Mittwoch, 29. Oktober 2014

Retter Kobanês – Totengräber Rojavas

Von Errol Babacan

Die vielen Unkenrufe, die den schnellen Fall der Stadt Kobanê verkündeten, wurden widerlegt. Die Ausweitung der Hilfestellung und die angekündigte Öffnung türkischen Staatsgebiets für Peschmerga aus dem irakischen Kurdistan scheinen eine Wende darzustellen. Haben Appelle an die USA und andere Kräfte, sich verstärkt für die Verteidigung von Rojava einzusetzen, gefruchtet? Wird Rojava nun in die Anti-IS-Koalition eingebunden?

Seit über sechs Wochen halten die Verteidigungskräfte ihre Stellungen, allerdings ohne eine entscheidende Wende herbeiführen zu können. Unterstützt werden sie durch Bombardements und inzwischen auch einen Waffenabwurf der US-Luftwaffe. Die Waffen sollen aus dem irakischen Kurdistan stammen, wo nach neun-tägigen Verhandlungen in der Stadt Dohuk kurdische Vertreter Rojavas mit denen des irakischen Kurdistan übereingekommen seien, künftig zu kooperieren. Seitdem ist die Rede von der Entsendung schwer bewaffneter Peschmerga, die über türkisches Staatsgebiet nach Kobanê gelangen sollen.

In dem Beitrag über den Kampf um Kobanê hatten wir argumentiert, dass die Bevölkerung Rojavas ohne Verzicht auf ihre Errungenschaften keine substantielle Hilfestellung von anderen Staaten zu erwarten hat. Das Ziel der Türkei sahen wir in der Zerschlagung des Projekts Rojava. Ein Einschreiten der USA zugunsten Rojavas gegen die Interessen des NATO-Partners Türkei hielten wir  - selbst in Erwägung einer begrenzten Kooperation zwischen den USA und Rojava mit dem Ziel der Bekämpfung des Islamischen Staats (IS) - für schwer vorstellbar. Die kürzlich ausgebaute strategische Partnerschaft zwischen dem Westen und der kurdischen Regierung im Irak unterstrich diese Skepsis, die wir mit Verweis auf grundlegende Gegensätze zwischen Rojava und den anderen Akteuren untermauerten.

Den Forderungen aus der deutschen Linken nach einem internationalen Kriegseinsatz und Waffenlieferungen erteilten wir eine Absage und begründeten dies mit den Kräfteverhältnissen in Deutschland, die keinen entscheidenden Einfluss von Linken auf die tatsächliche Bindung und Umsetzung solcher Vorhaben zulassen. Die Erfahrung mit der deutschen Militärhilfe für das irakische Kurdistan - einem Hauptfeind des demokratischen Projekts in Rojava - bestätigte die Befürchtung, dass Linken lediglich die Rolle einer nützlichen aber ohnmächtigen und mangelhaft informierten Legitimationsbeschafferin deutscher Interventionspolitik zukommt.

Die jüngeren Ereignisse machen nun eine Überprüfung dieser Thesen notwendig. Die Ausweitung der Hilfestellung und die angekündigte Öffnung türkischen Staatsgebiets für Peschmerga aus dem irakischen Kurdistan scheinen eine Wende darzustellen. Haben Appelle an die USA und andere Kräfte, sich verstärkt für die Verteidigung von Rojava einzusetzen, gefruchtet? Wird Rojava nun in die Anti-IS-Koalition eingebunden? Und worüber haben die kurdischen Parteien in Dohuk eigentlich so lange verhandelt?

Koordinierte Hilfe für Kobanê

Zunächst sei knapp an die grundlegenden Gegensätze zwischen den Akteuren erinnert. Sie prallen in der politisch-ökonomischen Ausrichtung Rojavas aufeinander. Zwar befindet sich der politische Umbruch in Rojava noch am Anfang und der Ausblick auf eine soziale Umwälzung, die die Produktions- und Eigentumsverhältnisse einbezieht, ist vage. Die föderale Verfassung mit kantonaler Selbstverwaltung und basis-nahen demokratischen Entscheidungsprozessen, die an Gleichstellung orientierten Organisierungsprinzipien (multi-ethnisch, geschlechterquotiert) sowie die deklarierte Kollektivierung von Ressourcen bilden jedoch schon jetzt ein klares Gegenmodell zur Konfessionalisierung und Militarisierung sozialer Konflikte im gesamten nahöstlichen Raum.

Im Einzelnen steht das Projekt dem sunnitischen Konservatismus, der Privatisierungspolitik und den Expansionszielen der türkischen Regierung entgegen, die befürchten muss, dass die Praxis der kantonalen Selbstverwaltung auch auf die Türkei ausstrahlen wird. Aus ähnlichen Gründen widerspricht Rojava dem zentralistisch und kurdisch-nationalistisch ausgerichteten irakischen Kurdistan, dessen Prioritätensetzung gleich nach der militärischen Eroberung Mossuls durch den IS deutlich wurde. Der langjährige Juniorpartner der USA nutzte den Rückzug der irakischen Armee, um mit seiner schwer bewaffneten und 200.000 Mann starken Peschmerga-Armee die erdölreiche Region Kirkuk zu besetzen. Als wenig später die jesidische Bevölkerung im erdöllosen Sindschar-Gebirge einem sich ankündigenden Massaker durch den IS entgegenblickte, wurde sie von den Peschmerga schutzlos zurückgelassen. Schließlich kollidiert Rojava mit übergeordneten Zielen der USA, die die syrische Regierung stürzen und in diesem Zuge Russland aus der Region vertreiben und den Iran eindämmen wollen. Das demokratische und soziale Projekt in Rojava hat sich nicht der US-favorisierten syrischen Opposition und der Freien Syrischen Armee (FSA) untergeordnet und sich nicht für den gewaltsamen Sturz der syrischen Regierung instrumentalisieren lassen.

Wie lässt sich nun vor diesem Hintergrund die Ausweitung der Hilfen für Kobanê erklären? Die Intensivierung der Bombardements durch die USA bildet auf den ersten Blick eine strategische Wende in der Kriegsführung. Die USA verlautbarten zunächst, dass sie Kobanê keine besondere Bedeutung beimessen, weshalb sie der Vormarsch des IS nicht interessiere. Nach Angaben der Selbstverteidigungskräfte Rojavas (YPG/YPJ) wäre es effektiv gewesen, Stellungen des IS im offenen Land zu bombardieren, um den Vormarsch schweren Kriegsgeräts frühzeitig zu stoppen. Als der IS die Stadt nach über zwei Wochen erreichte, fiel Kobanê weiterhin nicht. Allein die YPG/YPJ vermochten die Stadt mit Unterstützung der PKK sowie einzelnen Gruppen aus der bewaffneten syrischen Opposition und linken Internationalisten in einem zermürbenden Häuserkampf zu halten. 

In der Zwischenzeit entwickelte sich eine immense internationale Sympathie für Kobanê, im Besonderen für die kämpfenden Frauen. An diesem Punkt verstärkten die USA ihre Bombardements. Da Kobanê den USA erklärtermaßen gleichgültig gewesen ist, obwohl klar war, was der Stadt und ihrem Umland bevorsteht, stellt sich die Frage nach den Gründen für die viel zu späte Verstärkung ihres Einsatzes. Ist der öffentliche Druck auf die USA so groß geworden, dass sie sich gezwungen sahen, zu intervenieren? Gibt es eine wertebasierte Übereinstimmung zwischen der Ideologie des „Westens“ und dem emanzipatorischen Projekt in Rojava (Demokratie und Frauenrechte), wodurch die USA unter Zugzwang gebracht werden konnten, da sie sonst einen Gesichtsverlust und eine Delegitimierung ihrer Anti-IS-Koalition befürchten mussten? Eine pragmatische Anpassung angesichts des öffentlichen Drucks klingt zunächst plausibel, denn die USA könnten sogar eine Verstärkung ihrer Anti-IS-Koalition durch die Einbindung der Selbstverteidigungskräfte Rojavas gegen den gemeinsamen Feind IS erzielen.

Bei dieser Interpretation schwingt auch die Annahme mit, die USA - die je nach Interessenlage diktatorische ebenso wie demokratische Regime gestützt und dann wieder bekämpft haben, wofür ihnen jedes Mittel recht war - könnten vor der islamistischen Gefahr stehend eine Kehrtwende in ihrer langjährigen Politik in der Region vollziehen. Schließlich wurden auch der IS und andere (islamistische) Milizen, die mal unter dem Sammelbegriff Freie Syrische Armee (FSA) agieren mal nicht, von den USA oder ihren Partnern unterstützt, solange sie gegen die syrische Regierung kämpften [1].

Bei genauerer Betrachtung der jüngeren Ereignisse wird klar, dass es sich bei der Annahme einer pragmatischen Anpassung um eine folgenschwere Verkürzung handelt und eine Kehrtwende schon gar nicht ansteht. Zwar ist denkbar, dass die USA auf öffentlichen Druck reagieren mussten. Doch warum fallen die Bombardements so wohldosiert aus? Warum werden nicht noch mehr Waffen geliefert und warum findet bis heute kein effektives Bombardement der Versorgungsrouten des IS statt, der scheinbar aus einem schier unerschöpflichen Arsenal an Kriegsgerät schöpfen und ungestört Nachschub nach Kobanê bringen kann? Warum nutzen die USA und die andern NATO-Mitglieder nicht ihren Einfluss auf die Türkei, damit diese ihre Strategie der Abschottung Rojavas ändert?

Weder die USA noch irgendein anderes Land haben konkrete Schritte unternommen, um die eigentlichen Forderungen aus Rojava für die Ermöglichung einer selbständigen Verteidigung zu erfüllen. Auf die Türkei wurde außer inszenierten Verbalattacken keinerlei spürbarer Druck ausgeübt, einen Korridor zu öffnen. Während bei anderen Konflikten täglich demonstriert wird, welch breite Palette an Druckmitteln bis hin zu Sanktionen zur Verfügung steht, ist hiervon nichts in Sicht. Warum wird das PKK-Verbot in den eigenen Ländern nicht aufgehoben, wenn doch anerkannt wird, dass sie zusammen mit den Selbstverteidigungskräften die eigentliche Last des Kampfes gegen den IS trägt? Zwar herrscht weitgehende Einigkeit, dass die Türkei islamistische Milizen unterstützt, indem sie ihnen einen Rückzugs- und Rekreationsraum anbietet, aber auch dies bleibt vollkommen ohne Konsequenzen.

Unterdessen wird der Ruf von Asya Abdullah, Co-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Union (PYD) in Rojava, nicht erhört. Sie betont bei jeder Gelegenheit, dass die Verteidigungskräfte keine fremden Kämpfer benötigen und die Öffnung eines Korridors für eigene Kräfte aus den anderen syrisch-kurdischen Kantonen ihre primäre Forderung, noch vor der Lieferung schwerer Waffen, darstellt. Die anderen Kräfte, so die Co-Vorsitzende, sollten dort gegen den IS kämpfen, wo sie sich befinden, damit würden sie Rojava genug unterstützen. Warum möchte man also den Selbstverteidigungskräften unbedingt Peschmerga, wenn es nach der Türkei ginge sogar FSA-Einheiten aus Aleppo aufdrängen, deren Kommandeur Akidi vor kurzem noch zur Vernichtung der Selbstverteidigungskräfte Rojavas aufgerufen hat? Wie passt es zusammen, dass die gleichen Peschmerga, die das Wirtschaftsembargo gegen Rojava militärisch durchgesetzt und die Grenze für Flüchtlinge aus Rojava dicht gemacht haben, nun zu Hilfe eilen sollen? 

Zwischenfazit: Den USA war Kobanê gleichgültig. Zu einem Zeitpunkt als effektive Schläge gegen den IS möglich waren, haben sie diese nicht durchgeführt. Die Versorgungsrouten des IS wurden die ganze Zeit nicht effektiv bombardiert. Nachhaltiger Druck auf den NATO-Partner Türkei blieb aus, die Partnerschaft wurde zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage gestellt. Die Möglichkeit einer Waffenlieferung aus der Luft wurde unter Beweis gestellt aber nicht weiter verfolgt, stattdessen wird die Hoffnung auf Peschmerga oder FSA-Einheiten gelenkt. In der Zwischenzeit kämpfen die Selbstverteidigungskräfte weiterhin gegen eine militärische Übermacht und halten die Stadt. Folglich treffen sich die Abschottungspolitik der Türkei, die sich auch gegen die PKK richtet, und die wohldosierte Hilfe der USA sowie des Juniorpartners Irakisch-Kurdistan wieder in einer gemeinsamen Strategie, die auf der Instrumentalisierung des IS-Angriffs fußt, um den Selbstverteidigungskräften Rojavas Partner aufzuzwingen, die ihre Feinde sind.

Neue kurdische Einheit in Dohuk?

Die Mitte Oktober in der kurdisch-irakischen Stadt Dohuk stattgefundenen Verhandlungen und die anschließenden Verlautbarungen gewähren Einblicke, wonach diese Strategie nicht auf Kobanê begrenzt, sondern auf die Zerschlagung des gesamten Projekts Rojava gerichtet ist. Der genaue Inhalt der Verhandlungen, an denen Salih Müslim, der zweite Co-Vorsitzende der PYD, und Vertreter der kurdischen Regierung im Irak teilnahmen, wurde nicht bekannt. Aus den widersprüchlichen Aussagen, die die verhandelnden Parteien machten, lässt sich jedoch ablesen, worum es ging.

Übereinstimmung herrscht darin, dass es zu einer Einigung in der Aufteilung der politischen Macht in Rojava gekommen und die „Einheit unter Kurden" wieder hergestellt worden sei. Hintergrund ist die Rivalität zwischen der PYD und anderen syrisch-kurdischen Parteien, die sich der Kurdisch Demokratischen Partei (KDP) des Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, Masud Barzani, angenähert haben. Die KDP-nahen Parteien scherten aus einem früheren Abkommen mit der PYD aus, indem sie einseitig eine Teilnahme an der internationalen Koalition für den Sturz der syrischen Regierung beschlossen. Während die PYD für einen Verbleib Rojavas im syrischen Staat eintrat und eine Organisierung der politischen Macht anhand komplizierter Quotenregelungen, die nicht-kurdische Gruppen einbindet, und einen föderalen Aufbau zu erreichen versuchte , traten die KDP-nahen Parteien für eine politische Annäherung an das zentralistische und nationalistische irakische Kurdistan ein. Sie konnten hierfür keine Mehrheit in der Bevölkerung herstellen, während die PYD und die Selbstverteidigungskräfte ihre Basis ausbauen konnten. Auch der Versuch, mit Unterstützung der KDP eigene bewaffnete Einheiten unabhängig von den Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ aufzustellen und somit eine konkurrierende militärische Befehlsstruktur zu schaffen, scheiterte am Widerstand der PYD. Die Rivalität führte zu einem Zerwürfnis und Auszug beziehungsweise Rauswurf dieser Parteien aus Rojava.

Die Verhandlungen in Dohuk sollen nun ergeben haben, dass erstens ein gemeinsamer Rat gebildet wird, der zur Hälfte von der PYD und zur anderen Hälfte von KDP-nahen Parteien besetzt wird. Welche Funktion der Rat bekleiden soll, bleibt unklar. Die PYD erklärte, dies müsse zuerst mit den Kantonen geklärt werden und betreffe ohnehin nur die Kurden. KDP-nahe Quellen erklären dagegen, dieser Rat werde die Funktion einer Zentralregierung einnehmen, die über den zu Provinzen degradierten Kantonen stehen soll. Zweitens hätten die KDP-nahen Parteien Einwände gegen den Gesellschaftsvertrag Rojavas angemeldet. Die Einwände wurden jedoch mit keinem Wort spezifiziert. Drittens sei beschlossen worden, die Selbstverteidigungskräfte durch weitere Kräfte zu ergänzen und eine neue gemeinsame Befehlsstruktur aufzubauen. Auch zu diesem Punkt wurden keine genaueren Angaben gemacht.

Nach den Verhandlungen hat eine auffällige Verschiebung des PYD-Diskurses stattgefunden. Hatte diese zuvor betont, die Verteidigungskräfte würden ausschließlich zur Verteidigung eingesetzt, wird nun eine Beteiligung an der Anti-IS-Koalition mit Bodentruppen außerhalb Rojavas thematisiert. Ziemlich plötzlich wird die syrische Regierung verbal attackiert und betont, die Kurden stünden ab jetzt an der vordersten Front der syrischen Revolution.

Koordinierte Erpressung Rojavas

Fassen wir diese Entwicklungen zusammen. Die Betonung einer kurdischen Einheit und die Forcierung eines kurdischen Nationalismus entsprachen bisher nicht der Sprache der PYD. Sie entsprechen der Selbstauffassung des irakischen Kurdistan. Die Verlautbarungen nach den Verhandlungen in Dohuk lassen erahnen, dass echte Hilfen an Bedingungen geknüpft sind, die die Aufgabe zentraler Bestandteile des demokratischen und emanzipatorischen Projekts in Rojava bedeuten. Die Installierung einer Zentralregierung bedeutete das Aus für die föderale und demokratische Selbstverwaltung. Welche Teile des Gesellschaftsvertrags in Frage gestellt werden, lässt sich dagegen vorläufig nur aus der strategischen Ausrichtung des irakischen Kurdistan erschließen.

Die kurdische Regierung im Irak erhält die Möglichkeit einen starken politischen Fuß nach Rojava zu setzen und zusätzlich die Chance, ihr durch die Auslieferung der jesidischen Bevölkerung an den IS schwer angekratztes Ansehen gegenüber der kurdischen als auch der westlichen Öffentlichkeit aufzupolieren. Dass dies ausgerechnet in Kobanê passieren soll, ist bitter für die Selbstverteidigungskräfte Rojavas und die PKK. Erst schwächt die mit deutschen Waffen belieferte kurdische Regierung im Irak die Selbstverteidigungskräfte in Rojava und setzt die eigene Bevölkerung schutzlos den IS-Angriffen aus und wird nun zur Retterin Kobanês stilisiert.

Da die USA über ausreichend militärische Mittel verfügen, der Weg frei ist und ihre Legitimation in der westlichen Öffentlichkeit dank Kobanê so stark wie selten zuvor ist, ist ihre Zurückhaltung bei der Unterstützung Kobanês und der Bekämpfung des IS nur dadurch erklärbar, dass eine Befreiung durch eigene Kräfte nicht erwünscht ist. Die wohldosierte Hilfe fügt sich demzufolge in eine koordinierte Erpressung Rojavas zur Abkehr von der politischen Revolution und möglicherweise zur direkten Teilnahme am Krieg gegen die syrische Regierung ein. Falls den Verteidigungskräften nicht doch noch unerwartet ein Befreiungsschlag gelingen sollte, sind sie zu schwerwiegenden Konzessionen genötigt.

Zu dieser Erpressung gehört anscheinend auch die Geheimhaltung der Erpressung selbst. Hierfür spricht das Ausbleiben eines großen Aufschreis aus der kurdischen Bewegung. Allerdings sind nun auch die kurdisch- nationalistischen Stimmen, die sich eine Aufwertung zum international anerkannten Akteur versprechen, lauter zu vernehmen. Der Preis für die Protektion, die Rojava bis zum Angriff des IS nicht benötigte, ist hoch. Dass dies sich auch auf eine Verschiebung innerhalb der Grundachsen Rojavas und der kurdischen Bewegung auswirken wird, steht zu befürchten.

Der öffentliche Druck hat derweil merklich nachgelassen, zumal die kurdische Bewegung sich weitgehend ausschweigt. Deutlich ist, dass die USA ihre erneuerte Legitimation und Initiative nicht nach vorher festgelegten Regeln und vereinbarten Zielformulierungen mit den zuvor laut Rufenden nutzt. Linke und demokratische Anrufung landet vor den Türen der US-Regierung und wird dort taktisch eingepasst. Zur Verschiebung ihrer Grundausrichtung, also der langfristigen Strategie führt sie nicht. Darin besteht die folgenschwere Illusion.

Rojava steht nun neben der nicht geringer gewordenen Gefahr durch den IS auch vor der Gefahr einer Konterrevolution. Diese Situation lässt die Frage nach dem kritischen Beistand und der internationalen Solidarität neu stellen. Eine breite Solidarisierung müsste sich neben den bereits formulierten richtigen Zielen darauf richten, die nun anstehenden Konzessionen und ihre Auswirkungen auf das gesamte Projekt möglichst begrenzt zu halten. Dafür ist eine informierte und solidarische Debatte über die Bedingungen, an die die Hilfen geknüpft werden, eine klare Sicht auf die Kräfteverhältnisse und strategischen Ziele der beteiligten Parteien notwendig.
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[1] Oftmals wird angeführt, die syrische Regierung habe radikale Islamisten gewähren lassen, um „moderatere“ Kräfte zu bekämpfen. Das erklärt jedoch nicht die unzähligen Angriffe (bspw. in Latakia, Kassab, Maalula) auf die alawitische und christliche Zivilbevölkerung in Syrien und lässt vor allen Dingen offen, warum so viele „Moderate“ sich samt ihrer militärischen Ausrüstung zu „Islamisten“ transformieren konnten. Es geht hier nicht um eine Rechtfertigung der syrischen Regierung, sondern um die Blindstellen von Erklärungen, die eine genauere Prüfung der sich gegen Baschar al-Assad formierenden Kräfte unterlassen.