Von
Errol Babacan
Der politische Islam baut sich eine
Gesellschaft nach seinem Ebenbilde. Die Islamisierung dringt auf der untersten
Stufe des Bildungssystems in die Vorschulen vor. Auf der obersten Stufe findet
ein Kampf um die Hochschulen, das Zentrum bürgerlicher Wissensproduktion statt.
Die „nationale Akademie“ ist bereits sichtbar auf den Plan getreten.
Analysen der politischen Entwicklung
in der Türkei, die vordringlich Ambitionen des Staatspräsidenten Recep Tayyip
Erdoğan als Triebkraft für Missstände ausdeuten, erfreuen sich großer
Beliebtheit. So eingängig ihre Kernbotschaft ist, so sehr unterschätzen sie
grundlegende Dynamiken. Der politische Islam ist eine langatmige Bewegung einer
Bildungselite, deren Ziel in der Ausweitung religiöser Anschauungen und
Praktiken auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens besteht. Ein
besonderes Augenmerk ist auf das Erziehungs- und Bildungssystem gerichtet, das
von unten bis oben umgestaltet wird.
Jugendbildung
– Religiös und zürnend
Die Institutionalisierung der Religion
in Erziehung und Bildung ist weit fortgeschritten. Auf der mittleren Stufe des
Bildungssystems erfolgt sie hauptsächlich über die Aufwertung religiöser Gymnasien
(Imam-Hatip-Lyzeen) und den Ausbau religiöser Lehrinhalte an „normalen“
Gymnasien.
2012 verabschiedete die AKP ein
Gesetz zur Gleichstellung des Schulabschlusses an religiösen mit dem an „normalen“
Gymnasien. Ein weiteres Gesetz zur Einführung eines neuen Wahlfachs ab dem
fünften Schuljahr an allen öffentlichen Schulen zum „Koranstudium und Leben des
Propheten“, zusätzlich zum obligatorischen Religionsunterricht ab der vierten
Klasse, folgte. Der nachdrückliche Begleitslogan lautete: „Wir wollen eine
religiöse und zürnende Generation erziehen“. Der Slogan ist eingebettet in eine
von islamistisch-nationalistischen Intellektuellen seit Jahrzehnten propagierte
Vision eines kämpferischen und stolzen Türken, der seine angeblich durch
Säkularismus verursachte Verweichlichung und Unterwürfigkeit gegenüber dem
Westen überwinden soll.
Die ursprünglich als Berufsschulen
für sunnitische Vorbeter und Prediger konzipierten Imam-Hatip-Lyzeen (IHL)
vermitteln eine intensive Ausbildung in Ideologie und Praxis des sunnitischen
Islam, lehren die „Sprache des Koran“ (Arabisch) und im Gegensatz zur
kemalistischen Doktrin ein Geschichtsbild, das einen affirmativen Anschluss an
das Osmanische Reich und das Kalifat herstellt. Schon in den 1970er Jahren
erfüllten die Schulen mehr als ihren ursprünglichen Zweck. Für Hunderttausende
AbsolventInnen gab es keine entsprechenden Berufe. Ihre Zulassung zum
Hochschulstudium schuf Abhilfe und eröffnete Karrierewege [1]. Erdoğan ist einer
von vielen, die an einer IHL zu Geistlichen ausgebildet wurden und zu politischen
oder bürokratischen Funktionsträgern avancierten.
In den 1990er Jahren wurden die IHL parallel
zum Aufstieg des politischen Islam sehr populär. Jährlich wurden 100.000 SchülerInnen
neu eingeschult, mit einem Frauenanteil von 40 Prozent. 1997 versuchte der
damals von Generälen dominierte Nationale Sicherheitsrat, die von ihm einst zur
„Bekämpfung des Kommunismus“ – gemeint war auch die sozialdemokratische
Arbeiterbewegung - massiv geförderte Islamisierung zu bremsen. Viele Schulen
wurden geschlossen, der Schulabschluss wurde abgewertet. Die Neueinschulungen
gingen drastisch zurück.
Unter der AKP erleben die Schulen
eine Renaissance ohnegleichen. 2003, im ersten Regierungsjahr der AKP, waren an
450 IHL 71.100 SchülerInnen eingeschrieben, 2012 waren es 537 Schulen mit
268.245 SchülerInnen und im Jahr 2015 gab es 1.017 IHL mit 546.000
SchülerInnen. 2012 wurde zudem die durch Beschluss des Nationalen
Sicherheitsrats geschlossene gymnasiale Vorstufe der religiösen Gymnasien - im
Schulsystem entspricht dies der Mittelstufe – wieder eröffnet. Entsprechend
schnellte die Zahl der SchülerInnen, die eine Bildung mit religiösem
Schwerpunkt erhielten, hoch. 2015 waren es an Mittel- und Oberstufen zusammen 932.000.
Tabelle:
Entwicklung religiöser Berufsschulen
2003
|
2012
|
2014
|
2015
|
2015 inkl. Mittelstufe
|
|
Schulen
|
450
|
537
|
854
|
1.017
|
2.614
|
SchülerInnen
|
71.100
|
268.245
|
474.096
|
546.000
|
932.000
|
Die Gewerkschaft der Werktätigen in Erziehung
und Wissenschaft – bekannt unter dem Kürzel Eğitim Sen - nennt weitere
Maßnahmen, die die Aufwertung religiöser Inhalte in Bildung und Erziehung charakterisieren
[2]. So rückt die Trennung der Geschlechter vermehrt auf die Agenda von Schulen.
Lokale Schulbehörden ordnen an, dass der Abstand zwischen Jungs und Mädchen
mindestens ein Meter betragen soll und Unterrichtspausen nach Geschlechtern
getrennt stattfinden sollen. Gebetsrituale und Koranlesewettbewerbe in Schulen
gehören inzwischen zur Normalität. Dass Ausflüge von Kindergärten und Schulen
in Moscheen keine Ausnahme mehr bilden, lässt sich der Presse und Berichten von
Eltern entnehmen. Die Religion macht auch vor Sonderschulen keinen Halt. Seit
2010 erhalten „autistische Kinder“ verpflichtend religiöse Unterrichtung, als
Maßnahme gegen Atheismus, wie es heißt.
In Einzelfällen ist die religiöse
Erziehung in Kindergärten vorgerückt. Die Standardisierung ist in Planung. Der
Nationale Bildungsrat hat Ende 2014 Empfehlungen beschlossen, wonach die
Vermittlung religiöser und nationaler Werte in den Vorschulen systematisiert
werden soll. Der obligatorische Religionsunterricht soll zukünftig bereits mit
der ersten Klasse beginnen. SchülerInnen, die den Koran auswendig lernen wollen
(mehrere Hundert Seiten auf Arabisch), sollen ab der fünften Klasse – also im
Alter von zehn Jahren – für zwei Jahre von der Schulpflicht entbunden werden
können. Erlaubnisse für einen Zeitraum von einem Jahr werden bereits erteilt.
Die Regierung investiert enorm viel
in die religiöse Ausbildung und privilegiert die IHL bei der Ausstattung
gegenüber anderen Schulen. Zwar haben Eltern weiterhin die Wahl zwischen
religiösen und „normalen“ Gymnasien, allerdings werden immer mehr „normale“
Gymnasien in IHL umgewidmet, so dass in manchen Orten Eltern diese Wahl
faktisch nicht mehr haben. Ausgenommen von dieser Entwicklung sind bislang
Privatschulen. Sie sind selbstverständlich nur für zahlungskräftige Schichten
zugänglich. Die Reicheren können sich vom Islamisierungsdruck freikaufen. Der
Anpassungsdruck auf die Ärmeren ist stärker. Eine gemeinsame Strategiebildung
zwischen ärmeren und reicheren Schichten gegen die Islamisierung wird somit erschwert.
Kaderbildung
an Hochschulen
Während der islamisch-konservative Nachwuchs
sichergestellt wird, schreitet die Kaderbildung auch an den Hochschulen voran.
Jüngst sichtbar wurde dieser „Fortschritt“ infolge der Petition der „AkademikerInnen für den Frieden“
(AfF), die von der Regierung die Beendigung der militärischen Belagerung
kurdischer Städte sowie die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen mit der
kurdischen Bewegung forderten. Eine zweite Gruppe Hochschulangehöriger, die
sich „AkademikerInnen für die Türkei“ (AfT) nannte, sprang der Regierung umgehend
zur Seite und veröffentlichte eine Gegenpetition, mit der sie ihre
Unterstützung im „Kampf gegen den Terrorismus“ erklärte.
Die von 2071 AkademikerInnen
unterzeichnete Türkeipetition
gewährt einen Einblick in die Verfasstheit des regierungstreuen Personals an
den Hochschulen [3]. Im Text heißt es, dass die Unterzeichner das „Wohl der
Türkei“ und „der türkischen Nation“ gegen „dieses Gesindel, das sich Akademiker
nennt“ und „das noch gefährlicher und niederträchtiger als die Banditen in den
Bergen ist“, verteidigen wollen. Wer sind diese nach eigenen Angaben „Türkei
verliebten“ AkademikerInnen, die die „echten Gefühle und Gedanken der
türkischen Nation“ ausdrücken wollen gegen ihre KollegInnen, die sie als „Gesindel“
diffamieren, das „die Bekämpfung des Terrorismus untergräbt und die
Sicherheitskräfte demoralisiert“?
Die Türkeipetition erhielt Unterstützung
aus 168 Universitäten, 21 davon befinden sich außerhalb der Türkei [4]. 99 % der
Unterzeichner arbeiten an einer türkischen Universität, lediglich 1 % ist außerhalb
der Türkei beschäftigt. Interessant ist die Verteilung nach Fachbereichen. Die mit
Abstand größte Einzelgruppe unter den AfT wird von Theologen (20 %) gebildet,
gefolgt von Ingenieuren (12 %) und Medizinern (9 %). Der namentlich
verantwortlich zeichnende Verfasser der Türkeipetition ist Leiter einer
theologischen Fakultät. Der Frauenanteil beträgt nur 10 %, unter denjenigen mit
Professur und Dozentur beträgt er sogar nur 5 %.
Zum Vergleich: Bei den „AkademikerInnen
für den Frieden“ liegt der Frauenanteil bei 54 %, ein Verhältnis, das auch bei steigendem
akademischem Grad gleich bleibt. Bei den AfF wird die größte Gruppe von ÖkonomInnen
(19 %) gebildet, gefolgt von Politik- und ErziehungswissenschaftlerInnen (14
bzw. 9 %). Die Friedenspetition erhielt Unterstützung aus 433 Universitäten.
321 dieser Universitäten befinden sich außerhalb der Türkei, hauptsächlich in
Westeuropa und den USA. Etwa ein Drittel der Unterzeichner arbeitet an einer
Universität im Ausland.
Welche Schlüsse lassen sich aus
diesen Informationen ziehen? Inhaltlich erkennbar ist, dass mit der Eskalation
des Krieges das Gewicht des türkischen Nationalismus gegenüber dem islamischen
Konservatismus zugenommen hat. Dies entspricht der aktuellen Bündniskonstellation:
Für
ihre Militäroffensive gegen die PKK erhält die Regierung handfeste Unterstützung
aus dem ultra-nationalistischen Lager, das bis vor kurzem noch zu ihren Konkurrenten
zählte [5]. Ein Spiegelbild des ideologischen Projekts der AKP
und der beschleunigten Islamisierung im gesamten Bildungsbereich ist dahingegen
die starke Präsenz von Theologen. Sie produzieren projektimmanentes Wissen [6].
Im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt – die Lösung der kurdischen Frage –
besteht dieses Wissen darin, die ideologischen Voraussetzungen für die Assimilierung
der kurdischen Bevölkerung in die islamisch-konservative Nation herzustellen.
Wie ist die männliche Dominanz in der
akademischen Gefolgschaft der Regierung zu erklären? Dass der konservative
Islam eine Benachteiligung von Frauen im akademischen Berufsleben mit sich
bringt, erscheint auf den ersten Blick als plausible Erklärung. Das drastische
Übergewicht von Männern liegt jedoch mit ziemlicher Sicherheit auch am
langjährigen, inzwischen aufgehobenen Kopftuchverbot an Universitäten, wodurch islamisch-konservative
Frauen erst mit einiger zeitlicher Verzögerung in das akademische Berufsfeld vordringen
können.
Nationale
Akademie
Eine nähere Betrachtung verdient die
geographische Verteilung. 90 % der in den drei Großstädten Istanbul, Ankara und
Izmir beschäftigten AkademikerInnen, die eine der beiden Petitionen
unterzeichnet haben, haben die Friedenspetition unterstützt. In vielen kleineren
Städten hat das wissenschaftliche Personal dahingegen auffallend geschlossen
die Türkeipetition unterschrieben. In den islamistischen und
ultra-nationalistischen Hochburgen besteht eine erdrückende Dominanz der AfT,
während in einigen säkular geprägten Städten und im kurdischen Südosten die AfF
sichtbar präsent (wie in Antakya, Artvin, Aydın, Muş, Tekirdağ, Van), teils
sogar in der Mehrheit sind (wie in Dersim, Diyarbakır, Edirne, Mardin, Mersin,
Muğla).
Neben diesem Zusammenhang zu den politischen
Mehrheitsverhältnissen in den einzelnen Städten lässt sich ein Zusammenhang zur
Entwicklung der Hochschullandschaft in der AKP-Periode erkennen. Die Anzahl der
Universitäten hat sich seit 2003 verdoppelt. Obgleich es sich in einigen Fällen
lediglich um Umwidmungen von sehr kleinen Berufshochschulen handelt, wurden
unter der AKP etwa 100 neue Universitäten gegründet. An mehr als 60 % dieser Universitäten
dominieren die AfT. An den Unterzeichnern (beider Petitionen) aus den neueren
Universitäten haben die AfT sogar einen Anteil von 80 %.
Der Einfluss, den die AKP auf die
Kaderbildung an den Universitäten nehmen kann – durch Ernennung von Rektoren
und über den Hochschulrat YÖK -, fällt offensichtlich an den Universitäten, die
unter ihrer Ägide gegründet wurden, fächerübergreifend stark ins Gewicht. Unter
der AKP hat sich eine nationale und (vorläufig?) männlich dominierte Akademie
gebildet, die am Nabel ihres Gesellschaftsprojekts hängt.
Mit der akademischen Kaderbildung
wird ein politischer und ideologischer Schulterschluss in der Akademie erreicht.
Die „nationale Akademie“ agiert einerseits als verlängerter Arm der Regierung,
andererseits trägt sie die selbige, von deren Zukunft ihre eigene abhängt. Der
Einklang zwischen Regierung und AfT gemahnt an faschistische Zeiten. Die
„nationale Akademie“ ist zwar international isoliert. Doch das scheint von
geringer Bedeutung. Schließlich kann die Regierung internationalen Druck sogar
in Stärkung des Konsens im Innern umlenken. Und falls diese Regierung stürzen
und Erdoğan in der Versenkung der Geschichte verschwinden sollte: Etwas
Bleibendes ist längst geschaffen.
______________________________
[1] Ein kurzer Abriss zu den
politischen Hintergründen dieser Geschichte findet sich unter: http://www.akweb.de/ak_s/ak566/08.htm
[2] Die Daten zu den IHL und weitere
Angaben sind Berichten der Gewerkschaft Eğitim Sen entnommen: http://egitimsen.org.tr/wp-content/uploads/2015/12/Eğitimin-Dinselleştirilmesi-ve-Şura-Kararları.pdf
[3] Die Zahl der Unterzeichner wurde
nach Angaben der Urheber bewusst auf 2071 begrenzt. Die Zahl nimmt Bezug auf
die Schlacht von Manzikert (Malazgirt Savaşı), die 1071 zwischen Seldschuken
und Byzantinern ausgetragen wurde. In der nationalistischen
Geschichtsschreibung gilt das Datum als Beginn der türkischen Eroberung
Anatoliens.
[4] Die Türkeipetition wurde am 12.
Januar 2016 veröffentlicht, einen Tag nach Veröffentlichung der Friedenspetition.
Zu diesem Zeitpunkt hatten 1.128 AkademikerInnen die Friedenspetition unterzeichnet,
die endgültige Zahl betrug 2.212. Der Abschnitt über die Petitionen beruht auf einer statistischen Auswertung
von Efe Kerem Sözeri. Angaben zum methodischen Vorgehen und Schlussfolgerungen von
Sözeri finden sich unter: http://platform24.org/guncel/1320/evrensel-degerler-ve-milli-yalnizlik--iki-bildiri--iki-akademi
[5] Dennoch sollte weiterhin zwischen
islamisch-konservativem und türkischem Nationalismus unterschieden werden, um
Charakter und Flexibilität der AKP adäquat erfassen zu können, vgl. http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2012/11/islamic-conservative-nationalism.html
[6] Woraus
der hohe Anteil an Ingenieuren und Medizinern hervorgeht, liegt allerdings
nicht auf der Hand und müsste durch qualitative Studien herausgefunden werden.
Möglicherweise wird die Fortführung des Baubooms und der Expansion des
Gesundheitssektors, damit auch die Stabilisierung der beruflichen Zukunft am
ehesten der AKP zugetraut.