Die Aktionen von Frauen während der Gezi-Proteste – wie das Übermalen sexistischer Anti-Regime-Parolen – haben einen Freiraum geschaffen und feministischen Forderungen zur Sichtbarkeit verholfen. Während die Dynamik des Aufstands abgeebbt ist, geht das Frauenforum Yoğurtçu ohne Unterbrechung weiter.
Der
Yoğurtçu-Park in Istanbul spielt in der Geschichte der Frauenbewegung eine
wichtige Rolle. 1987 wollte sich eine Frau aus Çankırı von ihrem gewalttätigen
Ehemann scheiden lassen. Als der Richter als Begründung für die Abweisung ihrer
Klage notieren ließ, »eine Frau sollte den Stock auf ihrem Rücken und das Kind
in ihrem Bauch stets fühlen«, war dies ein Fanal. Daraufhin organisierten
Frauen am 17. Mai 1987 im Yoğurtçu-Park eine »Demonstration gegen die Gewalt« —
die erste Massendemonstration der Frauenbewegung in der Türkei.
Eigentlich
beginnt alles um unser heutiges Frauenforum mit dem Gezi-Widerstand. Um das
Frauenforum im Yoğurtçu-Park verstehen zu können, muss man den Prozess des
Gezi-Widerstands betrachten, an dem sich die Frauen anfänglich unorganisiert
beteiligten.
Gezi
war für uns Frauen und LGBT*-Angehörige sehr wichtig. Wir spielten sowohl bei
der Organisierung der Kommune von Gezi als auch bei der Gestaltung
unterschiedlicher Aktionsformen eine besondere Rolle. So konnten wir uns und
unserer Stimme einen Freiraum schaffen: 2013, in der Woche im Gezi-Park, haben
einige Feministinnen ihre Plakate aufgehängt. Daraufhin kamen zahlreiche Frauen
zu ihnen, es entstand eine unvorhergesehene Gemeinsamkeit. Sie eröffneten dann
zusammen ein »Frauenzelt«. In der Kommune von Gezi schafften sich die Frauen um
das Zelt herum ihren Raum. Zwar waren die Feministinnen dabei federführend, aber
organisierte und unorganisierte Frauen haben sich daran beteiligt. Nahezu alle
Frauen, die in den Gezi-Park kamen, sahen die lila Fahnen und gingen sofort in
das Frauenzelt. So konnten wir gemeinsam Politik gestalten.
5.000
Frauen unterschiedlicher politischer Auffassungen stellten dann in Galatasaray
(Istanbul) die erste Frauen-Massendemonstration des Gezi-Widerstands auf die
Beine: »Luft-Zone ohne Tayyip und Belästigung«. Es war sehr wichtig, dass wir
als Frauen im Widerstand unsere eigene Perspektive aufzeigten. Zugleich konnten
wir auch auf die Sprache des Widerstands Einfluss nehmen. Die Parolen im
Gezi-Park waren meist sexistisch. Diese Sprache beleidigte Frauen und
LGBT*-Angehörige. Es wurde bspw. ein Workshop zu Mackersprüchen und Flüchen
organisiert. Auch wenn es so aussah, als ob wir nur über die Kritik an den
sexistischen Parolen zusammenkamen, war dies auch ein gutes Instrument, um uns
gegenseitig kennen und verstehen zu lernen. Rund um den Taksim-Platz haben wir
sexistische Parolen übermalt. Wir erfanden die Parole »Nicht fluchen,
beharrlich widerstehen«, und alle übernahmen sie. Wir kritisierten die
»3-Kinder-Politik« der Regierung und haben gemeinsam mit Kopftuchträgerinnen
einen Protest organisiert – eine Kopftuchträgerin war in Kabataş (Istanbul)
belästigt worden. Unser Dasein als Frau war das einende Grundelement, unter
dieser autoritären Atmosphäre spürten wir alle das Gemeinsame. Sogar
Passantinnen und unorganisierte Frauen haben sich unserem Protest in Kabataş
angeschlossen.
Nach
der Auflösung der Gezi-Park-Besetzung am 15. Juni 2013 bildeten sich die Foren.
Die Feministischen Kollektive Istanbul starteten einen Aufruf, anschließend
bildeten sich sowohl auf der europäischen als auch auf der asiatischen Seite
der Stadt die Frauenforen, so auch unser Frauenforum im Yoğurtçu-Park. Weil
alle Foren sich nach dem jeweiligen Park benannten, in dem sie stattfanden,
haben auch wir uns als Frauenforum Yoğurtçu bezeichnet.
Als
Frauen des Gezi-Widerstandes handelten wir nach der Devise Rosa Luxemburgs »Wer
sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht« und trafen uns jeden Mittwoch im
Yoğurtçu-Park. Die lilafarbenen Matratzen unter den mit Regenbogenfarben
geschmückten Bäumen waren unser Treffpunkt. Natürlich fanden auch in anderen
Stadtteilen und Parks weitere Frauenforen statt, darunter z.B. das Frauenforum
Abbasağa, Frauenforum Maçka-Park oder das Frauenforum Özgürlük Parkı (Freiheitspark)
in Göztepe. Aber das einzige Frauenforum, welches jede Woche zusammenkam und
heute noch zusammenkommt, ist das Frauenforum Yoğurtçu.
Dieses
Forum ist ein offener Raum für Frauen unterschiedlicher Identitäten und
politischer Auffassungen. Als Frauen des Gezi-Widerstands wussten wir, dass die
Straßen dieser Stadt uns die Freiheit bringen würden, aber gleichzeitig viele
Gefahren bargen. Im Juni 2013, als der Widerstand sich vom Gezi-Park auf die
anderen Parks verlagerte, waren wir dabei, unsere eigenen Stimmen zu finden.
Für die Frauen des Widerstands, die sich zuvor nicht kannten und jeweils ihr
eigenes Leben führten, aber unter den gleichen Problemen litten, wurde das
Forum zu einem Begegnungsplatz, zur weiblichen Form des Widerstandes und dessen
weibliche Stimme. Es entwickelte sich in Anknüpfung an den Gezi-Widerstand,
konnte aber den »Geist von Gezi« transformieren. Dieser Geist wurde bspw. in
den produktiven Beziehungen des Frauenforums Yoğurtçu vor Ort, in Kadıköy
(Stadtteil von Istanbul), lebendig.
Das
Frauenforum ist keine feste Organisation. Die Beteiligung basiert auf
individueller Initiative. Das Frauenforum ist gegen Hierarchien und
Repräsentation. Frauen, die in der gleichen Gewerkschaft oder einer
Massenorganisation Mitglied waren, lernten sich erstmals auf unserem Forum
kennen. So bot das Forum auch den bereits organisierten Frauen Anlass, sich zu
hinterfragen: Sie konnten sowohl ihre eigenen Erfahrungen einbringen, als auch
viel Neues in Erfahrung bringen. Das Frauenforum wurde zu einem Ort, in der
organisierte wie unorganisierte Frauen zusammenkommen, gemeinsam Sprache und
Formen des Frauenkampfes entwickeln, alle nach ihren Möglichkeiten am Kampf
teilnehmen und Verantwortung übernehmen können. Ein Ort, in dem
gleichberechtigtes Rederecht herrscht. Das Mikrophon bleibt nie lange bei einer
Person. Während die gleiche Redezeit eingehalten wird, achten wir auf die
Vielfältigkeit der Redebeiträge. Dieses Forum ist ein Ort, in dem Frauen aus
unterschiedlichen Bereichen sich gegenseitig zuhören, versuchen, sich zu
verstehen und eine gemeinsame Sprache zu finden. In diesem Sinne trägt das
Forum zur Entwicklung einer Frauensprache bei.
In
den letzten anderthalb Jahren wurden zahlreiche Themen aufgegriffen: Die
Politik der AKP, Feminismen, Zuschreibungen, unser eigener Körper, unser Kampf
usw. Natürlich thematisierten wir zuallererst den Gezi-Widerstand, der uns
zusammengebracht hatte. Wir kritisierten auch, dass immer nur Männer über Gezi
schrieben, und begannen, nachdem wir die männlichen Analysen hinter uns
gelassen hatten, unsere eigenen Erfahrungen im Widerstand zu thematisieren. In
Kadıköy organisierten wir viele Aktivitäten, an denen manche Frauen überhaupt
zum ersten Mal teilnahmen. Eine Freundin der Frauenorganisation Mor Çatı
(Lila Dach) half uns bei der Gründung einer geschlossenen Gruppe über
sexuelle Belästigung, was in der Untersuchungshaft oft vorkommt. Nach einer
sexuellen Belästigung während einer Verhaftung organisierten wir eine
Demonstration zu der Polizeiwache und führten dort eine Pressekonferenz durch.
Kurz nach Gezi haben wir mit den Frauen aus dem Stadtteil Yeldeğirmeni
gemeinsam eine Demonstration für mehr Straßenbeleuchtung und gegen sexuelle
Belästigung organisiert. Wir beteiligten uns an den Friedensaktivitäten von
Frauen gegen den Krieg in Rojava. Wir feierten gemeinsam Silvester und
gründeten Lesegruppen. Während der Kommunalwahlen formulierten wir unsere
Wahlprüfsteine, veröffentlichten eine Broschüre und drehten einen Kurzfilm. Wir
gingen auf die Straße mit der Losung »sexistische Kandidaten bekommen unsere
Stimme nicht!«. Manchmal schauten wir uns gemeinsam Filme an. Wir diskutierten
über die »Politik der Liebe« und kamen mit den Mitgliedern der Plattform
»Abtreibung ist unser Recht. Nur Frauen entscheiden« zusammen. Am 8. März waren
wir wieder auf den Straßen. Wir führten Diskussionsveranstaltungen zu den
Themen »Sexuelle Orientierung und sexuelle Identität«, »Homophobie und
Transphobie« durch und diskutierten über die sexuelle Gesundheit der Frau. Am
Muttertag führten wir im Park die Aktion »Frauen werden den Muttertag lila
anmalen« durch. Auch das Bergwerksunglück in Soma war Thema [1]. Mit den Frauen
aus Soma diskutierten wir über Solidarität, mit der Fraueninitiative für den
Frieden über die Ereignisse in Lice [2]. Wir beteiligten uns am
Rojava-Forum im Park und danach an den Aktionen rund um den Antikriegstag am 1.
September. Wir thematisierten den Militarismus und organisierten Unterstützung
für die Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Rojava. Zur Unterstützung der Fraueninitiative,
die sich für die Verbesserung der Flüchtlingslagersituation einsetzt, nahmen
wir an Delegationsreisen in die Region teil und beteiligten uns an den
Frauenaktivitäten vor Ort.
Und
natürlich vergaßen wir nicht zu feiern. Der Freude unserer Körper und unserem
Begehren haben wir begeistert mit Tanz und Musik Ausdruck verliehen. Wir
organisierten Partys oder gingen gemeinsam auf andere Partys. In diesem Land,
in dem der Alkohol verboten werden soll, haben wir uns betrunken. Über die
Versuche, die Frauen zum Schweigen zu bringen, haben wir laut gelacht. Wir
wurden schwanger, haben abgetrieben, nahmen unsere Kinder mit ins Forum und
betreuten gemeinsam unsere Kinder. Manchmal haben wir gemeinsam geweint, wurden
wütend auf die Situation oder auf uns gegenseitig. Dennoch haben wir es
geschafft, zusammen und solidarisch zu bleiben. Wir sind dabei, Widerstand und
Gleichberechtigung — von unseren Tränen zu unserem Gelächter, von unseren
Gefühlen zu unserer Vernunft, von unserer Barmherzigkeit zu unserer Wut — Masche
für Masche zusammenzuflechten.
All
dies hat uns die Möglichkeit gegeben, über uns selbst nachzudenken und uns
persönlich zu stärken. Diese Kraft tragen wir in die verschiedenen Plattformen.
Mit dieser Kraft und der gemeinsam entwickelten Vernunft werden wir politisch
aktiv. Wir haben in den Foren hierarchiearme Strukturen und gemeinsame
Entscheidungsfindung kennengelernt. In diesem Prozess fühlen wir, wie die
Solidarität und das Teilen unsere Schwesterlichkeit stärkt: Es gibt ein Leben
außerhalb der Familie. Wir reißen die schwesterliche Verbundenheit aus der
patriarchalischen Familie heraus und bauen eine andere soziale Einheit auf.
Dass
die Widerstandsbewegung von Gezi schwächer geworden ist, konnte unseren Glauben
nicht erschüttern. Unser Forum geht seit anderthalb Jahren ohne Unterbrechung
weiter. Aufgrund des Wetters führen wir die Foren in geschlossenen Räumen
weiter.
Wir
sind uns bewusst, dass der Befreiungskampf der Frau langwierig ist. Wir Frauen
wollen eine Stadt, auf deren Straßen wir zu Tages- und Nachtzeit frei
herumlaufen können und nicht zu Hause eingesperrt bleiben. Weder wollen wir ein
isoliertes Leben in den geschützten »gated communities« führen, noch wollen wir
die sexuelle Belästigung auf der Straße hinnehmen. Wir kriegen in dieser Stadt,
die durch Gentrifizierung zu einem Profitraum verkommt, keine Luft mehr. Wir
fordern eine Stadt, die ökologisch ist, an deren Gestaltung wir uns beteiligen
können, in der wir als Frauen nicht diskriminiert werden und unabhängig leben
können. Darum bleiben wir am Tag und in der Nacht beharrlich auf den Straßen
und in den Parks.
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Das
Frauenforum Yoğurtçu trifft sich jeden Mittwoch um 19:30 – 21:30 in Kadıköy.
Für weitere Infos: https://twitter.com/yogurtcukadin
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[1]
Bei dem Grubenunglück in Soma im Mai 2014 starben aufgrund mangelnder
Sicherheitsvorkehrungen mindestens 300 Bergleute. Bei den anschließenden
Protesten gegen die AKP, die mit den Minenbetreibern verbandelt und für die
laxen behördlichen Kontrollen der Minen verantwortlich ist, wurden der
Ministerpräsident Tayyip Erdoğan und einer seiner Berater handgreiflich gegen
die Hinterbliebenen der Bergleute.
[2] Als der
Gezi-Park im Juni 2013 bereits geräumt und die Gezi-Bewegung sich in einem
Prozess der Sammlung befand, wurde bei Protesten gegen den Bau einer Garnison
in Lice bei Diyarbakır ein kurdischer Jugendlicher von der Gendarmerie
erschossen. Daraufhin fand im Istanbuler Stadtteil Kadıköy eine spontane Solidaritätsdemonstration
mit der kurdischen Bevölkerung statt, an der sich Tausende beteiligten und
Parolen auf kurdisch riefen. Da Kadıköy als eine der Hochburgen des türkischen
Nationalismus gilt, stellte eine derartige Solidarisierung mit der kurdischen
Bevölkerung gegen die türkische Armee etwas vollkommen Unerwartetes dar. Dem
erschossenen Jugendlichen wird seitdem zusammen mit den Toten des
Polizeiterrors während des Aufstands gedacht.