Angesichts der autoritären Entwicklung unter der
AKP-Regierung wächst die Sorge, dass die Parlamentswahlen im Juni einen Point
of no Return markieren könnten. Während die etablierten Oppositionsparteien
keine Alternative zum autoritären Neoliberalismus vorbringen, wird ein
Bündnis linker Gruppen zunehmend als Notwendigkeit thematisiert.
Zu den Parlamentswahlen im Juni 2015 tritt die AKP
als etablierte Partei an, die inzwischen alle zentralen Institutionen besetzt
hat. Obwohl ihre expansive Phase der Vergangenheit angehört und einzelne
Abspaltungen die Partei zeitweise geschwächt haben, ist der gesellschaftliche Konsens
hinter ihrer Politik stabil. Nun strebt sie eine 3/5-Mehrheit an, um das
faktisch bereits betriebene Präsidialsystem per Referendum zur Abstimmung
vorzulegen. Zwar hat der Aufstand im Juni 2013 ihr demokratisches Image
unwiederbringlich beschädigt. An diesem Punkt hält sich die Partei des
politischen Islam jedoch nicht mehr auf. Inzwischen wird zusammen mit der
parlamentarischen Demokratie auch die republikanische Verfassung mit
staatsbürgerlichen Rechten - insbesondere Frauen- und Arbeiterrechte – offen zur
Disposition gestellt.
Angesichts dieser Entwicklung wächst im linken
Spektrum die Sorge, dass die kommende Wahl einen Point of no Return markieren könnte. Die Frage, ob die AKP es sich
angesichts mannigfaltiger Korruptionsfälle, eklatanter Rechtsbrüche und systematischer
Verletzung der Gewaltenteilung noch erlauben kann, eine Wahl zu verlieren, hat
bereits jetzt ihre Berechtigung. Mit einer 3/5-Mehrheit hätte sie jedoch freie
Fahrt. So wird die Bündelung aller Kräfte, um geeint
in die bevorstehenden Auseinandersetzungen zu gehen, zunehmend als
Notwendigkeit thematisiert. Zumal zum ersten Mal seit den 1970er Jahren
der Einzug eines unabhängigen linken Wahlbündnisses ins Parlament möglich erscheint.
Die bürgerlichen Oppositionsparteien stellen dagegen
keine Alternative zum autoritären Neoliberalismus dar. Im Zweifelsfall meiden
sie eine scharfe Konfrontation mit der AKP und entscheiden sich für ein
Arrangement.
Die hundertjährige Klammer
In den kommenden Wahlen tritt die AKP zum ersten Mal
unter der Führung des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu an. Als Chefideologe
des Neo-Osmanismus proklamiert dieser die Schließung der hundertjährigen
Klammer. Gemeint sind die Komplettierung der Islamisierung im Innern und die Wiedergewinnung
des mit dem Ersten Weltkrieg verlorenen Einflusses auf die osmanischen
Protektorate im Nahen Osten und in Nord-Afrika.
Den Marsch durch die Institutionen hat der
politische Islam inzwischen fast abgeschlossen. Die als Demokratisierung
ausgegebene Bekämpfung oppositioneller Machtzentren in den Justizapparaten und
der Armee überdeckte lange Zeit, dass die AKP in erster Linie einen Austausch
des bürokratischen Personals organisierte. Die politische Stoßrichtung des Militärputschs
von 1980 – eine autoritäre Absicherung der kapitalistischen Akkumulation neoliberaler
Prägung – baute sie dagegen konsequent aus. Unterdessen erhob sie den
konservativen Islam – ausgerichtet an einer von der mächtigen Religionsbehörde
vorgegebenen Interpretation der sunnitischen Konfession - Schritt für Schritt
zum neuen kulturellen Leitbild, das sich heute wie ein Panzer um die kapitalistische
Expansionsdynamik legt.
Tragische Folgen hatte diese Entwicklung für die
säkulare und republikanische Bevölkerung, für die Linke und - durch die
desaströsen „Arbeitsunfälle“ immer wieder offengelegt - für die große Masse der
Werktätigen, sowie für Frauen, die den verschiedenen Facetten von Gewalt unter
dem Druck des konservativen Frauenbilds ausgesetzt sind. Die als
Demokratisierung begrüßte Dynamik bedeutete in Wahrheit nichts anderes als die
Re-Formierung der Gesellschaft unter der Kontrolle des politischen Islam.
Seit einiger Zeit ist nun offen die Rede von einer „islamischen
Revolution“ oder einer „hundertjährigen Säuberung“. In der Denktradition Samuel
Huntingtons stellt Davutoğlu der „westlichen“ die „islamische Zivilisation“
gegenüber. Deren Träger soll eine neue islamische Elite sein. Unterstrichen
wird dieses Ansinnen durch eine Vielzahl an Maßnahmen, allen voran die
Konfessionalisierung von Erziehung und Bildung. Ein Beispiel mag den erreichten
Stand illustrieren: Die Zahl der Gymnasien mit religiösem Schwerpunkt, die eine
intensive Ausbildung in Theorie und Praxis des sunnitischen Islam und die
arabische Sprache vermitteln, hat sich in zehn Jahren verdoppelt. Die aktuell
knapp 700.000 eingeschriebenen GymnasiastInnen an diesen Schulen bedeuten eine
Steigerung um 50% im Vergleich zum Vorjahr.
Während der Konformitätsdruck sich bei religiösen
Ritualen wie dem Fasten an Ramadan Bahn bricht - wehe dem, der nicht fastet -,
bestimmt das religiöse Bekenntnis immer stärker den Alltag. Schon so kleine
Zeichen wie der gewöhnliche Gruß „Merhaba“ (Hallo) anstelle des religiös
konnotierten Pendants „Selamün Aleyküm“ (etwa: Friede/Gott sei mit dir) können
sich zu einem Nachteil bei der Verfolgung alltäglicher Geschäfte entwickeln,
sei es beim Einkaufen auf dem Markt, der Suche nach einer Arbeitsstelle oder
dem Gang aufs Amt, um bestimmte Gefälligkeiten zu erwirken oder Hilfen zu
erhalten. Es ist diese materielle Anbindung der Religion, die sie so attraktiv
und zugleich repressiv macht, indem sie zur Anpassung zwingt.
Die Präsidentschaft Tayyip Erdoğans, der in seinem
neuen Präsidentenpalast ein Schattenkabinett parallel zur eigentlichen
Regierung unterhält, wird in der islamistischen Presse als Fanal gedeutet. Die
Einheit von Staat und Volk, so die verbreitete Vorstellung, sei auf allen
Ebenen wiederhergestellt worden. Das gläubige Volk habe sein gläubiges
Oberhaupt gefunden. Diese über kulturelle Werte imaginierte Identität zwischen
dem Herrscher und seinem Volk, im konservativ-liberalen Lager auch als
„Volksnähe“ oder „Authentizität“ idealisiert, bildet die ideologische Grundlage
für das Präsidialsystem, das der AKP vorschwebt.
Eine
blühende Wirtschaftsmacht
Der neo-osmanische Prunk und der Personenkult um
Erdoğan überspielen derweil die strukturellen Dynamiken. Erdoğan steht im
Vordergrund, weil seine Popularität Mehrheiten sichert. Im Hintergrund stehen jedoch
die Unternehmernetzwerke, die den Aufstieg des politischen Islam begleiten und
die Partei tragen. „Die neue Türkei wird nicht allein ein Werk der AKP, sondern
ein Werk von Stiftungen und Organisationen wie MÜSİAD sein“, so Erdoğan vor dem
Unternehmerverband über den politisch-ökonomischen Zusammenhang.
Während neben MÜSIAD weitere Unternehmerverbände
ihre Unterstützung für den Übergang in ein Präsidialsystem signalisieren,
äußert sich der Unternehmerverband TÜSIAD, der die mit Abstand
kapitalkräftigsten und am stärksten mit dem trans-atlantischen Kapital
verflochtenen Konzerne repräsentiert, skeptisch. Diese Konzerne profitierten
zwar mehr als alle anderen Unternehmen von der neoliberalen Politik. Es ist
jedoch kein Geheimnis, dass sie auf der Suche nach einer politischen
Alternative zur AKP sind, schon weil einzelne Mitglieder des Verbands von staatlichen
(Steuer-)Behörden massiv unter Druck gesetzt werden konnten und nicht alle
großen Ausschreibungen zu ihren Gunsten verliefen.
Die seit einiger Zeit kritischen Stimmen aus der EU
und den USA stehen auch in Verbindung mit der Befürchtung, dass ein Präsidialsystem
die Möglichkeiten der Einflussnahme der mit ihnen assoziierten Unternehmen auf politische
Entscheidungen einengt. So attackiert der Präsident Erdoğan bereits jetzt hartnäckig
die formal unabhängige Zentralbank, damit diese die Leitzinsen senkt und die
Bauindustrie und der Konsum wieder angekurbelt werden können. Dabei befindet
sich die Zentralbank in einer Zwickmühle. Senkt sie die erst vor gut einem Jahr
drastisch erhöhten Leitzinsen, könnte es zu einer weiteren Abwertung der
türkischen Lira kommen, womit auch die Rückzahlungsschwierigkeiten von Privatunternehmen
mit hoher Auslandsverschuldung verschärft würden. Belässt sie die Leitzinsen
auf dem jetzigen Niveau wird das über Kredite finanzierte Wachstumsmodell
weiter ausgebremst (Tabelle 1).
Tabelle 1: Wirtschaftsdaten Türkei [1]
2005
|
2007
|
2009
|
2011
|
2013
|
2014
|
|
BIP Wachstum (Mrd. $)
|
481
|
649
|
617
|
774
|
822
|
810
|
Wachstum (%)
|
8,4
|
4,7
|
-4,8
|
8,8
|
4,1
|
3,3
|
Inflation (%)
|
7,7
|
8,4
|
6,5
|
10,5
|
7,4
|
8,2
|
Export (Mrd. $)
|
74
|
107
|
102
|
135
|
152
|
161
|
Import (Mrd. $)
|
117
|
170
|
141
|
241
|
252
|
244
|
Handelsdefizit (Mrd.
$)
|
-43
|
-63
|
-39
|
-106
|
-100
|
-84
|
Inlandsschulden (Mrd.
$)
|
182
|
219
|
219
|
193
|
189
|
|
Auslandsschulden
(Mrd. $)
|
65
|
67
|
74
|
79
|
86
|
|
Arbeitslosigkeit (%)
|
9,5
|
9,2
|
13,1
|
9,1
|
9,0
|
9,0
|
Dabei steht das Modell permanent am Rande einer
Krise, deren potentielle Wucht mit der Zeit zunimmt. Kritische Ökonomen warnen
schon länger, dass der Traum von einer Wirtschaftsmacht im Kern eine gewaltige
Blase ist, die auf Pump finanziert wird. Bislang haben die expansive
Geldpolitik in den USA und der EU die Fortführung ermöglicht. Trotz hohem
Risiko fließt weiterhin Finanzkapital in die Türkei und die Verschuldung der
Privatunternehmen und -haushalte nimmt zu (Tabelle 2).
Tabelle 2: Schuldenquoten (%) [2]
2007
|
2008
|
2009
|
2010
|
2011
|
2012
|
2013
|
2014
|
|
Auslandsschulden/
BIP
|
38,6
|
37,9
|
43,6
|
39,9
|
39,3
|
43,0
|
47,5
|
48,8
|
Kurzfristige
Auslandsschulden/
Auslandsschulden
|
17,2
|
18,7
|
18,2
|
26,5
|
26,9
|
29,7
|
33,2
|
33,2
|
Kurzfristige
Auslandsschulden/
Devisenreserven
|
58,9
|
74,0
|
69,3
|
95,8
|
104,3
|
101,3
|
116,4
|
116,5
|
Eine scharfe Kritik an der AKP ist aus
Unternehmerkreisen jedoch trotz Unstimmigkeiten nicht zu hören. Die Partei garantiert
insgesamt eine investorenfreundliche Politik und vor allen Dingen den Erhalt
des gesellschaftlichen Konsens in der Arbeiterschaft. Anfang des Jahres
begründete die Regierung das Verbot eines lange angekündigten Streiks in der
Metallbranche mit der „Nationalen Sicherheit“. Eine breite Solidarisierung mit
den Metallarbeitern blieb aus. Der Vorgang ist beispielhaft, denn bislang hat
die AKP den Unmut gegenüber Arbeitsbedingungen und anderen kapitalistischen Verwerfungen
fast immer in den Griff bekommen, bevor er anwachsen konnte. In der von ihr
geförderten religiösen Konjunktur gilt Abtreibung als Mord und Verrat am
Wachstum der Nation, während Mord als Schicksal bezeichnet wird, wie regelmäßig
bei tödlichen Arbeitsunfällen wegen unzureichender Sicherheitsvorkehrungen zu
vernehmen ist (Tabelle 3).
Tabelle 3: Arbeitsunfälle mit Todesfolge [3]
Jahr
|
Todesfälle
|
Jahr
|
Todesfälle
|
|
2003
|
811
|
2010
|
1.454
|
|
2004
|
843
|
2011
|
1.710
|
|
2005
|
1.096
|
2012
|
878
|
|
2006
|
1.601
|
2013
|
1.235
|
|
2007
|
1.044
|
2014
(bis November)
|
1.600
|
|
2008
|
866
|
|||
2009
|
1.171
|
Gesamt
|
14.309
|
Zumal extreme Arbeitsbedingungen, reproduktionspolitische
Anpassungen, Vertreibung aus Wohnvierteln und massive ökologische Zerstörung
durch riesige Infrastrukturprojekte für große Teile der Bevölkerung hinter das
Versprechen eines sozialen Aufstiegs zurück treten. In der breiten Wahrnehmung ist
die Aussicht auf den Aufstieg an die AKP gekoppelt. Selbst die Offenlegung
individueller Bereicherung durch Korruption oder solche Desaster wie das
Grubenunglück in Soma mit über 300 Toten, die die Kehrseite des Fortschritts
aufzeigen, stören diese Wahrnehmung kaum. Wenn es doch zu Protesten kommt,
werden Methoden der Aufstandsbekämpfung angewendet. So steht mit der Verabschiedung
eines neuen Gesetzespakets zur „Inneren Sicherheit“, das die Befugnisse der
Polizei erweitert und das Versammlungsrecht einschränkt, eine weitere Verschärfung
repressiver Mittel an.
Aufbruch
zu neuen Ufern oder Schiffbruch
Der Autoritarismus und die Islamisierung im Innern sind
eng mit außenpolitischen Zielen verknüpft. Hundert Jahre, so Davutoğlu, dauerte
die gegenseitige Isolation der „Völker“ nach dem Zusammenbruch des Osmanischen
Reichs. Die „Neue Türkei“, so die Sprachregelung, werde diese Isolation
durchbrechen und zusammenführen, was zusammen gehöre. Hinter dieser
„Zusammenführung“ stehen handfeste Interessen. Angestrebt wird die Kontrolle
über Handelswege sowie Teilhabe an den Erdöl- und Erdgasfeldern in der
unmittelbaren Nachbarschaft, die sich in der vergangenen Dekade zu einer
„post-modernen“ Kolonie der Türkei entwickelte. Der Warenexport in die Region,
deren Produktivkräfte weit unterlegen daher leicht zu dominieren sind, stieg
ebenso sprunghaft an wie der Kapitalexport. Zusammengenommen sind dies
ausreichend Gründe für die energiehungrige Türkei, die Region als ihre
Einflusssphäre zu betrachten.
Nachdem die EU-Mitgliedschaft auf unbestimmte Zeit
verschoben wurde, wird die Destabilisierung von Staaten in der Region als neue
äußere Dynamik begrüßt, an der sich die Außenpolitik orientiert. Die
Destabilisierung des Irak durch Unterstützung der irakisch-kurdischen
Autonomiebehörde gegenüber der Zentralregierung in Bagdad bildet seit Jahren
eine Konstante türkischer Außenpolitik. Daneben leistet die Türkei der
kriegerischen Radikalisierung in der Region Vorschub, indem sie militante
Islamisten zum Sturz der syrischen Regierung unterstützt.
Die Formulierung politischer Projekte in der Türkei
steht zunehmend unter dem Drang, die Märkte und Ressourcen der südlichen
Nachbarstaaten zu erobern. Die Realisierbarkeit der neo-osmanischen
Expansionsstrategie ist allerdings überaus fraglich. In Nord-Afrika ist die
Türkei inzwischen in die politische Bedeutungslosigkeit abgerutscht und der
Krieg in Syrien hat nicht den erhofften schnellen Sieg gebracht. Im Gegenteil,
in Nord-Syrien hat sich die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einen
neuen Handlungsspielraum erkämpft, während das von ihr gestützte
syrisch-kurdische Autonomiemodell Rojava sich dem Zugriff der Türkei entzieht.
Doch trotz solcher Misserfolge stellt sich die Frage,
wie die enge Verflechtung mit der Dynamik in der Region auf die Türkei zurückwirkt.
Während die Türkei ein Transitland für Islamisten aus der ganzen Welt geworden
ist und türkische Staatsbürger auf Seiten islamistischer Organisationen
kämpfen, organisieren sich militante Islamisten auch in der Türkei und halten
Versammlungen ab. Das Zusammenkommen der „islamischen Revolution“ im Innern mit
der militanten islamistischen Dynamik lässt jedenfalls eine konfessionelle Zuspitzung
des konservativen Islam erwarten. Die Mobilisierung bewaffneter
islamistisch-nationalistischer Kräfte gegen die Massenproteste in den kurdischen
Regionen der Türkei zu Beginn des Kampfs um die syrisch-kurdische Enklave
Kobanê im Oktober 2014 kann als Vorgeschmack auf den zukünftigen Umgang mit
Protesten und Krisensituationen begriffen werden.
Das
Bürgertum unter neoliberalem Anpassungsdruck
Währenddessen hält der Umbruch in der größten
Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) an. Die Strategie der
rechts-populistischen Öffnung zeitigte bislang jedoch nicht den erhofften
Erfolg. Die Aufstellung eines Islamisten zum Präsidentschaftskandidaten im
vergangenen Sommer gemeinsam mit der faschistischen Nationalen Bewegungspartei
(MHP) entpuppte sich als Flop.
Ob die CHP an diesem Kurs festhält und weiterhin
versucht, durch konservativ-religiöse Anrufung Wählerstimmen von der AKP
loszulösen, wird sich zeigen. Soziale und demokratische Versprechen macht sie
jedenfalls keine, stattdessen grenzen sich Teile ihre Anhängerschaft nach unten
ab. Sie werfen seit langem den Ärmsten der Gesellschaft vor, sie verkauften
ihre Stimmen für einen Sack Kohle und eine Packung Nudeln an die AKP.
Tatsächlich ist die Anzahl der Einzelpersonen, die Hilfen aus öffentlichen
Sozialfonds erhalten, stark gestiegen, nach Schätzungen sind es jährlich 10
Millionen. Da es keinen gesetzlich geregelten Anspruch auf diese Hilfen gibt,
empfinden viele Hilfsempfänger Dankbarkeit gegenüber der regierenden Partei,
deren indirekte Repräsentanten – Provinzgouverneure oder Landräte - den Fonds
vorstehen. Hilfen für Gesundheitskosten, die über die gesetzlich geregelte
„Grüne Karte“ verteilt werden, kommen hinzu (Tabelle 4).
Tabelle 4: „Sozialhilfe“ an Bedürftige [4]
Zahlungsgrund
|
Monatlich (EURO)
|
Einmalig
(EURO)
|
Schwangerschaft
|
10,71
|
---
|
Geburt im Krankenhaus
|
---
|
25,00
|
Gesundheitszuschuss
pro Kind (SchülerIn)
|
16,07
|
---
|
Zuschuss an
bedürftige Studierende
|
71,48
|
4.285,71
|
Zuschuss an Eltern
von Soldaten
|
89,28
|
---
|
Nahrungsmittelzuschuss
|
97,86
|
---
|
Wohnungsgeld
|
113,21
|
---
|
Zuschuss für
Familienangehörige über 65 Jahre
|
46,43
|
---
|
Witwenzuschuss (nur
an Frauen)
|
89,28
|
---
|
Familienzuschuss bei
Behinderung
|
93,21
|
---
|
Heizungsunterstützung
in den Wintermonaten
|
---
|
500 kg Kohle
|
Doch weder die CHP noch die zweite Oppositionspartei
MHP zeigen eine Alternative auf, wie die unter schwierigen Bedingungen lebenden
Familien sich ernähren und über den Winter kommen sollen. Zwischenzeitliche sozial-demokratische
Anwandlungen in der CHP – so deren Vorschlag für eine staatlich finanzierte
Familienversicherung und die Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse –
sind rechts-populistischen Kampagnen gewichen. Die Partei verliert kaum ein
Wort über die Lage der informell, sprich prekär und unter miserablen
Bedingungen beschäftigten Werktätigen. Der sogenannten Stadterneuerung und den
riesigen Infrastrukturprojekten unter dem Diktat kapitalistischer
Verwertungsinteressen steht sie grundsätzlich positiv gegenüber. Die CHP
verspricht so wie die AKP zu sein, nämlich investorenfreundliche neoliberale
Politik zu gestalten.
Die bei den Präsidentschaftswahlen getroffene strategische
Entscheidung, die Auseinandersetzung um Mehrheiten mittels einer kulturpolitischen
Anpassung an den islamischen Konservatismus zu führen und gleichzeitig auf eine
ernstzunehmende sozial-demokratische Agenda zu verzichten, lässt Schlüsse auf
die bestimmenden Triebkräfte zu. Offenbar handelt die Parteispitze unter dem
Druck des mächtigen Verbands TÜSIAD. Dass die USA seit geraumer Zeit die CHP
hofiert, ist ein weiteres Indiz für den Formierungsversuch einer
konkurrenzfähigen neoliberalen Alternative zur AKP. So präsentiert sich das
Projekt CHP als ein von Machtkämpfen in den oberen Etagen der Gesellschaft
dominiertes Unterfangen, der Partei einen populistischen Anstrich zu verpassen.
Politik
der Einheitsfront?
Mit ihrem kulturpolitischen Rechtsruck unter dem
Vorzeichen fraktioneller Konflikte hat die CHP das Schrumpfen ihrer säkularen
Basis in Kauf genommen, derer sie sich mangels politischer Alternativen lange
sicher glaubte. Der für demokratische Versprechen empfänglicheren und kulturell
offeneren CHP-Basis bietet sich inzwischen jedoch eine Alternative an. Infolge des konservativ-islamischen Rechtsrucks innerhalb
des Bürgertums und der sich ausbreitenden Erfahrung, dass die etablierten
Parteien mehr an der Verteidigung von Pfründen als an der Entwicklung einer
Alternative zur AKP interessiert sind, bietet die kommende Wahl zum ersten Mal
seit den 1970er Jahren einem unabhängigen linken-liberalen Bündnis die Chance, als
Partei ins Parlament einzuziehen.
Die Demokratische Partei der Völker (HDP), die aus
einem Zusammenschluss der kurdischen Bewegung mit linken Gruppierungen
hervorgegangen ist, hat angekündigt, nicht wie sonst mit unabhängigen
Kandidaten sondern als Partei zur Wahl anzutreten. Mit einem post-marxistischen
Programm will sie gegen die Zehn-Prozent-Hürde antreten und baut auf die
Mobilisierungsressourcen der kurdischen Bewegung. Falls die Strategie aufgeht,
kann sie mit einer weitaus größeren Anzahl an Abgeordneten ins Parlament
einziehen als bisher, ein Scheitern an der Hürde würde der AKP dagegen
wahrscheinlich den Weg zu einer Mehrheit für die präsidiale Verfassung
eröffnen.
Die HDP übersetzt den Unmut gegenüber Autoritarismus
und polarisierender Politik in einen radikal-demokratischen Diskurs. Im
Mittelpunkt der Emanzipationsziele der HDP stehen die Anerkennung und
Gleichstellung unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse, ethnischer Identitäten
sowie eine an Gleichstellung orientierte Geschlechterpolitik. Dass diese
Orientierung in einer von ethnischen, religiösen und patriarchalen Dynamiken
dominierten Region einen Resonanzboden findet, bestätigt den Trend des
Juni-Aufstands, wonach demokratische Versprechen gepaart mit linken Inhalten
gleichfalls einen Auftrieb erfahren haben.
Inwiefern aus der „radikalen Demokratie“ jedoch mehr
als eine Absichtserklärung und parteiinterne Quotenregelungen werden können und
in welche Richtung die widerspruchsvolle Beziehung zwischen der kurdischen
Bewegung und linken Gruppierungen sich entwickelt, hängt von vielen Faktoren
ab. Zunächst befindet sich die kurdische Bewegung - mit Abstand stärkste Kraft
in der HDP - in einem geheimen Verhandlungsprozess mit der Regierung. Der
Waffenstillstand hält bereits seit über zwei Jahren an und viele politische
Gefangene wurden aus der Untersuchungshaft entlassen. Welche Zugeständnisse zu
welchem Preis gemacht werden, entzieht sich jedoch der Öffentlichkeit. Solange
die Verhandlungen zwischen der PKK und der AKP geheim bleiben, wird die
Glaubwürdigkeit der HDP unter einem dicken Fragezeichen stehen. Noch so viele
Beteuerungen der kurdischen Bewegung, dass sie keinen Kuhhandel mit der AKP
eingehen und beispielsweise im Gegenzug für Hafterleichterungen für Abdullah
Öcalan oder einige kulturelle/sprachliche Freiheiten einem Präsidialsystem
zustimmen werde, können diese Befürchtung nicht entkräften.
Hinzu kommt, dass die kurdische Bewegung
transnational ausgerichtet ist und unterschiedliche soziale Kräfte umfasst. In
ihr organisieren sich auch kurdische Unternehmer oder solche in spe, die die
neo-osmanische Expansionsstrategie mehr oder weniger deutlich begrüßen. Sie
rechnen sich gute Chancen aus, an der Ausbeutung teilzunehmen und sehen
Kurdistan im Länderviereck Türkei, Syrien, Irak und Iran als Knotenpunkt eines
neuen Eldorado. Wenn wiederum der Parteivorsitzende Selahattin Demirtaş an die
Adresse von Industriellen gerichtet dazu aufruft, mehr im kurdischen Südosten
zu investieren, so zeigt sich darin nicht nur der Einfluss solcher Erwartungen
sondern auch, wie unterbestimmt die soziale Perspektive der „radikalen
Demokratie“ ist. Welche besonderen Standortvorteile sollten Investoren in
Kurdistan erhalten? Angesichts der Masse an billigen Arbeitskräften in der
ganzen Türkei können dies nur noch billigere Arbeitskräfte sein oder aber das
Versprechen, die natürlichen Ressourcen ausbeuten zu dürfen. Da solche Ziele
nicht zum Programm der HDP gehören, im Gegenteil in der kurdischen Bewegung
Diskussionen zur Kollektivierung von Ressourcen geführt werden, ist mindestens
rätselhaft, welche Türen Investoren geöffnet werden sollen.
Schließlich formuliert die Partei auch
sozial-politische Ziele wie die Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse
und kostenloser Zugang zu Bildung. Eine Strategie, wie diesen Anliegen
Nachdruck verliehen werden soll, fehlt noch. Ohne ein nachvollziehbares Programm
für die informalisierte und prekarisierte Arbeiterschaft wird es kaum gelingen,
das Wirkungsgefüge der AKP zu durchbrechen, das etliche integrative Mechanismen
umfasst, neben der Austeilung materieller Hilfsleistungen über regierungsnahe
Sozialfonds, die Schaffung konfessioneller Privilegien und die Verteilung der
städtischen Rendite.
Innenpolitisch vor solche Herausforderungen
gestellt, wirkt sich die islamistische Dynamik im Nahen Osten auf die kurdische
Bewegung als stärkste Kraft in der HDP insbesondere durch die Bekämpfung des von
ihr gestützten syrisch-kurdischen Autonomiemodells seitens islamistischer
Milizen aus. Rojava hat sich bislang einer Instrumentalisierung durch den
Westen entzogen und im syrischen Bürgerkrieg politisch weitgehend neutral verhalten.
Doch während des Angriffs des IS auf Kobanê wurden Stimmen aus der kurdischen
Bewegung nach einer insgesamt aktiveren Rolle der NATO im Nahen Osten laut. Eine
mittelbare Einbindung der PKK in US-amerikanisch dominierte Pläne, wonach es zwischenzeitlich
aussah, würde ein Novum darstellen. Wie ein demokratisches Ansinnen unter
linken Vorzeichen mit der Annäherung an die NATO und an das sogenannte Bündnis
der Willigen, darunter auch Saudi-Arabien und Katar, die für das Erstarken des
Islamismus verantwortlich gemacht werden, zusammengehen soll, bleibt hierbei ein
Geheimnis. Zumal unumstritten ist, dass auf alle militärischen Interventionen
unter der Führung der USA ein noch größeres Chaos und Erstarken reaktionärer
Kräfte folgte.
Damit sind auch die Problemstellen eines erweiterten
Bündnisses zwischen der HDP und weiteren linken Kräften angesprochen. Die
Unschlüssigkeit hinsichtlich der Rolle von Investoren und der NATO bilden zentrale
Kritikpunkte linker Parteien und Initiativen, die sich in Abwehrkämpfen
gegenüber dem neoliberalen Ausbeutungskomplex befinden und imperialistische
Interventionen im Nahen Osten ablehnen. So formiert sich links von der HDP derzeit
eine neue oppositionelle Plattform, die sich in Anlehnung an den Juni-Aufstand
Vereinigte Juni Bewegung (BHH) nennt. Wie dauerhaft das lose Bündnis aus linken
Sozialdemokraten, Kommunisten und Sozialisten unterschiedlicher Provenienz ist
und welche Wahlstrategie sie verfolgen wird, ist offen und ihre
Mobilisierungskraft ungewiss. Eine Annäherung an die CHP ist ebenso im Gespräch
wie an die HDP. Zwar steht die BHH den liberalen Tendenzen in der HDP als auch
deren Avancen gegenüber den USA sehr kritisch gegenüber, doch angesichts der
autoritären, nach mancher Ansicht bereits faschistischen Entwicklung wächst der
Druck auf die BHH und die HDP, sich auf gemeinsame Kandidaturen zu verständigen,
möglichst alle Kräfte zu bündeln und frühzeitig eine gemeinsame Basis für die
absehbare Zuspitzung zu bilden. Die Pluralität an Positionen und Akteuren inmitten
militärischer Konflikte machen eine Einheit der Linken jedoch zu einem
komplizierten Drahtseilakt.
_____________________________
[1] www.bumko.gov.tr/TR,147/ekonomik-gostergeler.html
[2]
www.sendika.org/2015/02/2014te-ekonomi-dis-sorunlar-korkut-boratav
[3]
Rat für Arbeitergesundheit und Arbeitsplatzsicherheit, www.guvenlicalisma.org
vom 02.11.2014.
[4]
Umrechnungsgrundlage Devisenkurs vom 17. Februar 2015: 1,00 Euro = 2,80 TL.
www.radikal.com.tr/politika/iste_ak_partinin_sosyal_yardim_gercegi-1260849
Laut der
staatlichen Statistikbehörde TUIK sollen 2013 zusammen mit Leistungen der
„Grünen Karte“ an rund 13 Millionen Einzelpersonen 7,14 Milliarden Euro als „Sozialhilfe“
ausgezahlt worden sein. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass diese Daten
nicht als besonders verlässlich gelten. Sie sind lückenhaft und basieren
oftmals auf Hochrechnungen.
______________________________
*Der Artikel erschien zuerst in Zeitschrift
Sozialismus, Heft Nr. 3 - März 2015. www.sozialismus.de