Dienstag, 1. Dezember 2015

Nicht der Staat, die Staatenlosigkeit hat Tahir Elçi umgebracht

Rede des Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, auf der Begräbniszeremonie für den ermordeten Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakır (Amed), Tahir Elçi:

Möge Gott uns allen ein solch aufrichtiges Leben und einen solch aufrichtigen Tod zuteilwerden lassen. Es ist nicht wichtig, wie wir getötet wurden, sondern wie wir gelebt haben. Wir werden jede Sekunde unseres Lebens in Verbundenheit mit den Werten unseres Volkes verbringen. So sagte es Elçi. Elçi hat bis zur letzten Sekunde seines Lebens den Frieden hochgehalten. Das ist sein Erbe an uns.
Wir haben in unserem Land viel Leid erlebt, Blut und Kriege gesehen. Jeden Tag hatten wir Begräbnisse, vor Leichenhallen sind wir aufgewachsen.
Wir nehmen dies nicht als unser Schicksal hin, eines Tages wird es Frieden in unserem Land geben.
Darauf werden wir beharren. Die letzten Worte von Elçi sind die Fahne des Friedens, die wir weitertragen werden. Wir wollten kein Blutvergießen, keinen Krieg, keinen Tod. Wir wollten frei in unserem Land leben.
Die Wahrheit tut weh, aber jemand muss sie aussprechen. Elçi wusste, dass es nichts bringt, die Wahrheit zu verstecken. Sie auszusprechen, fordert seinen Preis.
Unter allen Bedingungen braucht es Mut, kein Fähnchen im Wind zu sein, es erfordert die Bereitschaft, einen Preis zu zahlen.
Elçi war klar, dass er nicht in seinem Bett sterben würde. Sind wir denn nicht alle in diesem Bewusstsein los gezogen? Damit unsere Kinder und Enkel in ihren Betten in Frieden sterben können, setzen wir unser Leben ein. Mit dem Tod können sie uns nicht abschrecken.
Wie seine liebe Ehefrau es sagte: Elçi wird von Tausenden, Zehntausenden empfangen, deren Mörder im Dunkeln geblieben sind. Sie sind uns alle nah, sie haben alle die gleiche Geschichte. Ihre Geschichten sind wie das Land Kurdistan voller Leid. Die leidvolle Geschichte eines jeden Einzelnen ist die Geschichte unseres Landes.
Wir übergeben dich an Gott. Welch ein Glück, dass wir hunderttausende Freunde haben. Kurden und Türken, Hunderttausende, die an die Demokratie glauben, klagen heute über deinen Tod.
Wir bezweifeln, dass dieser politische Mord je ganz aufgeklärt wird. Unsere Zweifel sind berechtigt, in der Vergangenheit haben wir so viel ähnliches Leid erlebt. Von keinem der Toten konnten wir uns mit der Gewissheit verabschieden, dass die Täter gefasst werden.
Denn dieser Staat war niemals unser aller Staat. Alle haben sie den Staat wie ihr Eigentum benutzt. Wir haben sehr darum gekämpft und kämpfen weiter, damit es eine gemeinsame Regierung gibt.
Aber das kurdische Volk weiß sehr genau: nicht der Staat, die Staatenlosigkeit hat Tahir umgebracht.
Denn wir wissen auch, dass Millionen Genugtuung über den Tod unseres Botschafters des Friedens* empfinden. In Ankara sitzt eine Regierung, die diesen Schmerz nicht empfindet. Wie können wir sagen, dass das unsere Regierung ist. Wie können wir eine Gesellschaft zusammenhalten, die nicht mal fähig ist, verbunden im Schmerz zu sein.
Das Erbe des Vorsitzenden Tahir wiegt schwer, aber unser Volk wird seine historische Verantwortung beim Schultern dieses Erbes nicht vergessen. Wir werden den gemeinsamen Kampf verbreitern und weiterführen, bis die Karawane der Freiheit ihr Ziel erreicht hat.
Wir wollten nicht, dass so etwas passiert. Ruhe in Frieden.

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*A. d. Ü.: Elçi bedeutet wörtlich Botschafter.