Stellen die Aufstände der vergangenen
Jahre eine Rebellion der Mittelklassen dar? Kann der Inhalt einer Bewegung über
das individuelle Profil der Teilnehmenden erschlossen werden? Cenk Saraçoğlu
legt dar, warum die Charakterisierung eines Aufstands von der Frage ausgehen
sollte, ob und wie er Widersprüche und Besonderheiten einer sozialen Formation
sichtbar macht und politisiert.
Die Rebellionen der vergangenen Jahre sind
von regen intellektuellen Debatten begleitet. Die enge Aufeinanderfolge in
verschiedenen Ländern hat in Verbindung mit ähnlichen Motiven und Symbolen die
Suche nach länderübergreifenden Erklärungen befördert. Dass die meisten
Rebellionen nach Beginn der kapitalistischen Krise im Jahr 2009 ausbrachen,
lenkte die Suche auf die sozialen und politischen Folgen des Neoliberalismus. Von
einem globalen Zusammenhang ausgehend ragt aus der Fülle an Literatur ein
Erklärungsansatz heraus, der die Rebellionen anhand des individuellen Profils
der Protestierenden zu charakterisieren versucht. Besonders bemerkbar macht
sich dieser Ansatz in der Interpretation der Proteste als “Rebellion der
Mittelklasse”.
Auch im Hinblick auf die Türkei, wo die
Rebellion im Juni 2013 sich unter Beteiligung von Millionen vom Istanbuler
Gezi-Park auf das ganze Land ausbreitete, lässt sich eine solche Suchbewegung feststellen.
Im Folgenden nehme ich anhand eines prominenten Beispiels – eine Rede des
Soziologen Loïc Wacquants über den Klassencharakter von Gezi - die „Mittelklassenthese“
unter die Lupe. Ich beginne mit der Erörterung zentraler Vorannahmen, zeige
Schwachstellen auf und führe einige Überlegungen an, wie ein alternativer Rahmen
zur Analyse sozialer Bewegungen und Aufstände im Allgemeinen und des Gezi-Aufstands
im Besonderen aussehen könnte.
Die Mittelklassenthese
Obgleich diejenigen Ansätze, die den Gezi-Aufstand
als eine „Rebellion der Mittelklasse“ begreifen, unterschiedliche Definitionen
des Begriffs „Mittelklasse“ beinhalten, stimmen sie in einigen Vorannahmen
überein. Zur Charakterisierung der Protestierenden als Mittelklasse werden im
Kontrast zu einem stereotypen Bild eines Arbeiters oder Armen bestimmte Unterscheidungsmerkmale
wie urbane Lifestyles, Vorlieben für gewisse Kommunikationsmedien,
Organisierungsmuster, Parolen und Konsumgewohnheiten sowie das Bildungsniveau herangezogen.
Davon ausgehend, dass der Aufstand vorwiegend von solcherart identifizierbaren
Angehörigen einer Mittelklasse getragen wurde, werden Aussagen über seinen besonderen
Charakter getroffen. In Abhängigkeit vom theoretischen Gehalt und der
politischen Mission, die die jeweiligen Autoren der Mittelklasse zuschreiben,
werden dann Vorschläge formuliert, welche Bedeutung dem Aufstand in Bezug auf
die sozialen und politischen Dynamiken in der Türkei zukommt.
Diese Vorgehensweise – die Identifikation
der Klassenzugehörigkeit anhand bestimmter Unterscheidungsmerkmale und die daran
anschließende Ableitung politischer Konsequenzen – kann auf zweierlei Weise kritisiert
werden. Erstens können die empirischen Befunde selbst hinterfragt werden. Zweitens
kann eine Debatte eröffnet werden, wie gut die Bezeichnung „Mittelklasse“
wirklich geeignet ist, um die Beweggründe der Protestierenden und den Charakter
des Aufstands zu begreifen.
Die allermeisten Arbeiten, die ein
Übergewicht der Mittelklasse behaupten, können dies nicht mit einer
systematischen Datenerhebung belegen. Außerdem ist die These auf eine relativ
kleine Gruppe im Gezi-Park begrenzt, von der zwar die Initialzündung ausging,
die jedoch angesichts einer sich in fast alle größeren Städte ausbreitenden und
ein sehr heterogenes Bild abgebenden Protestwelle einen zeitlich wie räumlich
außerordentlich kleinen Ausschnitt repräsentiert. In sehr kurzer Zeit
transformierte sich die Parkbesetzung zu einem landesweiten Aufstand, dem sich
unterschiedliche Gruppen anschlossen und dessen verbindendes Element die
Gegnerschaft zur AKP wurde. Kurzum, die zeitliche wie räumliche empirische
Grundlage für die Mittelklassenthese ist weit davon entfernt, den Aufstand in
seiner Breite fassen zu können.
Die zweite Kritik bezieht sich auf den
Vorgang, eine kausale Beziehung zwischen dem Profil eines durchschnittlichen
Protestierenden und dem Charakter/Inhalt einer sozialen Bewegung herzustellen. Während
die erste Behauptung, es hätten überwiegend Mittelklassenangehörige
teilgenommen, durch die Hinterfragung der empirischen Grundlagen kritisiert
werden kann, müssen an die zweite Behauptung, vom (vermeintlichen) Profil der
Teilnehmenden unmittelbar auf einen mittelklassenspezifischen Charakter des
Aufstands zu schließen, weitergehende Fragen gerichtet werden, die eine
Diskussion gewisser Vorannahmen notwendig machen. So ist zu fragen: Kann der
Inhalt einer Bewegung oder eines Aufstands („was ihn ausmacht“) über das individuelle
Profil der Teilnehmenden erschlossen werden? Sollte der Versuch, den Charakter
einer Bewegung zu begreifen, mit der Bestimmung von gemeinsamen Eigenschaften
der Teilnehmenden beginnen?
Der mittelklassenbasierte
Erklärungsansatz bejaht diese Fragen auf der Grundlage eines methodologischen Individualismus.
Damit meine ich ein wissenschaftliches Grundverständnis, wonach weitgreifende soziale
Prozesse auf der Basis rationaler Entscheidungen teilnehmender Einzelpersonen
begriffen werden können, die wiederum als autonome soziale Akteure ausgestattet
mit einem zielgerichteten Willen vorgestellt werden. In der Literatur über
soziale Bewegungen entspricht dieser Ansatz denjenigen Modellen, die den
Charakter einer Bewegung oder einer kollektiven Aktion anhand von
Wertvorstellungen teilnehmender Personen, den diesen Werten entsprechenden
Interessen und daraus resultierenden Entscheidungen erklären.
Gezi aus den Augen Loïc Wacquants
Ein prominentes Beispiel für diese Vorgehensweise
stellt die in akademischen Kreisen viel Aufsehen erregende Rede Loïc Wacquants
an einer Istanbuler Universität Anfang 2014 dar, in der er auch eine Bewertung
des Gezi-Aufstands vornahm. Nun lässt sich fragen, warum aus der Fülle an Literatur
ausgerechnet eine Rede Wacquants ausgesucht wird. Wacquant ist ein bedeutender
Soziologe und seine Arbeiten über Klassenpraktiken in urbanen Räumen und die
daraus gewonnenen Begriffe und Ansätze werden international beachtet. In Bezug
auf Gezi entwickelt er einen Ansatz, dessen Vorannahmen und politische
Schlussfolgerungen von vielen anderen, die über die Bedeutung von Gezi
schreiben, mehr oder weniger geteilt werden.
Wacquants Argumentation lautet zusammengefasst
wie folgt: Städte sind Zentren, in denen kulturelle, ökonomische, symbolische
und politische Kapitalsorten akkumuliert, ausdifferenziert und entwickelt
werden, miteinander in Verbindung treten und kämpfen. In der neoliberalen
Periode findet ein Angriff des ökonomischen Kapitals (kommerzielle Interessen) und
des politischen Kapitals (die Autorität des Staates) auf die urbanen Räume
statt, gegen den sich in jüngerer Zeit die über kulturelles Kapital verfügende
urbane Mittelklasse als widerständiges Subjekt formiert, wobei es angesichts
der Intensität des neoliberalen Angriffs und der durch ihn hervorgerufenen
Polarisierung erstaunlich ist, wie selten widerständige Aktionen sind. Dass
gegenwärtig nicht die „popularen Klassen“, das Proletariat oder die städtischen
Armen den Widerstand in den Städten tragen, sondern eine „kulturelle
Bourgeoisie“, liegt an der neuen Struktur der Marginalisierung, die der
Neoliberalismus in den Städten hervorbringt. Diese Struktur hat die widerständigen
Subjekte des Fordismus – die städtischen Armen und das Proletariat –
geschwächt, gar politisch und ideologisch entwaffnet. Dahinter verbirgt sich
die Normalisierung sozialer Unsicherheit (materielle Gewalt) und damit
verbundene Prozesse der Ausgrenzung, Fragmentierung und Kriminalisierung der städtischen
Armen mittels einer Reihe rassistischer und ethnischer Zuschreibungen
(symbolische Gewalt).
Wacquant interpretiert den Gezi-Aufstand
vor diesem Hintergrund als den Widerstand einer „neuen kulturellen Bourgeoisie“
bestehend aus der urbanen Mittelklasse, den Intellektuellen und gut
ausgebildeten Freiberuflern, die ihr kulturelles Kapital ausbauen und gegen die
Invasion des ökonomischen und politischen Kapitals verteidigen wollen. Neben
dieser Kampfansage an das ökonomische und politische Kapital im Namen der
Verteidigung ihres kulturellen Kapitals tendiere die Mittelklasse indessen zur
Exklusion der niederen Klassen, indem sie den urbanen Raum mit ihren
kulturellen Inhalten und Praktiken besetze. Wacquant führt als Beleg an, dass
der Gezi-Park zum urbanen Lifestyle der Mittelklasse gehöre und dass die Sorge
um den Verlust dieses Ortes, den Beweggrund zum Aufstand darstellte. Er
vergleicht den Park mit einem Pariser Park, der von der „kulturellen
Bourgeoisie“ benutzt werde. Nun ist allen einigermaßen Kundigen bekannt, dass
der Gezi-Park wenig mit einem Luxuspark gemein hat. Die Benutzer des Parks sind
nicht die Reichen oder die gehobenen Schichten der Stadt, viel eher lässt sich
das Gegenteil behaupten. Der Vergleich, den Wacquant zieht, legt offen, dass
seine Analyse nicht nur auf problematischen sondern auch auf falschen
Informationen beruht [1].
Engführungen des methodologischen
Individualismus
Doch selbst wenn die Informationen
hinsichtlich des durchschnittlichen Profils und der Nutzung des Parks verlässlich
und begründet wären, so bleibt doch die Logik bestehen, von diesen
Informationen auf den Charakter des Aufstands als „Rebellion der Mittelklasse“
zu schließen. Im Folgenden soll es nun darum gehen, diese Logik, die den
methodologischen Individualismus auszeichnet, zu hinterfragen.
Der methodologische Individualismus
macht sich an zwei Punkten bemerkbar. Erstens an der Bestimmung des Begriffs
Klasse, wie aus der inhaltlichen Auslegung des Begriffs Mittelklasse erschlossen
werden kann. Klasse ist in Wacquants Verständnis nicht ein kollektives Subjekt,
das auf der Grundlage einer objektiven Position in den Produktionsverhältnissen
über politische Beziehungen/Kämpfe eine konkrete Gestalt annimmt. Bei Wacquant
wie auch bei vielen anderen Ansätzen, die mit dem Begriff Mittelklasse
operieren, ist Klasse vielmehr eine Kategorie, die eine Schicht bezeichnet, der
eine Einzelperson aufgrund ihres Anteils an den gesellschaftlichen Ressourcen
angehört. Aus dieser Bestimmung folgt, dass Klasse als eine Ansammlung von Einzelpersonen
mit ähnlichen Positionen innerhalb einer sozialen Hierarchie begriffen wird.
Klasseninteresse entsteht dann über die Wahrnehmung des positionsgebundenen
Nutzens und Klassenkampf ist die kollektive Verteidigung dieses Interesses
gegenüber anderen Klassen oder Gruppen.
Der methodologische Individualismus
macht sich, zweitens, an der Auffassung bemerkbar, wie eine soziale Bewegung
entsteht und sich entwickelt. Demnach ist der Gezi-Aufstand eine kollektive
Aktion von Einzelpersonen, die gemäß der von ihnen wahrgenommenen Interessen
und Werte eine rationale Entscheidung treffen und sich versammeln, um zu
rebellieren. Wenn die Bedingungen, die die Einzelnen zum Widerstand
motivierten, aufgehoben sind, wird auch der Widerstand sich auflösen. Das
Bewusstsein, mit dem die Teilnehmenden anfangen zu rebellieren und in dem der
Durchschnitt ihrer Interessen und Werte abgebildet ist, entscheidet hier über
den Charakter des Widerstands.
Hieran ist zu kritisieren, dass der
Einfluss übergeordneter politischer und ideologischer Prozesse auf das
Bewusstsein und die Aktivitäten der Protestierenden außen vor bleibt. Es ist
aber zu unterstreichen, dass diese Prozesse eine Wirkung entfalten können, die
über die Position der Einzelnen in einer sozialen Hierarchie hinausweist.
Anders formuliert, es muss nicht unbedingt eine absolute Übereinstimmung
zwischen der Motivation Einzelner zur Teilnahme an einer kollektiven Aktion
(ihrem Bewusstsein) und ihrer Position in einer gegebenen sozialen Hierarchie bestehen.
Gleichermaßen bleibt die verändernde Wirkung einer kollektiven Aktion bei einer
solchen Betrachtung außen vor. Dies trifft auf die Teilnehmenden zu, die sich
in und durch einen Prozess verändern (können). Und es trifft auf den Verlauf
der Kämpfe in einem Land zu. Eine soziale Bewegung oder Aktion erhöht parallel
zur Wirkung, die sie entfaltet, die Sichtbarkeit politischer Kämpfe in einem
gegebenen Land und kann diese Kämpfe zuspitzen. Eine Bewegung kann durch ihre
Forderungen und Aktionen politisierend wirken, sie ist daher mehr als der
Durchschnitt an Interessen und Werten der Teilnehmenden. Sie kann über die
Einzelnen hinaus und auf diese rückwirkend eine Dynamik entfalten.
Außerdem verliert die
Mittelklassenthese, die den Charakter der Bewegung mit den Eigenschaften der
Teilnehmenden erklärt, die Gegenseite aus dem Blick. Die Besonderheiten der
AKP, ihre ideologische Positionierung und politischen Strategien sowie
Reaktionen auf den Aufstand bleiben unterbelichtet. Deutlich werden diese
Schwächen in Wacquants Bezeichnung der Protestierenden als „kulturelle
Bourgeoisie“, die ihr „kulturelles Kapital“ erhöhen möchte, und in seiner
Behauptung, dieses Interesse stelle eine Barriere zwischen den Armen und der
Mittelklasse dar. Die über die Gegnerschaft zur AKP hergestellte Breite des
Aufstands, die Solidarität unter den Protestierenden und das hartnäckige
Ausharren trotz immenser Gewalt finden in dieser Erklärung keinen Platz.
Gleichermaßen wird die Rolle der über die Einzelnen hinausweisenden
gesellschaftlichen Dynamiken und historischen Bedingungen für das Entstehen
einer Bewegung oder eines Aufstands nicht erfasst.
Klassen und soziale Formationen
Die Kritik an der Mittelklassenthese
liefert Anhaltspunkte für einen alternativen Interpretationsrahmen, der den
historischen Entstehungszusammenhang berücksichtigt; der die Besonderheiten der
sozialen und politischen Kräfte, gegen die sich der Aufstand formiert hat, in
die Analyse einbezieht; und der die verändernde Wirkung der Bewegung und des
Aufstands auf die Teilnehmenden und den Verlauf der politischen Kämpfe erfasst.
Zur Beantwortung der Frage, auf welcher
historischen Grundlage der Aufstand entstand, wogegen er sich richtete und
welche Wirkung er hinterlässt - „was ihn ausmacht“ -, braucht es einen Begriff,
der eine gemeinsame Diskussion dieser Aspekte erlaubt. Der Begriff „soziale
Formation“ bietet diese Möglichkeit. Eine soziale Formation meint die
spezifische Einheit, die die kapitalistische Produktionsweise mit politischen und
ideologischen Formen und Inhalten eingeht. Konkreter heißt dies, dass die
Besonderheiten der AKP und ihrer Strategien, gegen die sich der Aufstand
formierte, und die Wirkung, die der Aufstand auf die Entwicklung der politischen
und ideologischen Ausprägungen der sozialen Formation entfaltet, zu
berücksichtigen ist. So stand bis zuletzt eine Auflehnung gegen die AKP im
Zentrum des Aufstands. Zur Beantwortung der Frage, was den Aufstand ausmachte,
ist diese Stimmung gegen die AKP zentral. Dieser Stimmung gingen Erfahrungen
und Kämpfe voraus, denen verschiedene Ursachen zugrundeliegen. Das sind an
zentraler Stelle: Die mit den konkreten Ausprägungen der neoliberalen
Stadtpolitik unter der AKP verbundenen Verwerfungen, die Grenzen des
islamisch-konservativen Hegemonieprojekts, die Engpässe der parlamentarischen
Demokratie bei der Integration gesellschaftlicher Opposition, und der massive
Einsatz von Gewalt zur Unterdrückung dieser Opposition. Zusammengenommen sind
dies Symptome einer Hegemoniekrise, die bereits vor dem Aufstand bestanden [s.a.
die anderen Beiträge in der neunten Ausgabe von Infobrief Türkei].
Aus dieser Perspektive betrachtet wird
der Charakter des Gezi-Aufstands nicht durch die anfängliche Parkbesetzung und
die vermeintliche soziale Position der ParkbesetzerInnen definiert, sondern
durch die Erfahrungen und Kämpfe, die dem Aufstand vorausgingen, in ihn
eingingen sowie durch die (potentiellen) politischen Auswirkungen, die in der
Zuspitzung der Hegemoniekrise bestehen. Nach dem Aufstand war es für die AKP
nicht mehr möglich, ihre vormalige Strategie, sich als fortschrittliche Kraft
zu präsentieren, weiterzuführen. Demokratische Rechte und Freiheiten,
Gerechtigkeit, Gleichheit und Säkularismus stehen nun nicht mehr unter ihrer
Schirmherrschaft und können von der gesellschaftlichen Opposition neu besetzt werden.
Von hier aus lässt sich auch eine
alternative Auffassung bezüglich des Klassencharakters des Aufstands
formulieren. Gezi ist kein Klassenaufstand im Sinne eines unmittelbaren
Ausdrucks konkreter ökonomischer Interessen, die in einer bestimmten sozialen
Schicht geteilt werden. Auf diese Weise lässt sich der Klassencharakter des
Aufstands – ganz abgesehen von der fragwürdigen empirischen Grundlage bei der Bestimmung
des durchschnittlichen sozialen Profils - nicht bestimmen. Den Ausgangspunkt
zur Bestimmung des Klassencharakters sollten vielmehr der politische Block und
dessen Strategien der politischen und ideologischen Artikulation der
kapitalistischen Produktionsweise („Hegemonieprojekt“), gegen die sich der
Aufstand richtete, bilden. In dem Maße wie der Aufstand diese Artikulation erschütterte und neue Wege für die Formierung
einer gesellschaftlichen Opposition eröffnete, birgt er - unabhängig vom
sozialen Profil der Teilnehmenden - einen Klassencharakter. Was einem sozialen Aufstand
schließlich einen „Klasseninhalt“ gibt, ist nicht die durchschnittliche
Position der Teilnehmenden in einer sozialen Hierarchie, sondern die Frage, ob
und wie er immanente Widersprüche und Charakteristika einer sozialen Formation sichtbar
macht und politisiert.
Die Analyse mit der Feststellung einer
„Rebellion der Mittelklasse“ zu beginnen, kann weder die Dilemmata der AKP in
jüngerer Zeit noch den Stellenwert der Erfahrungen aus vorausgegangenen
Widerstandsaktionen und Protesten für Gezi erfassen. Beides passt nicht in ein
Schema, das den Aufstand als Kampfansage einer „kulturellen Bourgeoisie“
begreift, die einen Raum exklusiv besetzen möchte. Sicherlich ist es nicht
vollkommen irrelevant, welches soziale Profil in einer Bewegung überwiegt. Das
Profil kann je nach Zusammenhang und Fragestellung kritische Informationen über
eine Bewegung liefern. Mir geht es darum, dass dem sozialen Profil keine analytische
Priorität verliehen wird, um den Charakter einer Bewegung zu bestimmen.
Schließlich ist die Frage nach dem sozialen Charakter einer Bewegung nur im
Rahmen einer historischen Einbettung in eine gegebene soziale Formation
sinnvoll zu beantworten. Um den Gezi-Aufstand aber auch die anderen Aufstände
der vergangenen fünf Jahre zu begreifen, bedarf es dieser Mühe der konkreten
Bestimmung einer sozialen Formation, in denen sie auftauchen. Die Frage nach
der Bedeutung des sozialen Profils kann innerhalb dieses Rahmens gestellt
werden.
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[1] Die Rede von Loïc Wacquant kann hier
nachgehört werden: http://istifhanem.com/2014/01/18/17ocakwacquantizlenim/
Aus dem Türkischen übersetzt von Errol
Babacan.