Von İsmail
Doğa Karatepe
Mehr als 1.000 „Akademiker*innen für
den Frieden“ haben die Regierung der AKP in einer gemeinsamen Erklärung für ihr
gewaltsames Vorgehen gegen die kurdische Bewegung kritisiert und eindringlich für
eine politische Lösung des Konflikts geworben. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan
griff die Unterzeichner*innen daraufhin scharf an. In der Folge wurden viele von
ihnen festgenommenen, mit Jobverlust bedroht oder anderweitig unter Druck
gesetzt. Über die Wirkung des Aufrufs auf das politische Klima in der Türkei,
über Zensur und Selbstzensur sprachen wir mit dem Dozenten Ersin Vedat Elgür
von der Dicle Universität.
Die im Januar 2016 veröffentlichte
»Erklärung der Akademiker*innen für den Frieden« (türkisch: Barış İçin Akademisyenler, BAK) stieß sowohl in der Türkei als auch im Ausland
auf großes Echo. Unter dem Titel »Wir werden keine Komplizen dieses
Verbrechens« schildert die Erklärung, wie der türkische Staat bei den
bewaffneten Auseinandersetzungen der vergangenen Monate in Südostanatolien
Rechte und Freiheiten verletzt hat, und äußert die Hoffnung, Gewalt und
Ausgangssperren mögen ein baldiges Ende finden. Die Erklärung wurde nicht nur
von Wissenschaftler*innen aus der Türkei, sondern auch von berühmten
ausländischen Intellektuellen wie David Harvey, Noam Chomsky, Immanuel
Wallerstein, Judith Butler und anderen unterschrieben — insgesamt 1.128
Unterzeichner*innen. Die AKP-Regierung und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan
griffen die Erklärung und die Unterzeichner*innen scharf an. Zahlreiche
Akademiker*innen in der Türkei wurden daraufhin verhaftet oder gekündigt. Über
diese Erklärung, ihre Auswirkungen und die Zensur im akademischen Betrieb
sprachen wir mit dem Dozenten der Dicle Universität und dem Herausgeber des
Verlags NotaBene Yayınları, Dr. Ersin Vedat Elgür.
Infobrief Türkei: Warum
wurde die Erklärung von der Regierung derart angegriffen? Früher wurden ja auch
schon solche Aufrufe veröffentlicht…
Ersin
Vedat Elgür: Interessant, das ist die erste Frage, die sowohl die Unterzeichner*innen
sich fragen als auch Interessierte uns stellen: Wie kann es sein, dass in
unserer heutigen Welt eine vergleichsweise harmlose politische Aktion wie eine
Unterschrift eine derart scharfe Reaktion auslöst?
IT: Und, zu welchem
Schluss seid ihr gekommen?
EVE:
Ich bin der Auffassung, dass es zwei miteinander verbundene Gründe dafür gibt.
Zum einen die reaktionäre Alltagspolitik der AKP, die - jenseits von Disziplin
und Kontrolle - weder Hoffnung noch ein positives Versprechen für die Zukunft
anzubieten hat. Deswegen werden uns Religion und Moral als etwas Politisches
verkauft. Das Feld, auf dem diese Moral – die des politischen Islam – gilt, ist
infolge des neoliberalen Gesellschaftsmodells aber korrumpiert. Deswegen inszeniert
die die AKP ihre Politik als eine anti-politische, auf ethnische und religiöse
Zugehörigkeiten basierende Polarisierung. Es war nur folgerichtig, dass sie die
Erklärung der Akademiker*innen instrumentalisieren würde — um all die Menschen
an sich zu binden, die diesen Politikstil teilen.
IT: Du sprachst von einem
weiteren Grund…
EVE:
Ja, der hat damit zu tun, dass nicht nur die AKP, sondern alle konservativen
und rechten Parteien versuchen, über die Fundamente der Politik zu schweigen,
also z.B. Kritiken an den grundlegenden Strukturen dieser Gesellschaft zu
verhindern.
IT: Und, ist das in
diesem Fall gelungen?
EVE:
Nein. Der instinktive Versuch, einen politischen Aufruf durch Kriminalisierung
zu einer »Straftat« zu machen, führte im Ergebnis zu einer viel größeren
Reaktion und damit zu weit mehr politischem Einfluss als die ursprüngliche
Unterschriftenaktion. Auch die umstrittene Passage in der Erklärung – »im
Rahmen der Forderungen des kurdischen politischen Willens« – verlieh dem ausdrücklich
politischen Anspruch des Aufrufs
Gewicht.
IT: Die meisten haben
aufgrund des Drucks ihre Unterschriften zurückgezogen. Welche Auswirkungen
hatte das?
Ich
glaube, hier liegt eine Fehlinformation vor: Die Zahl derjenigen, die ihre
Unterschrift zurückzogen, ist sehr niedrig. Mehr noch: Infolge der scharfen
Reaktion durch die Regierung haben trotz des allgegenwärtigen Drucks rund 1.000
weitere Akademiker*innen unterschrieben. So erhöhte sich die Zahl der
Unterschriften auf über 2.000. Keiner unserer Mitstreiter*innen, die ihre
Unterschrift zurückgezogen haben, steht nun außerhalb der BAK-Initiative.
Vielmehr verfolgen sie gemeinsam mit uns den Prozess.
IT:
Aber der Druck hat nicht nachgelassen…
EVE:
Bei den ersten Reaktionen auf die Erklärung war zu beobachten, dass
beleidigende Aussagen in einer banalen Alltagssprache, fernab jeder politischen
Analyse formuliert waren. Erschreckender waren Aussagen wie »unsere Nation weiß
genau, wie sie auf solche Leute reagieren wird«, die von der obersten
parlamentarisch-politischen Ebene kamen. Ich denke, dass Hetze und Beleidigung
zwei Ziele haben: Erstens sollten die Hochschulkommission und die
Universitätsleitungen zu Untersuchungen und Entlassungen bewegt werden – die
Unterzeichnenden stammen ja aus einer bestimmten Berufsgruppe. Unter Verletzung
sämtlicher juristischer und moralischer Prinzipien hatte dies Erfolg. Zudem
sollten Staatsanwälte, die sich innerhalb des juristischen Rahmens beweisen
wollten, uns mit Strafanzeigen umzingeln. Auch hier waren sie erfolgreich.
Derzeit stehen 1.128 Personen unter dem Vorwurf, »Mitglied oder Unterstützer einer
Terrororganisation« zu sein, vor Gericht. Unfassbar, aber genau das ist die
Situation.
IT:
Wie ist es in dieser bedrohlichen Situation um die Moral der Betroffenen
bestellt?
EVE:
Die Motivation der unterzeichnenden Akademiker*innen ist sehr hoch. Zumal
Versuche, in der Bevölkerung schärfere Reaktionen mit vielleicht noch gefährlicheren
Folgen zu provozieren, nicht gefruchtet haben. Es ist ja so: Wir unterrichten deren
Kinder, wir waren täglich mit ihnen zusammen. Und wir reden hier von rund 2.000
Köpfen mit akademischem Talent und Vermittlungskompetenzen auf hohem Niveau.
Wir standen fest auf dem Boden und waren selbstbewusst. Wir hatten die Absicht,
ein Problem, das dem Land zehntausende Tote beschert hat, auf die politische
Agenda zu setzen – in einem Feld, wo normalerweise persönlicher Ehrgeiz und
kurzfristige Programme vorherrschen.
IT:
Auch einige Verlage unterstützten die Akademiker*innen mit einem eigenen Aufruf.
Welchen Druck mussten sie aushalten?
EVE:
Nicht nur Verlage. Wir haben unter der Überschrift »Alle für den Frieden« von
Schriftsteller*innen, von Studierenden bis zu den Gewerkschaften viel
Unterstützung erfahren. Der Druck hat nach dieser breiten Unterstützung
unterschiedliche Formen angenommen. So wurden z.B. die Unterzeichner*innen des
Aufrufs »Literaten für den Frieden« durch einen Beschluss des
Erziehungsministeriums von Schullesungen ausgeschlossen. Das Ministerium für
Kultur beschloss, von den uns unterstützenden Verlagen nichts mehr zu kaufen. Auch
wenn kein offizieller Erlass vorliegt – das ist die Praxis.
IT:
Was ist das konkrete Ausmaß dieser Maßnahmen?
EVE:
Laut dem fast täglich aktualisierten Atlas der Unterdrückung der BAK-Initiative
wurden gegen 689 Personen Verwaltungs- und Gerichtsermittlungen eröffnet, 38 wurden
entlassen, 6 beurlaubt, 47 bedroht und 37 nach Polizeirazzien in Privaträumen
festgenommen. Und schließlich wurden 3 Personen inhaftiert, der britische
Akademiker Chris Stephenson wurde ausgewiesen, eine weitere Genossin kann aufgrund
eines gegen sie erlassenen Haftbefehls nicht einreisen. Und all das passierte just
in der Woche, in der inhaftierte Mitglieder des IS mit der Begründung »keine
Fluchtgefahr« freigelassen wurden. In einer Zeit, in der die gewaltvollen Auseinandersetzungen
in Cizre, Nusaybin, Sur, Bağlar und Yüksekova hunderte Tote forderten und
mitten in Ankara und İstanbul Selbstmordattentate verübt wurden. Was kann die
Berechtigung unserer Forderung nach Frieden und einer »echten politischen« Lösung
anschaulicher unterstreichen?
IT:
Konntet ihr nach den Reaktionen der Regierung ein Solidaritätsnetzwerk
aufbauen?
EVE:
Ja, das ging zum Glück schnell. Denn seit 2012 gibt es eine bestehende
BAK-Struktur inkl. ehrenamtlicher Anwält*innen, die eine schwere Last schultern.
Zwar haben wir zur Organisationspraxis und zu politischen Aktionen teils
unterschiedliche Auffassungen. Aber die Forderung nach sofortigem Frieden in
der kurdischen Frage sowie unser Wille, dem gegen uns alle gerichteten Druck
standzuhalten, konnte manch trennenden Unterschied überwinden. Alle sind müde,
aber alle lächeln auf eine provokante Weise.
IT:
Habt ihr auch Unterstützung von Kolleg*innen bekommen, die den Aufruf nicht
unterschrieben haben?
EVE:
Ich hatte ja gesagt, dass trotz der Drohungen und des Drucks 1.000 neue
Unterschriften hinzukamen. Das war für die ersten 1.128 sehr bedeutsam. Es gab
auch Menschen, die dem Text inhaltlich widersprochen haben, was völlig normal
ist. Rund 700 Personen haben sich mit der BAK solidarisch erklärt. Regierungsnahe
Akademiker*innen starteten eine erfolglose Unterschriftenaktion gegen die BAK.
IT:
Inwiefern erfolglos?
EVE:
Sie haben einen banalen Text veröffentlicht, voller Beleidigungen, mit
Rechtfertigungen für das Vorgehen der Regierung und ohne irgendeinen
konstruktiven Vorschlag. Dennoch war das wichtig, weil es zeigte, wie viele Akademiker*innen
ihren Kolleg*innen das Recht auf Kritik und freie Meinungsäußerung absprachen.
Es waren viele. Hier zeigt sich das Ergebnis der furchtbaren Kaderpolitik der
letzten 10 Jahre [1].
IT:
Was ist damit gemeint?
EVE:
Ich spreche hier von einer Kaderpolitik, die vom Rektor bis zum
Verwaltungspersonal reicht. Sie werden für ihre Posten bestimmt, haben aber von
Universität oft wenig Ahnung. Das führt zu Spannungen. Aber eigentlich ist das
Problem noch grundlegender: Die Universitäten in der Türkei haben kapituliert.
IT:
Wie bitte??
EVE:
Sicherlich wäre das eine längere Diskussion wert, aber ich denke, dass die
Universitäten in der Türkei – also die Orte, an denen Wissensproduktion
stattfindet, quasi das intellektuelle Rückgrat eines Landes – sich der
neoliberalen Verwertungs- und Verwaltungslogik unterworfen haben. Insofern
müssen wir, wenn der juristische und jobbezogene Druck nachlässt, über dieses viel
größere Problem gründlich nachdenken. Hinter unseren Vorschlägen zur kurdischen
Frage konnten wir eine große Masse versammeln. Manchmal kann eine singuläre
Positionierung eine solche Kraft entfalten, dass sie auf das universelle
Problem darunter verweist.
IT:
Manchmal beginnt die Schranke ja schon im Kopf. Wie verhält es sich mit
Selbstzensur in der akademischen Welt?
EVE:
Einerseits findet auf der persönlichen Ebene Selbstzensur statt, ja.
Andererseits sind wir als BAK auch kollektiv sichtbar geworden. Durch die
Veröffentlichung und Verbreitung unserer Deklaration haben wir eine Art
Zensur-Schranke errichtet, um die Meinungsfreiheit zu schützen. Ein Versuch.
IT:
Dennoch wird weiter zensiert und gedroht…
EVE:
Das Problem ist: Gerade zur kurdischen Frage ist es in den etablierten Medien
unmöglich, einen politischen Vorschlag zu unterbreiten, der außerhalb der
Regierungsperspektive steht – wobei wir nicht mal sicher sind, ob die Regierung
außer der gewaltvollen Lösung überhaupt eine Perspektive hat. In den Medien sind
aufgrund der Eigentümerstrukturen keine oppositionellen Stimmen mehr zu hören
[2]: letztlich zeigt die Verhaftung der bekannten Cumhuriyet-Journalisten Can Dündar und Erdem Gül die Situation der
Zensur im Lande.
IT:
Gibt es also gar keinen Ort der Kritik mehr?
EVE:
Doch, natürlich in den sozialen Medien. Die meisten Strafanzeigen wegen
Beleidigung des Staatsoberhaupts erfolgen gegen Postings in den sozialen
Medien. Es ist schon zur Routine geworden, dass an bestimmten Tagen oder nach
Vorfällen, von denen man denkt, sie könnten der Regierung schaden, das Internet
verlangsamt wird. Insofern versuchen wir als BAK ein Feld zu öffnen, in dem
wenigstens über einen Fall debattiert werden kann, da inhaltliche Diskussion sonst
kaum möglich ist.
IT:
Wurde der Zeitpunkt der Erklärung also bewusst gewählt oder war es schlicht
nicht mehr auszuhalten?
EVE:
Vieles zeichnete sich schon seit einiger Zeit ab. Die Intensivierung der
Zusammenstöße zwischen dem Staat und der kurdischen Bewegung sowie die nicht aufhörenden
Bombenattentate nicht nur in den kurdischen Gebieten, sondern auch in den
westlichen Metropolen, offenbarten eine Spirale der Gewalt. Dann weigerte sich
die Regierung, das Wahlergebnis vom 7. Juni 2015 zu akzeptieren – bei dem die
kurdisch-linke Opposition dank der Zusammenarbeit von kurdischer Bewegung und
türkischen Linken rund 13 Prozent erringen konnte. Schon am Tag danach war die
faktische Kriegserklärung durch die Regierung voraussehbar.
IT:
Wie das?
EVE:
Wir wussten, dass die Regierung mit der Armee, deren Macht sie vorher
geschwächt hatte, in der Frage des Krieges gegen die Kurd*innen zu einer
Übereinkunft gekommen war. Es war absehbar, dass dieser Krieg aufgrund der
Erfahrungen der kurdischen Bewegung in Rojava nicht wie bisher geführt werden
konnte. Die Betonung der Notwendigkeit einer friedlichen Lösung wurde genau
dann unumgänglich, als das Voraussehbare eintrat und die auf Rache orientierten
Kriegstaktiken des Staates sichtbar wurden. Aber wie hätten wir unserer Stimme
Gehör verschaffen können? Die Medien waren für strukturelle Analysen über die
Türkei und den Nahen Osten nicht zugänglich. In den Fernsehsendungen war es
nicht möglich, irgendeinen Analysten zu finden, dessen kognitiven Fähigkeiten
etwas höher waren als die eines Schülers der Mittelstufe.
IT:
Welche Strategien können Intellektuelle gegen Zensur und Selbstzensur in der
Türkei entwickeln?
EVE:
Ich bezweifle, dass die akademische Welt in der Türkei gegenwärtig überhaupt in
der Lage ist, solche Strategien zu entwickeln. Denn die neuen Formen der
Arbeitsteilung und Arbeitskontrolle an den Universitäten engt das
intellektuelle Schaffen ein. Wir konnten bis jetzt auf die klassischen Mittel
wie Zeitschriften, Kongresse, Verlage etc. als Felder der Meinungsäußerung zurückgreifen.
Aber infolge der strukturellen Veränderungen des gesamten akademischen Betriebs
wurden diese Mittel so sehr begrenzt, dass wir praktisch nur unter uns sprechen
können.
IT:
Also am besten raus aus den Unis?
EVE:
Unsere Erklärung liefert zumindest einige Hinweise, wie neue Formen der Kritik
aussehen können. Aber im Grunde müssen wir aus diesem ganzen Prozess mit einer
neuen Aufgabe rausgehen: Wir müssen Strukturen schaffen, die für die gesellschaftliche
Opposition in ihrem Kampf um Demokratie als Wissensdepot fungieren. Das
bedeutet jetzt aber nicht, ganz außerhalb des akademischen Betriebs zu agieren
oder die Universitäten zu verlassen. Dennoch müssen wir ihre Grenzen und
Unzulänglichkeiten aufzeigen, sie hier und jetzt hinterfragen.
IT:
Ein Wissensdepot für die Widerständigen – und dann?
EVE: Es ist natürlich bedeutsam, wenn
z.B. die Zensur individuell hinterfragt und abgelehnt wird. Aber Widerstand
entsteht nicht allein durch Ablehnung, sondern dadurch, dass wir ein Feld
schaffen, auf dem das Abgelehnte seine enorme Bedeutung verliert. Damit kommen
wir zum Ausgangspunkt zurück: Wir müssen dazu beitragen, dass sich eine
verbindliche politische Praxis mit einem positiven Versprechen für die Zukunft entfalten
kann.
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[1] Vgl. hierzu auch den Text „Etwas Bleibendes Schaffen – Elemente islamisch-konservativer Kaderbildung“ von Errol Babacan in
dieser Ausgabe.
[2] Vgl. hierzu auch den Text „Presse- und Meinungs(un)freiheit in der Türkei“ von Fitnat Tezerdi in dieser Ausgabe.