Von
Ismail Doğa Karatepe
Es scheint, als sei Erdoğan
persönlich der Autor aller kulturellen, politischen und ökonomischen
Entwicklungen in der Türkei. Die Rhetorik kaschiert die politisch-wirtschaftlichen
Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei und öffnet den Raum für die
deutsche Rechte.
In den letzten Jahren ist es in
Deutschland sehr schwer geworden, eine Zeitung oder einen Nachrichtensender zu
finden, in dem nicht das Konterfei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdoğan abgebildet ist. Indes hat sich die Darstellung von Erdoğan über die
Zeit stark verändert. Während er bis vor wenigen Jahren noch als Streiter für
die Demokratie im gesamten Nahen Osten galt und jeder seiner Schritte gegen
politische Gegner als Teil eines demokratischen Prozesses gelobt wurde, hat
sein Konterfei jetzt neben den Bildern des nordkoreanischen Diktators Kim
Jong-un einen Platz. Alles, was er unternimmt, ist nun verdächtig. Und die
aggressivsten Fotos von ihm werden speziell für die Schlagzeilen ausgewählt.
Für linke wie für rechte Medien ist
Erdoğan zum Inbegriff des Bösen geworden. Der Tenor: Eine Türkei ohne ihn könne
eine bessere Türkei sein. Es scheint, als sei Erdoğan persönlich der Autor
aller kulturellen, politischen und ökonomischen Entwicklungen in der Türkei.
Aus dem Blickfeld gerät dabei, dass die Gesellschaft insgesamt immer mehr nach
rechts rückt, dass die staatlichen Institutionen sich von Grund auf verändern,
dass die patriarchal geprägten Institutionen Frauen das Leben immer schwerer
machen. Die Produktionsverhältnisse in der Türkei und weitere strukturelle und
institutionelle Elemente geraten in den Hintergrund.
Erdoğan und sein Team sind heute
zweifellos die wichtigsten Akteure auf der politischen Landkarte und in der
symbolischen Ordnung der Türkei. Der herrschaftliche Palast in Ankara, in dem
er residiert, steht mittlerweile an der Spitze der Hierarchie der staatlichen
Institutionen. Doch ist die quasi-göttliche Allmacht, die der deutsche Diskurs
Erdoğan zuschreibt, theoretisch unzureichend erfasst. Sie findet auch in der
tatsächlichen Politik keine Entsprechung. Nur ist das kein naiver theoretischer
Fehler. Im Gegenteil wäre es naiv, das zu glauben. Vielmehr dient der Diskurs
zu Erdoğan selbst als Ideologie. Im Folgenden geht es um die Grundlagen dieser
Ideologie.
Das
deutsch-türkische Wirtschaftsgeflecht
Die wirtschaftlichen Verflechtungen
zwischen der Türkei und Deutschland haben in den letzten 70 Jahren ein Muster
entwickelt, das beinahe ein Beispiel für internationale Ökonomielehrbücher sein
könnte. Während Deutschland Kapital und kapitalintensive Produkte in die Türkei
exportiert, exportiert die Türkei Arbeitskräfte und arbeitsintensive Produkte
nach Deutschland. Dieses Muster wurde in der AKP-Periode nicht unterbrochen.
Nur an einem Punkt hat es sich verändert: Seit die islamistische Partei im November
2002 die türkischen Parlamentswahlen gewann, kooperieren deutsche Unternehmen
zunehmend auch mit der Geschäftswelt, die der AKP nahesteht.
Eine solche Veränderung ist nicht
überraschend. Die AKP nimmt großen Einfluss auf die Geschäftswelt, mit der sie auch
personell verflochten ist. Die Partei wird – trotz oder wegen ihrer
islamistischen Kader – von einer großen Mehrheit der Unternehmer unterstützt.
Dies wirkt sich auch auf internationale Kooperationen aus, wie es sich anhand
der jüngeren Partnerschaft zwischen Kalyon Construction und Siemens
veranschaulichen lässt.
Die Aufstiegsgeschichte von Kalyon,
die Mitte der 1990er Jahre begann, wurde vorläufig dadurch gekrönt, dass ein
gemeinsam mit Siemens gegründetes Konsortium die Ausschreibung für einen Windenergievertrag
gewann. Der Zuschlag wurde im August 2017 vergeben und sieht Investitionen von
rund 1 Mrd. US-Dollar vor. Mit dieser Investition kann, so wird berichtet, der
Strombedarf von mehr als einer Million Haushalte gedeckt werden. Die Details
werden zwar nicht bekannt gegeben, aber wir können mit Blick auf das
Investitionsvolumen und das notwendige Know-how davon ausgehen, dass Siemens
der gewichtigere Partner ist. Mit mehr als 98 Mrd. Dollar Umsatz, über 350.000
Beschäftigten und dem technologischen Know-how wird Siemens die Hauptsäule
dieses Konsortiums bilden.
Zum Hintergrund von Kalyon: Die
Wohlfahrtspartei (RP), in deren Erbe die AKP steht, gewinnt 1994 die
Kommunalwahlen in den Metropolen Ankara und Istanbul. Erdoğan wird zum
Oberbürgermeister von Istanbul gewählt. In der Folge wird das kommunale
Wirtschaftsunternehmen KİPTAŞ umstrukturiert und neu in Betrieb genommen.
KİPTAŞ geht auf das Unternehmen İMAR WEIDLEPLAN zurück, das 1987 zusammen mit
einer Firma mit Sitz in Deutschland gegründet worden war. Bis zum Sieg der RP
im Jahr 1994 blieb es allerdings untätig.
Die erste Aufgabe der Firma, nun von
den Islamisten in Betrieb genommen, war die Ausschreibung eines
50.000-Wohnungen-Projektes, bekannt geworden als Başak-Hilal-Projekt. Der
damalige Kleinunternehmer Kalyon gewinnt den Zuschlag für dieses Projekt, sein
steiler Aufstieg nimmt hier seinen Lauf. Seither sind meist umstrittene
Großprojekte in Istanbul (Bakırköy Justizpalast, Metrobus Linienbau, Taksim
Pedestrianization Project, der dritte Flughafen) allesamt von Kalyon
unterzeichnet worden. Natürlich zeigte man sich erkenntlich: Kalyon
unterstützte die AKP und Erdoğan nicht nur durch Spenden und Gründung von
islamistischen Stiftungen, sondern auch durch den Kauf von Medienunternehmen.
Nun kooperiert Kalyon also auch mit
einer der größten deutschen Kapitalgruppen. Doch der Mainstream-Diskurs in
Deutschland, der ständig bloß Erdoğan ins Visier nimmt, macht sich kaum
Gedanken über die enge Kooperation zwischen dem deutschen Kapital und türkischen
Kapitalgruppen, die die AKP massiv unterstützen. Obwohl diese Kooperation, die
dem deutschen Kapital Spielräume und Zugänge zu profitablen Geschäften
ermöglicht, weiterbesteht, wird so getan, als agiere Erdoğan hiervon völlig
unabhängig. Im Ergebnis verdeckt ein solcher Diskurs die tatkräftige Mitwirkung
deutscher Akteure an der Stabilisierung derjenigen Beziehungen, auf denen
Erdoğans politische Macht gegründet ist.
Erdoğan-Diskurs
und die neue Rechte in Deutschland
Erdoğan derart in den Mittelpunkt zu
stellen, ignoriert nicht nur die rechte Dynamik in der Türkei, es spielt auch
rechten Kräften in Deutschland in die Hände. Der gesellschaftliche Ruck nach
rechts in der Türkei und der autoritäre Regierungsstil werden mit
orientalistischen Begriffen belegt. In Abgrenzung zum „Osten“ wird der „Westen“
konstruiert. In dieser angstbesetzten Fiktion muss das Abendland vor dem Sultan
Erdoğan und seinen Heerscharen, vor „den“ Türken geschützt werden.
Betrachtet man beispielsweise die
Berichterstattung über die Türkei in der Zeitschrift Compact, die sich in
politischer Nähe zur AfD befindet, offenbart sich das fatale Ausmaß des
personalisierenden Erdoğan-Diskurses. Eine der Ausgaben der Zeitschrift zu
Erdoğan und zur Türkei trägt den Titel „Kalifat BRD - Feindliche Übernahme
durch Erdoğan & Co.“ Eine andere titelt: „Erdoğan-Umsturz in Deutschland?“
Es genügt, weitere Titel aufzulisten, um eine Vorstellung von der rassistischen Dimension zu
bekommen, mit der der Erdoğan-Diskurs in Deutschland verknüpft ist:
„Türkenaufstand in Deutschland? Erdoğans Bürgerkriegs-Truppen”; „Döner, Mord
und Propaganda: Die Destabilisierung Deutschlands”; „Osmanische Armee-Fraktion
– Deutschland unterm Halbmond”; „Kriminelle Türken wollen Deutschland
übernehmen”; „Kalifat BRD – 63% wählten Erdoğans Diktatur“, womit die
Ja-Stimmen für die AKP und Erdoğan beim Verfassungsreferendum im April 2017 gemeint sind.
Dabei haben die meisten Akteure des
Erdoğan-Diskurses keine grundsätzlichen Einwände gegen Diktatur, Autoritarismus
oder eine rechte/religiöse Gesellschaft. Eines der offensichtlichsten Anzeichen
dafür ist die Haltung wichtiger politischer und militärischer Kräfte in
Deutschland zum Putschversuch am 15. Juli 2016. Die Autoren des Putsches wurden
in Schutz genommen. Alle Erklärungen waren darauf gerichtet, die Urheberschaft
zu verbergen. Dabei waren der Putschversuch selbst sowie die Ereignisse davor
und danach offensichtlich Ausdruck eines Machtkampfes zweier mittlerweile
verfeindeter islamistischer Gruppen (Gülen-Bewegung versus Erdoğan-Team).
Viele der Akteure, die den
Erdoğan-Diskurs reproduzieren, unterscheiden sich in ihren Vorstellungen über
die Stärke und Entwicklung Deutschlands nicht wirklich von Erdoğans Fantasien
zur Türkei. Die weit verbreitete Verwendung rechter und religiöser Symbole, die
Anbetung von Wirtschaftswachstum, die Ausweitung patriarchaler Institutionen,
eine Umverteilungspolitik zugunsten des Kapitals sind programmatische
Gemeinsamkeiten beider Seiten.
Aber der vielleicht tragischste
Aspekt ist, dass sich auch außerhalb rechter Kreise in Deutschland
orientalistische Figuren breit machen. Der Sultan, der Kalif oder der Despot
sind zu beliebten Bildern im politischen Sprachgebrauch geworden. Wie stark
diese Bilder den Orientalismus und den latenten Rassismus, den er
transportiert, prägen, ist vergessen. Der personalisierende Diskurs eliminiert
Elemente von befreiender Herrschaftskritik und lässt die Grenzen zwischen den
politischen Lagern verschwimmen.
Schluss
Als die Redaktion des „Infobrief
Türkei“ erstmals zusammenkam und 2012 mit der Produktion von Artikeln begann,
entwickelte sich eine kritische Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungsmustern
zur Türkei in Deutschland. Damals ging es um die vermeintliche Demokratisierung
des Landes, das angebliche Ende des kemalistischen Bevormundungsregimes und die
hochgelobte Annäherung der Türkei an die Europäische Union. Wir entwickelten
demgegenüber eine analytische Betrachtungsweise, die zutreffende Prognosen
liefern konnte.
Sicherlich ist Erdoğan ein
bedeutender politischer Akteur mit einem nicht zu unterschätzenden Anteil an
der Transformation, die die Türkei in den letzten 15 Jahren durchlaufen hat.
Der fatale Fehler ist aber, die fundamentalen Veränderungen allein ihm
zuzuschreiben. Eine solche Rhetorik liefert theoretisch und empirisch
inkonsistente Ergebnisse, kaschiert die langjährigen und intensiven
politisch-wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei
und öffnet einen gefährlichen Raum für die deutsche Rechte.
Die Kritik an Erdoğan muss die
institutionellen und strukturellen Aspekte seiner Macht genau analysieren. Das
ist keine rein akademische Anstrengung. Sie wird auch politisch zu einem
gründlicheren Verständnis der Entwicklungen in der Türkei und speziell der AKP
beitragen. Nicht zuletzt liefert eine derart fundierte Kritik die Instrumente
für die Analyse des gesellschaftlichen Schubs nach rechts auch hierzulande.