebäude werden wie in Artikel 18 angezeigt durch Verwaltungsgremien
oder unter ihrer Aufsicht durch
Delegationen unter der Leitung lokaler Verwaltungsbeamter öffentlich
versteigert.
Artikel 17:
f1. Die in
den Städten und Kleinstädten angesiedelten Immigranten werden nach detaillierten
und geordneten Kriterien registriert und ein Buch geführt, das die ihnen
übergebenen Grundstücke nach Gattung, Menge und Wert anzeigt.
Artikel 18:
f1. Weinberge,
Gärten, Zitrushaine, Olivenhaine und ähnliche unbewegliche Gegenstände in den
Städten und Kleinstädten werden unter der Voraussetzung eines Schuldscheins und
Anzeige einer Bürgschaft den für den Anbau qualifizierten Immigranten nach
Bedarf verteilt, wem welche Art und Menge an Grundstücken und Gegenständen übergeben
wurde in einem speziellen Buch erfasst und den Empfängern ein Dokument ausgehändigt,
das den Grund der Übergabe anzeigt.
f2. Die
nicht an die Immigranten verteilten oder vergebenen Gegenstände werden gemäß Artikel
16 öffentlich versteigert.
Artikel 19 - 22: …
Artikel 23:
f1. Die Verwaltung
der Gegenstände aus den geräumten Dörfern und Kleinstädten ist gemäß der
Richtlinien dieses Edikts unmittelbar dem Leitungsgremium für Verlassene
Besitztümer unterstellt.
Artikel 24:
f1. Die
Verwaltungsgremien sind hinsichtlich der Verwaltung der Gegenstände an das
Innenministerium und an die Ausführung der
von dort empfangenen Befehle gebunden und damit beauftragt, die sachbezogenen
Ausführungen und Beschlüsse an die lokalen Gremien weiterzuleiten.
Artikel 25 – 34 regeln
hauptsächlich die Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und die Zusammensetzung
des Leitungsgremiums für Verlassene Besitztümer.
10.
Juni 1915
Beim Lesen des Edikts wird offenkundig, dass die
Häuser, Parzellen, Geschäfte und Immobilien, kurz die Besitztümer der Armenier
unter den Clans und Feudalherren aufgeteilt und an die muslimischen
Kriegsflüchtlinge verteilt wurden.
Ein Teil derjenigen, die vertrieben wurden, hatte
ursprünglich vor, zurückzukehren. Manche vertrauten ihre Schlüssel den Nachbarn
an, andere vergruben ihre Habseligkeiten. Es sei daran erinnert, dass die
Schatzsuche in der heutigen Türkei noch immer ein verbreitetes Phänomen ist.
So wurde 1915 nicht nur eine Kapitalakkumulation
organisiert. Die Verteilung der Besitztümer sollte in den Kriegsjahren die
Verbundenheit zum Reich stärken und den zahlreichen Kriegsflüchtlingen eine
neue Lebensgrundlage ermöglichen. Auf diese Weise wurde ein erster Grundstein
für das gelegt, was später „Nationalpakt“ genannt wurde und die „Unteilbarkeit
des Staatsgebiets“ begründete.
Zwar wird die Angelegenheit als armenische Frage behandelt, von der „schlechten Sache“ waren jedoch auch die Assyrer und die Pontus-Griechen betroffen. Kurzum, die „Sache“ betrifft nicht nur die Armenier.
Zwar wird die Angelegenheit als armenische Frage behandelt, von der „schlechten Sache“ waren jedoch auch die Assyrer und die Pontus-Griechen betroffen. Kurzum, die „Sache“ betrifft nicht nur die Armenier.
Das Thrakien-Pogrom 1934, 1942 die Vermögenssteuer, die Ereignisse des 6.-7. September 1955, all dies sind Aktionen, denen die gleiche Logik unterliegt.
In den 1990ern traf es die Jesiden und verbliebenen Assyrer,
die aus ihren Dörfern weggehen mussten und deren Land und Häuser von den
Dorfschützern beschlagnahmt wurden.
Dass der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu
die Vertreibung heute ein Menschheitsverbrechen nennt, indes die Republik
Türkei „diese Sache“ noch immer nicht Völkermord nennen kann, liegt an der
Entschädigungs- und Landfrage, die der Anerkennung auf dem Fuße folgen würde. Aus
diesem Grund wird sich die Türkei auch weiterhin weigern, den Völkermord als
historische Tatsache anzuerkennen.
Der türkische Vorschlag, das Thema den Historikern
zu überlassen, ist dagegen lediglich ein Manöver, um außenpolitischen Spielraum
zu gewinnen. Wichtiger ist, dass endlich mit der Leugnung im Inland aufgehört
wird.
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Das
Original dieses Artikels erschien bei gezite.org. Wir danken gezite.org und dem
Autor für die freundliche Erlaubnis, eine Übersetzung auf unserem Blog
veröffentlichen zu dürfen.
Anmerkung
von Infobrief Türkei: Bei der Übersetzung des Edikts wurde zwar
auf Genauigkeit geachtet, da es sich jedoch um eine Übersetzung der Übersetzung
(vom Osmanischen ins Türkische ins Deutsche) und einen teilweise sehr verschachtelt
formulierten Gesetzestext handelt, sind leichte Ungenauigkeiten nicht
auszuschließen.