Donnerstag, 14. April 2016

Presse- und Meinungs(un)freiheit in der Türkei

Von Fitnat Tezerdi

Um die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei ist es extrem schlecht bestellt. Wirtschaftliche Interessen, Zwangs(ver-)kauf von Agenturen, Sendern und Zeitungen sowie Erzwingung regierungskonformer Berichterstattung charakterisieren das Feld. Kritik kostet den Job und die Karriere, führt nicht selten ins Gefängnis.


Die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei ist beileibe kein neues Thema. Doch zeigen die jüngsten Ereignisse, wie groß der Betroffenenkreis inzwischen geworden ist. Die Verhaftung der Journalisten Can Dündar und Erdem Gül, die Stürmung der Redaktion der Zeitung Zaman, die der Gülen-Bewegung nahesteht, oder die öffentliche Entschuldigung des Showmans Beyazıt Öztürk, weil er auf einen Zuschaueranruf empathisch reagiert hat, sind die bekannteren Fälle.

Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit gab es en masse: Die Büros und Wahlstände der kurdisch-linksliberalen HDP (Demokratische Partei der Völker) wurden vor den Wahlen im Juni 2015 etwa siebzig Mal gezielt zerstört. Wütende AKP-Anhänger randalierten mehrfach vor dem Gebäude der Zeitung Hürriyet. Berühmt sind auch die regelmäßigen Sperren von Twitter, Facebook, Youtube und anderen Webseiten durch die Regierung. Solche pauschalen Sperren werden heute ergänzt durch ereignisbezogene Nachrichtensperren, insbesondere nach Bombenanschlägen, die eine unabhängige Information der Bevölkerung nahezu unmöglich machen.

Der offensichtliche Druck

Der Druck ist allgegenwärtig. Als die Lehrerin Ayşe Çelik, bei der populären Livesendung Beyaz Show als Zuschauerin per Telefon zugeschaltet, die Regierung für den Tod unschuldiger Zivilisten im Osten verantwortlich machte und Frieden forderte, war sie anschließend öffentlichen Anschuldigungen ausgesetzt, sie sei eine Terroristin und PKK-Anhängerin. Aus ihren Aussagen ging zwar keineswegs hervor, dass sie der PKK nahe stehen könnte. Doch ist dies in Zeiten, in denen alles außer bedingungsloser Unterstützung der Regierung zu Terrorismus erklärt wird, offensichtlich egal. Die anschließende öffentliche Entschuldigung des Showmasters und seine Beteuerung, dass er der patriotische Sohn eines Polizisten sei, zeigt die Tragweite der medialen Unterdrückung. Gegen Öztürk und die Zuschauerin wird nun wegen Terrorpropaganda ermittelt.

Das ist übrigens nicht das erste Mal, dass ein Moderator einen Rückzieher machen musste. Ein weiterer berühmter Showmaster, Okan Bayülgen, war zuerst aktiver Befürworter der Juni-Revolte und setzte dann die Bewegung mit den Worten herab: „Die jungen Leute hatten keine Aktivitäten wie Kino, Theater oder Sportstudios […] zur Auswahl. So entdeckten sie die Aufregung auf den Straßen. Dasselbe wäre bei schlechtem Wetter nicht passiert.“

Staatspräsident gegen Verfassungsgericht

Weltweite Aufmerksamkeit erlangte das Los von Can Dündar und Erdem Gül. Spionage und Umsturzversuch gegen die Regierung wurde den Journalisten von der für Terrordelikte zuständigen Staatsanwaltschaft in Istanbul vorgeworfen. Sie sollen Staatsgeheimnisse verraten haben.

Dündar und Güls Zeitung Cumhuriyet hatte Ende Mai 2015 Indizien vorgelegt, die auf eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen an islamistische Fundamentalisten in Syrien deuteten. Die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens gegen die Journalisten wurde von Oppositionellen als ein Eingeständnis der Waffenlieferungen durch die Regierung ausgelegt. Verstärkt wurde diese Wahrnehmung durch die persönliche Drohung von Staatspräsident Tayyip Erdoğan, die beiden Journalisten würden einen hohen Preis zahlen. Dündar und Gül verbrachten drei Monate im Gefängnis, bis sie durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts aus der Untersuchungshaft entlassen wurden. Dieser Entscheidung folgte eine weitere Drohung des Staatspräsidenten, diesmal gegen das Verfassungsgericht. Erdoğan stellte die Legitimation des höchsten Gerichts in Frage und versicherte, er werde die Entscheidung weder akzeptieren noch respektieren.

Pressefreiheit in der Türkei? Reporter ohne Grenzen stufte das Land im Jahr 2014 auf Platz 154, hinter dem Irak (Platz 153) und gefolgt von Gambia (Platz 155) [1]. Betrachtet man die Statistiken der letzten 12 Jahre, so rutschte die Türkei zwischen 2004 und 2014 um ganze 56 Ranglistenplätze nach hinten. Während der Gezi-Revolte im Juni 2013 wurden 153 Reporter von Polizisten angegriffen, Ende 2013 waren über 60 Journalisten in Haft. Nicht selten verharren Journalisten mehrere Jahre in Untersuchungshaft und warten auf ihr Urteil. In den 12 Jahren der AKP-Regierung wurden 1863 Journalisten von ihren Arbeitgebern entlassen. Die Dunkelziffer liegt vermutlich weitaus höher. Viele wurden gedrängt, selbst ihre Kündigung einzureichen.

Medienmacht der AKP

Medien wurden von der Regierung oder regierungsnahen Institutionen gezielt beschlagnahmt oder aufgekauft, unliebsame Journalisten mundtot gemacht. Auf diese Weise konnte die AKP ein ihr naturgemäß wohl gesonnenes Medienreich schaffen.

In einem Bericht des Stellvertretenden Vorsitzenden der Oppositionspartei CHP, Veli Ağbaba, und der Abgeordneten Nurettin Güven, Muharrem Işık und Özgür Özel, der in Cumhuriyet Kitapları erschienen ist, wird auf 189 Seiten anhand von 65 Erfahrungsberichten von Journalisten während der 12 Jahre der AKP-Regierung die fehlende Pressefreiheit in der Türkei dokumentiert. Außerdem werden die Neukonfiguration der Medienlandschaft und die Neubesetzung der Medieneigentümer dargelegt. In Kalemi Kırılan Gazeteciler („Journalisten mit gebrochenen Stiften“) berichten Journalisten, welcher Repression und welchen Strapazen sie durch die Regierung ausgesetzt waren, bis sie schließlich entlassen wurden oder im Gefängnis landeten. Darin wird Staatspräsident Erdoğan als der eigentliche Medienboss dargestellt. Sein Sohn Bilal Erdoğan sei der Chefredakteur von acht Zeitungen, die immer dieselben Schlagzeilen produzierten. Die Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı sei die Pressestelle der AKP.

Die TMSF (Savings Deposit Insurance Fund of Turkey), eine staatliche Institution, deren Aufgabe darin besteht, Anleger gegen Korruption und Regelwidrigkeiten zu versichern, sei für die Buchhaltung zuständig. Die Regierung setze die TMSF zur Gleichschaltung der Medien ein. So beschlagnahmte die TMSF zahlreiche Fernseh- und Radiosender und Zeitungen wie Show TV, BMC, Digitürk, Sky 360, Akşam Gazetesi, Alem FM. Das Management dieser Medien wird anschließend von Regierungskommissaren geführt.

In diesen Medienorganen werde die Kooperation der Mitarbeiter für eine regierungskonforme Berichterstattung oft mit Mobbing, Androhung der Kündigung oder zur Frühverrentung aufrechterhalten. Eine der vielen Tonbandaufnahmen, die ins Netz sickerten, zeigt beispielsweise, wie die Regierung direkt in die Berichterstattung des Nachrichtensenders Haberturk intervenierte (Alo Fatih). Weitere Beispiele, die aufzeigen, wie Medien zu regierungsnahen Besitzern wechseln, sind der Kauf der Zeitung Sabah durch den Çalık-Konzern, in dem der Schwiegersohn von Erdoğan und jetzige Energieminister Berat Albayrak leitende Posten besetzt, sowie des Fernsehsenders TV8 durch einen regierungsnahen Showmaster. Dabei wurde nahezu der gesamte Mitarbeiterstab neu besetzt.

Pinguinmedien

Die Berichterstattung in der Türkei korreliert auch mit wirtschaftlichen Interessen. Große Teile der Medien werden von privaten Konzernen kontrolliert, die von der Regierung Großaufträge erhalten (wollen). Mächtige Akteure sind die Doğan-Gruppe und der Çalık-Konzern. Der Doğan-Gruppe gehören u.a. die Tageszeitungen Hürriyet, Radikal, Milliyet, Posta und die Fernsehsender Kanal D, Star TV und CNN-Türk. Dem Çalık-Konzern gehören u.a. die Tageszeitung Sabah und der Fernsehsender ATV.

Beim Bau von Erdöl-Raffinerien in Ceyhan konkurrierten Çalık und Doğan um Lizenzen. Zunächst sollte die Doğan-Gruppe die Lizenz erhalten, doch die AKP vergab sie dem regierungsnahen Çalık-Konzern. Die Doğan-Gruppe brüskierte anschließend die AKP-Regierung, indem sie private Gespräche über Korruption und andere Machenschaften veröffentlichte, die von Unbekannten verbreitet und dadurch publik wurden. Es folgten finanzielle Sanktionen, Strafgebühren in astronomischer Höhe und verbale Angriffe gegen die Doğan-Gruppe.

Auch die Doğuş-Holding, der der Nachrichtensender NTV gehört, wollte ihre wirtschaftlichen Interessen nicht gefährden. Die Holding hatte die Ausschreibung für den Bau und Betrieb des Galataports, des zukünftigen Kreuzfahrtterminals von Istanbul erhalten und hielt sich deshalb während der Gezi-Proteste mit kritischen Berichten zurück. Als der Funke der Juni-Revolte vom Gezi-Park auf die ganze Türkei übersprang, es bereits erste Tote durch Polizeigewalt gab, wurde in den Mainstream-Medien darüber nicht berichtet. Während die Proteste explodierten, strahlte der Nachrichtensender CNN-Türk eine Dokumentation über Pinguine aus. Der Pinguin wurde somit zum Symbol des bewussten Wegschauens der Medienkonzerne.

Diktatur der AKP

Auf die Frage eines Journalisten, ob er ein Diktator sei, antwortete Erdoğan im Oktober 2015, sein Gegenüber hätte diese Frage gar nicht stellen können, wenn er denn tatsächlich einer wäre. Dass Aykut Alp Avşar, Vorsitzender des Jugendverbandes der Vatan Partisi (Vaterlandspartei) in Kayseri, bereits im März 2015 verhaftet worden war, weil er den damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan während der Gezi-Proteste einen Diktator nannte, schien zu diesem Zeitpunkt schon wieder vergessen. Es gibt viele solcher Fälle, wie beispielsweise die juristische Verfolgung des Elektrikers Ersan Taş, der auf Twitter einen Parodie-Account des Bürgermeisters von Ankara, Melih Gökçek, führte. Er bekam die rechtlichen Konsequenzen bis zum finanziellen Ruin zu spüren.

Die selektiven Nachrichten der regierungsnahen Medien, das Verbot der Berichterstattung über heikle Ereignisse und der offensichtlich massive Druck auf Journalisten verdeutlichen, dass es in der Türkei unter der AKP extrem schlecht um die Presse- und Meinungsfreiheit bestellt ist und die damit einhergehende Unfreiheit zunehmend diktatorische Ausmaße annimmt. Jede oppositionelle Kraft wird physisch, finanziell und verbal angegriffen, wie die zahlreichen Beispiele zeigen. Dennoch beharrt Ministerpräsident Davutoğlu darauf, die Pressefreiheit in der Türkei sei garantiert.

Journalisten geben nicht auf

Nichtsdestotrotz: Es gibt weiterhin Journalisten, die auf die Misere aufmerksam machen und gegen Repressalien ankämpfen. So rief die Türkische Gewerkschaft für Journalisten (TGS) gemeinsam mit vielen weiteren journalistischen Verbänden und Gewerkschaften eine Petition mit dem Namen „Wir wollen Freiheit für unsere Berichterstattung“ ins Leben. Auch in dieser Petition wird darauf aufmerksam gemacht, unter welch prekären und existenzbedrohenden Umständen Journalisten derzeit arbeiten müssen: Druck durch die Regierung, Beschäftigung zu Hungerlöhnen, kein Kündigungsschutz, keine soziale Absicherung, kein Schutz in Gefahrensituationen, sondern Bedrängnis und Angriffe durch die Polizei.

Regierungskritische Medien sind in der Türkei rar geworden und zunehmend nur noch im Internet zu finden. Doch die Stellen in alternativen Medien sind schlecht oder gar nicht bezahlt, Sperren der Internetmedien und einzelner Journalisten sind die Regel. Aber es gibt weiterhin Stimmen, die kritisch über die aktuellen Geschehnisse in der Türkei informieren, wie sendika.org, diken.com.tr, imctv.com.tr, gezite.org, dokuz8haber.com, BirGün, siyasihaber.org und viele andere Web-, Facebook- und Twitterseiten.