Donnerstag, 26. Februar 2015

Autoritärer Neoliberalismus und Islamisierung - Die „Neue Türkei“ an einem Point of no Return?

Von Errol Babacan und Murat Çakır*

Angesichts der autoritären Entwicklung unter der AKP-Regierung wächst die Sorge, dass die Parlamentswahlen im Juni einen Point of no Return markieren könnten. Während die etablierten Oppositionsparteien keine Alternative zum autoritären Neoliberalismus vorbringen, wird ein Bündnis linker Gruppen zunehmend als Notwendigkeit thematisiert.

Zu den Parlamentswahlen im Juni 2015 tritt die AKP als etablierte Partei an, die inzwischen alle zentralen Institutionen besetzt hat. Obwohl ihre expansive Phase der Vergangenheit angehört und einzelne Abspaltungen die Partei zeitweise geschwächt haben, ist der gesellschaftliche Konsens hinter ihrer Politik stabil. Nun strebt sie eine 3/5-Mehrheit an, um das faktisch bereits betriebene Präsidialsystem per Referendum zur Abstimmung vorzulegen. Zwar hat der Aufstand im Juni 2013 ihr demokratisches Image unwiederbringlich beschädigt. An diesem Punkt hält sich die Partei des politischen Islam jedoch nicht mehr auf. Inzwischen wird zusammen mit der parlamentarischen Demokratie auch die republikanische Verfassung mit staatsbürgerlichen Rechten - insbesondere Frauen- und Arbeiterrechte – offen zur Disposition gestellt.

Angesichts dieser Entwicklung wächst im linken Spektrum die Sorge, dass die kommende Wahl einen Point of no Return markieren könnte. Die Frage, ob die AKP es sich angesichts mannigfaltiger Korruptionsfälle, eklatanter Rechtsbrüche und systematischer Verletzung der Gewaltenteilung noch erlauben kann, eine Wahl zu verlieren, hat bereits jetzt ihre Berechtigung. Mit einer 3/5-Mehrheit hätte sie jedoch freie Fahrt. So wird die Bündelung aller Kräfte, um geeint in die bevorstehenden Auseinandersetzungen zu gehen, zunehmend als Notwendigkeit thematisiert. Zumal zum ersten Mal seit den 1970er Jahren der Einzug eines unabhängigen linken Wahlbündnisses ins Parlament möglich erscheint. Die bürgerlichen Oppositionsparteien stellen dagegen keine Alternative zum autoritären Neoliberalismus dar. Im Zweifelsfall meiden sie eine scharfe Konfrontation mit der AKP und entscheiden sich für ein Arrangement.

Die hundertjährige Klammer

In den kommenden Wahlen tritt die AKP zum ersten Mal unter der Führung des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu an. Als Chefideologe des Neo-Osmanismus proklamiert dieser die Schließung der hundertjährigen Klammer. Gemeint sind die Komplettierung der Islamisierung im Innern und die Wiedergewinnung des mit dem Ersten Weltkrieg verlorenen Einflusses auf die osmanischen Protektorate im Nahen Osten und in Nord-Afrika.

Den Marsch durch die Institutionen hat der politische Islam inzwischen fast abgeschlossen. Die als Demokratisierung ausgegebene Bekämpfung oppositioneller Machtzentren in den Justizapparaten und der Armee überdeckte lange Zeit, dass die AKP in erster Linie einen Austausch des bürokratischen Personals organisierte. Die politische Stoßrichtung des Militärputschs von 1980 – eine autoritäre Absicherung der kapitalistischen Akkumulation neoliberaler Prägung – baute sie dagegen konsequent aus. Unterdessen erhob sie den konservativen Islam – ausgerichtet an einer von der mächtigen Religionsbehörde vorgegebenen Interpretation der sunnitischen Konfession - Schritt für Schritt zum neuen kulturellen Leitbild, das sich heute wie ein Panzer um die kapitalistische Expansionsdynamik legt.

Tragische Folgen hatte diese Entwicklung für die säkulare und republikanische Bevölkerung, für die Linke und - durch die desaströsen „Arbeitsunfälle“ immer wieder offengelegt - für die große Masse der Werktätigen, sowie für Frauen, die den verschiedenen Facetten von Gewalt unter dem Druck des konservativen Frauenbilds ausgesetzt sind. Die als Demokratisierung begrüßte Dynamik bedeutete in Wahrheit nichts anderes als die Re-Formierung der Gesellschaft unter der Kontrolle des politischen Islam.

Seit einiger Zeit ist nun offen die Rede von einer „islamischen Revolution“ oder einer „hundertjährigen Säuberung“. In der Denktradition Samuel Huntingtons stellt Davutoğlu der „westlichen“ die „islamische Zivilisation“ gegenüber. Deren Träger soll eine neue islamische Elite sein. Unterstrichen wird dieses Ansinnen durch eine Vielzahl an Maßnahmen, allen voran die Konfessionalisierung von Erziehung und Bildung. Ein Beispiel mag den erreichten Stand illustrieren: Die Zahl der Gymnasien mit religiösem Schwerpunkt, die eine intensive Ausbildung in Theorie und Praxis des sunnitischen Islam und die arabische Sprache vermitteln, hat sich in zehn Jahren verdoppelt. Die aktuell knapp 700.000 eingeschriebenen GymnasiastInnen an diesen Schulen bedeuten eine Steigerung um 50% im Vergleich zum Vorjahr.

Während der Konformitätsdruck sich bei religiösen Ritualen wie dem Fasten an Ramadan Bahn bricht - wehe dem, der nicht fastet -, bestimmt das religiöse Bekenntnis immer stärker den Alltag. Schon so kleine Zeichen wie der gewöhnliche Gruß „Merhaba“ (Hallo) anstelle des religiös konnotierten Pendants „Selamün Aleyküm“ (etwa: Friede/Gott sei mit dir) können sich zu einem Nachteil bei der Verfolgung alltäglicher Geschäfte entwickeln, sei es beim Einkaufen auf dem Markt, der Suche nach einer Arbeitsstelle oder dem Gang aufs Amt, um bestimmte Gefälligkeiten zu erwirken oder Hilfen zu erhalten. Es ist diese materielle Anbindung der Religion, die sie so attraktiv und zugleich repressiv macht, indem sie zur Anpassung zwingt.

Die Präsidentschaft Tayyip Erdoğans, der in seinem neuen Präsidentenpalast ein Schattenkabinett parallel zur eigentlichen Regierung unterhält, wird in der islamistischen Presse als Fanal gedeutet. Die Einheit von Staat und Volk, so die verbreitete Vorstellung, sei auf allen Ebenen wiederhergestellt worden. Das gläubige Volk habe sein gläubiges Oberhaupt gefunden. Diese über kulturelle Werte imaginierte Identität zwischen dem Herrscher und seinem Volk, im konservativ-liberalen Lager auch als „Volksnähe“ oder „Authentizität“ idealisiert, bildet die ideologische Grundlage für das Präsidialsystem, das der AKP vorschwebt.

Eine blühende Wirtschaftsmacht

Der neo-osmanische Prunk und der Personenkult um Erdoğan überspielen derweil die strukturellen Dynamiken. Erdoğan steht im Vordergrund, weil seine Popularität Mehrheiten sichert. Im Hintergrund stehen jedoch die Unternehmernetzwerke, die den Aufstieg des politischen Islam begleiten und die Partei tragen. „Die neue Türkei wird nicht allein ein Werk der AKP, sondern ein Werk von Stiftungen und Organisationen wie MÜSİAD sein“, so Erdoğan vor dem Unternehmerverband über den politisch-ökonomischen Zusammenhang.

Während neben MÜSIAD weitere Unternehmerverbände ihre Unterstützung für den Übergang in ein Präsidialsystem signalisieren, äußert sich der Unternehmerverband TÜSIAD, der die mit Abstand kapitalkräftigsten und am stärksten mit dem trans-atlantischen Kapital verflochtenen Konzerne repräsentiert, skeptisch. Diese Konzerne profitierten zwar mehr als alle anderen Unternehmen von der neoliberalen Politik. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass sie auf der Suche nach einer politischen Alternative zur AKP sind, schon weil einzelne Mitglieder des Verbands von staatlichen (Steuer-)Behörden massiv unter Druck gesetzt werden konnten und nicht alle großen Ausschreibungen zu ihren Gunsten verliefen.

Die seit einiger Zeit kritischen Stimmen aus der EU und den USA stehen auch in Verbindung mit der Befürchtung, dass ein Präsidialsystem die Möglichkeiten der Einflussnahme der mit ihnen assoziierten Unternehmen auf politische Entscheidungen einengt. So attackiert der Präsident Erdoğan bereits jetzt hartnäckig die formal unabhängige Zentralbank, damit diese die Leitzinsen senkt und die Bauindustrie und der Konsum wieder angekurbelt werden können. Dabei befindet sich die Zentralbank in einer Zwickmühle. Senkt sie die erst vor gut einem Jahr drastisch erhöhten Leitzinsen, könnte es zu einer weiteren Abwertung der türkischen Lira kommen, womit auch die Rückzahlungsschwierigkeiten von Privatunternehmen mit hoher Auslandsverschuldung verschärft würden. Belässt sie die Leitzinsen auf dem jetzigen Niveau wird das über Kredite finanzierte Wachstumsmodell weiter ausgebremst (Tabelle 1).

Tabelle 1: Wirtschaftsdaten Türkei [1]

2005
2007
2009
2011
2013
2014
BIP Wachstum (Mrd. $)
481
649
617
774
822
810
Wachstum (%)
8,4
4,7
-4,8
8,8
4,1
3,3
Inflation (%)
7,7
8,4
6,5
10,5
7,4
8,2
Export (Mrd. $)
74
107
102
135
152
161
Import (Mrd. $)
117
170
141
241
252
244
Handelsdefizit (Mrd. $)
-43
-63
-39
-106
-100
-84
Inlandsschulden (Mrd. $)
182
219
219
193
189

Auslandsschulden (Mrd. $)
65
67
74
79
86

Arbeitslosigkeit (%)
9,5
9,2
13,1
9,1
9,0
9,0

Dabei steht das Modell permanent am Rande einer Krise, deren potentielle Wucht mit der Zeit zunimmt. Kritische Ökonomen warnen schon länger, dass der Traum von einer Wirtschaftsmacht im Kern eine gewaltige Blase ist, die auf Pump finanziert wird. Bislang haben die expansive Geldpolitik in den USA und der EU die Fortführung ermöglicht. Trotz hohem Risiko fließt weiterhin Finanzkapital in die Türkei und die Verschuldung der Privatunternehmen und -haushalte nimmt zu (Tabelle 2).

Tabelle 2: Schuldenquoten (%) [2]

2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
Auslandsschulden/
BIP
38,6
37,9
43,6
39,9
39,3
43,0
47,5
48,8
Kurzfristige Auslandsschulden/
Auslandsschulden
17,2
18,7
18,2
26,5
26,9
29,7
33,2
33,2
Kurzfristige Auslandsschulden/
Devisenreserven
58,9
74,0
69,3
95,8
104,3
101,3
116,4
116,5

Eine scharfe Kritik an der AKP ist aus Unternehmerkreisen jedoch trotz Unstimmigkeiten nicht zu hören. Die Partei garantiert insgesamt eine investorenfreundliche Politik und vor allen Dingen den Erhalt des gesellschaftlichen Konsens in der Arbeiterschaft. Anfang des Jahres begründete die Regierung das Verbot eines lange angekündigten Streiks in der Metallbranche mit der „Nationalen Sicherheit“. Eine breite Solidarisierung mit den Metallarbeitern blieb aus. Der Vorgang ist beispielhaft, denn bislang hat die AKP den Unmut gegenüber Arbeitsbedingungen und anderen kapitalistischen Verwerfungen fast immer in den Griff bekommen, bevor er anwachsen konnte. In der von ihr geförderten religiösen Konjunktur gilt Abtreibung als Mord und Verrat am Wachstum der Nation, während Mord als Schicksal bezeichnet wird, wie regelmäßig bei tödlichen Arbeitsunfällen wegen unzureichender Sicherheitsvorkehrungen zu vernehmen ist (Tabelle 3).

Tabelle 3: Arbeitsunfälle mit Todesfolge [3]
Jahr
Todesfälle

Jahr
Todesfälle
2003
811
2010
1.454
2004
843
2011
1.710
2005
1.096
2012
878
2006
1.601
2013
1.235
2007
1.044
2014
(bis November)
1.600
2008
866


2009
1.171
Gesamt
14.309

Zumal extreme Arbeitsbedingungen, reproduktionspolitische Anpassungen, Vertreibung aus Wohnvierteln und massive ökologische Zerstörung durch riesige Infrastrukturprojekte für große Teile der Bevölkerung hinter das Versprechen eines sozialen Aufstiegs zurück treten. In der breiten Wahrnehmung ist die Aussicht auf den Aufstieg an die AKP gekoppelt. Selbst die Offenlegung individueller Bereicherung durch Korruption oder solche Desaster wie das Grubenunglück in Soma mit über 300 Toten, die die Kehrseite des Fortschritts aufzeigen, stören diese Wahrnehmung kaum. Wenn es doch zu Protesten kommt, werden Methoden der Aufstandsbekämpfung angewendet. So steht mit der Verabschiedung eines neuen Gesetzespakets zur „Inneren Sicherheit“, das die Befugnisse der Polizei erweitert und das Versammlungsrecht einschränkt, eine weitere Verschärfung repressiver Mittel an.

Aufbruch zu neuen Ufern oder Schiffbruch

Der Autoritarismus und die Islamisierung im Innern sind eng mit außenpolitischen Zielen verknüpft. Hundert Jahre, so Davutoğlu, dauerte die gegenseitige Isolation der „Völker“ nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs. Die „Neue Türkei“, so die Sprachregelung, werde diese Isolation durchbrechen und zusammenführen, was zusammen gehöre. Hinter dieser „Zusammenführung“ stehen handfeste Interessen. Angestrebt wird die Kontrolle über Handelswege sowie Teilhabe an den Erdöl- und Erdgasfeldern in der unmittelbaren Nachbarschaft, die sich in der vergangenen Dekade zu einer „post-modernen“ Kolonie der Türkei entwickelte. Der Warenexport in die Region, deren Produktivkräfte weit unterlegen daher leicht zu dominieren sind, stieg ebenso sprunghaft an wie der Kapitalexport. Zusammengenommen sind dies ausreichend Gründe für die energiehungrige Türkei, die Region als ihre Einflusssphäre zu betrachten.

Nachdem die EU-Mitgliedschaft auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, wird die Destabilisierung von Staaten in der Region als neue äußere Dynamik begrüßt, an der sich die Außenpolitik orientiert. Die Destabilisierung des Irak durch Unterstützung der irakisch-kurdischen Autonomiebehörde gegenüber der Zentralregierung in Bagdad bildet seit Jahren eine Konstante türkischer Außenpolitik. Daneben leistet die Türkei der kriegerischen Radikalisierung in der Region Vorschub, indem sie militante Islamisten zum Sturz der syrischen Regierung unterstützt.

Die Formulierung politischer Projekte in der Türkei steht zunehmend unter dem Drang, die Märkte und Ressourcen der südlichen Nachbarstaaten zu erobern. Die Realisierbarkeit der neo-osmanischen Expansionsstrategie ist allerdings überaus fraglich. In Nord-Afrika ist die Türkei inzwischen in die politische Bedeutungslosigkeit abgerutscht und der Krieg in Syrien hat nicht den erhofften schnellen Sieg gebracht. Im Gegenteil, in Nord-Syrien hat sich die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einen neuen Handlungsspielraum erkämpft, während das von ihr gestützte syrisch-kurdische Autonomiemodell Rojava sich dem Zugriff der Türkei entzieht.

Doch trotz solcher Misserfolge stellt sich die Frage, wie die enge Verflechtung mit der Dynamik in der Region auf die Türkei zurückwirkt. Während die Türkei ein Transitland für Islamisten aus der ganzen Welt geworden ist und türkische Staatsbürger auf Seiten islamistischer Organisationen kämpfen, organisieren sich militante Islamisten auch in der Türkei und halten Versammlungen ab. Das Zusammenkommen der „islamischen Revolution“ im Innern mit der militanten islamistischen Dynamik lässt jedenfalls eine konfessionelle Zuspitzung des konservativen Islam erwarten. Die Mobilisierung bewaffneter islamistisch-nationalistischer Kräfte gegen die Massenproteste in den kurdischen Regionen der Türkei zu Beginn des Kampfs um die syrisch-kurdische Enklave Kobanê im Oktober 2014 kann als Vorgeschmack auf den zukünftigen Umgang mit Protesten und Krisensituationen begriffen werden.

Das Bürgertum unter neoliberalem Anpassungsdruck

Währenddessen hält der Umbruch in der größten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) an. Die Strategie der rechts-populistischen Öffnung zeitigte bislang jedoch nicht den erhofften Erfolg. Die Aufstellung eines Islamisten zum Präsidentschaftskandidaten im vergangenen Sommer gemeinsam mit der faschistischen Nationalen Bewegungspartei (MHP) entpuppte sich als Flop.

Ob die CHP an diesem Kurs festhält und weiterhin versucht, durch konservativ-religiöse Anrufung Wählerstimmen von der AKP loszulösen, wird sich zeigen. Soziale und demokratische Versprechen macht sie jedenfalls keine, stattdessen grenzen sich Teile ihre Anhängerschaft nach unten ab. Sie werfen seit langem den Ärmsten der Gesellschaft vor, sie verkauften ihre Stimmen für einen Sack Kohle und eine Packung Nudeln an die AKP. Tatsächlich ist die Anzahl der Einzelpersonen, die Hilfen aus öffentlichen Sozialfonds erhalten, stark gestiegen, nach Schätzungen sind es jährlich 10 Millionen. Da es keinen gesetzlich geregelten Anspruch auf diese Hilfen gibt, empfinden viele Hilfsempfänger Dankbarkeit gegenüber der regierenden Partei, deren indirekte Repräsentanten – Provinzgouverneure oder Landräte - den Fonds vorstehen. Hilfen für Gesundheitskosten, die über die gesetzlich geregelte „Grüne Karte“ verteilt werden, kommen hinzu (Tabelle 4).

Tabelle 4: „Sozialhilfe“ an Bedürftige [4]
Zahlungsgrund
Monatlich (EURO)
Einmalig
(EURO)
Schwangerschaft
10,71
---
Geburt im Krankenhaus
---
25,00
Gesundheitszuschuss pro Kind (SchülerIn)
16,07
---
Zuschuss an bedürftige Studierende
71,48
4.285,71
Zuschuss an Eltern von Soldaten
89,28
---
Nahrungsmittelzuschuss
97,86
---
Wohnungsgeld
113,21
---
Zuschuss für Familienangehörige über 65 Jahre
46,43
---
Witwenzuschuss (nur an Frauen)
89,28
---
Familienzuschuss bei Behinderung
93,21
---
Heizungsunterstützung in den Wintermonaten
---
500 kg Kohle

Doch weder die CHP noch die zweite Oppositionspartei MHP zeigen eine Alternative auf, wie die unter schwierigen Bedingungen lebenden Familien sich ernähren und über den Winter kommen sollen. Zwischenzeitliche sozial-demokratische Anwandlungen in der CHP – so deren Vorschlag für eine staatlich finanzierte Familienversicherung und die Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse – sind rechts-populistischen Kampagnen gewichen. Die Partei verliert kaum ein Wort über die Lage der informell, sprich prekär und unter miserablen Bedingungen beschäftigten Werktätigen. Der sogenannten Stadterneuerung und den riesigen Infrastrukturprojekten unter dem Diktat kapitalistischer Verwertungsinteressen steht sie grundsätzlich positiv gegenüber. Die CHP verspricht so wie die AKP zu sein, nämlich investorenfreundliche neoliberale Politik zu gestalten.

Die bei den Präsidentschaftswahlen getroffene strategische Entscheidung, die Auseinandersetzung um Mehrheiten mittels einer kulturpolitischen Anpassung an den islamischen Konservatismus zu führen und gleichzeitig auf eine ernstzunehmende sozial-demokratische Agenda zu verzichten, lässt Schlüsse auf die bestimmenden Triebkräfte zu. Offenbar handelt die Parteispitze unter dem Druck des mächtigen Verbands TÜSIAD. Dass die USA seit geraumer Zeit die CHP hofiert, ist ein weiteres Indiz für den Formierungsversuch einer konkurrenzfähigen neoliberalen Alternative zur AKP. So präsentiert sich das Projekt CHP als ein von Machtkämpfen in den oberen Etagen der Gesellschaft dominiertes Unterfangen, der Partei einen populistischen Anstrich zu verpassen.

Politik der Einheitsfront?

Mit ihrem kulturpolitischen Rechtsruck unter dem Vorzeichen fraktioneller Konflikte hat die CHP das Schrumpfen ihrer säkularen Basis in Kauf genommen, derer sie sich mangels politischer Alternativen lange sicher glaubte. Der für demokratische Versprechen empfänglicheren und kulturell offeneren CHP-Basis bietet sich inzwischen jedoch eine Alternative an. Infolge des konservativ-islamischen Rechtsrucks innerhalb des Bürgertums und der sich ausbreitenden Erfahrung, dass die etablierten Parteien mehr an der Verteidigung von Pfründen als an der Entwicklung einer Alternative zur AKP interessiert sind, bietet die kommende Wahl zum ersten Mal seit den 1970er Jahren einem unabhängigen linken-liberalen Bündnis die Chance, als Partei ins Parlament einzuziehen.

Die Demokratische Partei der Völker (HDP), die aus einem Zusammenschluss der kurdischen Bewegung mit linken Gruppierungen hervorgegangen ist, hat angekündigt, nicht wie sonst mit unabhängigen Kandidaten sondern als Partei zur Wahl anzutreten. Mit einem post-marxistischen Programm will sie gegen die Zehn-Prozent-Hürde antreten und baut auf die Mobilisierungsressourcen der kurdischen Bewegung. Falls die Strategie aufgeht, kann sie mit einer weitaus größeren Anzahl an Abgeordneten ins Parlament einziehen als bisher, ein Scheitern an der Hürde würde der AKP dagegen wahrscheinlich den Weg zu einer Mehrheit für die präsidiale Verfassung eröffnen.

Die HDP übersetzt den Unmut gegenüber Autoritarismus und polarisierender Politik in einen radikal-demokratischen Diskurs. Im Mittelpunkt der Emanzipationsziele der HDP stehen die Anerkennung und Gleichstellung unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse, ethnischer Identitäten sowie eine an Gleichstellung orientierte Geschlechterpolitik. Dass diese Orientierung in einer von ethnischen, religiösen und patriarchalen Dynamiken dominierten Region einen Resonanzboden findet, bestätigt den Trend des Juni-Aufstands, wonach demokratische Versprechen gepaart mit linken Inhalten gleichfalls einen Auftrieb erfahren haben.

Inwiefern aus der „radikalen Demokratie“ jedoch mehr als eine Absichtserklärung und parteiinterne Quotenregelungen werden können und in welche Richtung die widerspruchsvolle Beziehung zwischen der kurdischen Bewegung und linken Gruppierungen sich entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab. Zunächst befindet sich die kurdische Bewegung - mit Abstand stärkste Kraft in der HDP - in einem geheimen Verhandlungsprozess mit der Regierung. Der Waffenstillstand hält bereits seit über zwei Jahren an und viele politische Gefangene wurden aus der Untersuchungshaft entlassen. Welche Zugeständnisse zu welchem Preis gemacht werden, entzieht sich jedoch der Öffentlichkeit. Solange die Verhandlungen zwischen der PKK und der AKP geheim bleiben, wird die Glaubwürdigkeit der HDP unter einem dicken Fragezeichen stehen. Noch so viele Beteuerungen der kurdischen Bewegung, dass sie keinen Kuhhandel mit der AKP eingehen und beispielsweise im Gegenzug für Hafterleichterungen für Abdullah Öcalan oder einige kulturelle/sprachliche Freiheiten einem Präsidialsystem zustimmen werde, können diese Befürchtung nicht entkräften.

Hinzu kommt, dass die kurdische Bewegung transnational ausgerichtet ist und unterschiedliche soziale Kräfte umfasst. In ihr organisieren sich auch kurdische Unternehmer oder solche in spe, die die neo-osmanische Expansionsstrategie mehr oder weniger deutlich begrüßen. Sie rechnen sich gute Chancen aus, an der Ausbeutung teilzunehmen und sehen Kurdistan im Länderviereck Türkei, Syrien, Irak und Iran als Knotenpunkt eines neuen Eldorado. Wenn wiederum der Parteivorsitzende Selahattin Demirtaş an die Adresse von Industriellen gerichtet dazu aufruft, mehr im kurdischen Südosten zu investieren, so zeigt sich darin nicht nur der Einfluss solcher Erwartungen sondern auch, wie unterbestimmt die soziale Perspektive der „radikalen Demokratie“ ist. Welche besonderen Standortvorteile sollten Investoren in Kurdistan erhalten? Angesichts der Masse an billigen Arbeitskräften in der ganzen Türkei können dies nur noch billigere Arbeitskräfte sein oder aber das Versprechen, die natürlichen Ressourcen ausbeuten zu dürfen. Da solche Ziele nicht zum Programm der HDP gehören, im Gegenteil in der kurdischen Bewegung Diskussionen zur Kollektivierung von Ressourcen geführt werden, ist mindestens rätselhaft, welche Türen Investoren geöffnet werden sollen.

Schließlich formuliert die Partei auch sozial-politische Ziele wie die Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und kostenloser Zugang zu Bildung. Eine Strategie, wie diesen Anliegen Nachdruck verliehen werden soll, fehlt noch. Ohne ein nachvollziehbares Programm für die informalisierte und prekarisierte Arbeiterschaft wird es kaum gelingen, das Wirkungsgefüge der AKP zu durchbrechen, das etliche integrative Mechanismen umfasst, neben der Austeilung materieller Hilfsleistungen über regierungsnahe Sozialfonds, die Schaffung konfessioneller Privilegien und die Verteilung der städtischen Rendite.

Innenpolitisch vor solche Herausforderungen gestellt, wirkt sich die islamistische Dynamik im Nahen Osten auf die kurdische Bewegung als stärkste Kraft in der HDP insbesondere durch die Bekämpfung des von ihr gestützten syrisch-kurdischen Autonomiemodells seitens islamistischer Milizen aus. Rojava hat sich bislang einer Instrumentalisierung durch den Westen entzogen und im syrischen Bürgerkrieg politisch weitgehend neutral verhalten. Doch während des Angriffs des IS auf Kobanê wurden Stimmen aus der kurdischen Bewegung nach einer insgesamt aktiveren Rolle der NATO im Nahen Osten laut. Eine mittelbare Einbindung der PKK in US-amerikanisch dominierte Pläne, wonach es zwischenzeitlich aussah, würde ein Novum darstellen. Wie ein demokratisches Ansinnen unter linken Vorzeichen mit der Annäherung an die NATO und an das sogenannte Bündnis der Willigen, darunter auch Saudi-Arabien und Katar, die für das Erstarken des Islamismus verantwortlich gemacht werden, zusammengehen soll, bleibt hierbei ein Geheimnis. Zumal unumstritten ist, dass auf alle militärischen Interventionen unter der Führung der USA ein noch größeres Chaos und Erstarken reaktionärer Kräfte folgte.

Damit sind auch die Problemstellen eines erweiterten Bündnisses zwischen der HDP und weiteren linken Kräften angesprochen. Die Unschlüssigkeit hinsichtlich der Rolle von Investoren und der NATO bilden zentrale Kritikpunkte linker Parteien und Initiativen, die sich in Abwehrkämpfen gegenüber dem neoliberalen Ausbeutungskomplex befinden und imperialistische Interventionen im Nahen Osten ablehnen. So formiert sich links von der HDP derzeit eine neue oppositionelle Plattform, die sich in Anlehnung an den Juni-Aufstand Vereinigte Juni Bewegung (BHH) nennt. Wie dauerhaft das lose Bündnis aus linken Sozialdemokraten, Kommunisten und Sozialisten unterschiedlicher Provenienz ist und welche Wahlstrategie sie verfolgen wird, ist offen und ihre Mobilisierungskraft ungewiss. Eine Annäherung an die CHP ist ebenso im Gespräch wie an die HDP. Zwar steht die BHH den liberalen Tendenzen in der HDP als auch deren Avancen gegenüber den USA sehr kritisch gegenüber, doch angesichts der autoritären, nach mancher Ansicht bereits faschistischen Entwicklung wächst der Druck auf die BHH und die HDP, sich auf gemeinsame Kandidaturen zu verständigen, möglichst alle Kräfte zu bündeln und frühzeitig eine gemeinsame Basis für die absehbare Zuspitzung zu bilden. Die Pluralität an Positionen und Akteuren inmitten militärischer Konflikte machen eine Einheit der Linken jedoch zu einem komplizierten Drahtseilakt.

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[1] www.bumko.gov.tr/TR,147/ekonomik-gostergeler.html
[2] www.sendika.org/2015/02/2014te-ekonomi-dis-sorunlar-korkut-boratav
[3] Rat für Arbeitergesundheit und Arbeitsplatzsicherheit, www.guvenlicalisma.org vom 02.11.2014.
[4] Umrechnungsgrundlage Devisenkurs vom 17. Februar 2015: 1,00 Euro = 2,80 TL.
www.radikal.com.tr/politika/iste_ak_partinin_sosyal_yardim_gercegi-1260849
Laut der staatlichen Statistikbehörde TUIK sollen 2013 zusammen mit Leistungen der „Grünen Karte“ an rund 13 Millionen Einzelpersonen 7,14 Milliarden Euro als „Sozialhilfe“ ausgezahlt worden sein. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass diese Daten nicht als besonders verlässlich gelten. Sie sind lückenhaft und basieren oftmals auf Hochrechnungen.
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*Der Artikel erschien zuerst in Zeitschrift Sozialismus, Heft Nr. 3 - März 2015. www.sozialismus.de