Donnerstag, 14. April 2016

Etwas Bleibendes Schaffen – Elemente islamisch-konservativer Kaderbildung

Von Errol Babacan

Der politische Islam baut sich eine Gesellschaft nach seinem Ebenbilde. Die Islamisierung dringt auf der untersten Stufe des Bildungssystems in die Vorschulen vor. Auf der obersten Stufe findet ein Kampf um die Hochschulen, das Zentrum bürgerlicher Wissensproduktion statt. Die „nationale Akademie“ ist bereits sichtbar auf den Plan getreten.


Analysen der politischen Entwicklung in der Türkei, die vordringlich Ambitionen des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan als Triebkraft für Missstände ausdeuten, erfreuen sich großer Beliebtheit. So eingängig ihre Kernbotschaft ist, so sehr unterschätzen sie grundlegende Dynamiken. Der politische Islam ist eine langatmige Bewegung einer Bildungselite, deren Ziel in der Ausweitung religiöser Anschauungen und Praktiken auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens besteht. Ein besonderes Augenmerk ist auf das Erziehungs- und Bildungssystem gerichtet, das von unten bis oben umgestaltet wird.

Jugendbildung – Religiös und zürnend

Die Institutionalisierung der Religion in Erziehung und Bildung ist weit fortgeschritten. Auf der mittleren Stufe des Bildungssystems erfolgt sie hauptsächlich über die Aufwertung religiöser Gymnasien (Imam-Hatip-Lyzeen) und den Ausbau religiöser Lehrinhalte an „normalen“ Gymnasien.

2012 verabschiedete die AKP ein Gesetz zur Gleichstellung des Schulabschlusses an religiösen mit dem an „normalen“ Gymnasien. Ein weiteres Gesetz zur Einführung eines neuen Wahlfachs ab dem fünften Schuljahr an allen öffentlichen Schulen zum „Koranstudium und Leben des Propheten“, zusätzlich zum obligatorischen Religionsunterricht ab der vierten Klasse, folgte. Der nachdrückliche Begleitslogan lautete: „Wir wollen eine religiöse und zürnende Generation erziehen“. Der Slogan ist eingebettet in eine von islamistisch-nationalistischen Intellektuellen seit Jahrzehnten propagierte Vision eines kämpferischen und stolzen Türken, der seine angeblich durch Säkularismus verursachte Verweichlichung und Unterwürfigkeit gegenüber dem Westen überwinden soll.

Die ursprünglich als Berufsschulen für sunnitische Vorbeter und Prediger konzipierten Imam-Hatip-Lyzeen (IHL) vermitteln eine intensive Ausbildung in Ideologie und Praxis des sunnitischen Islam, lehren die „Sprache des Koran“ (Arabisch) und im Gegensatz zur kemalistischen Doktrin ein Geschichtsbild, das einen affirmativen Anschluss an das Osmanische Reich und das Kalifat herstellt. Schon in den 1970er Jahren erfüllten die Schulen mehr als ihren ursprünglichen Zweck. Für Hunderttausende AbsolventInnen gab es keine entsprechenden Berufe. Ihre Zulassung zum Hochschulstudium schuf Abhilfe und eröffnete Karrierewege [1]. Erdoğan ist einer von vielen, die an einer IHL zu Geistlichen ausgebildet wurden und zu politischen oder bürokratischen Funktionsträgern avancierten.

In den 1990er Jahren wurden die IHL parallel zum Aufstieg des politischen Islam sehr populär. Jährlich wurden 100.000 SchülerInnen neu eingeschult, mit einem Frauenanteil von 40 Prozent. 1997 versuchte der damals von Generälen dominierte Nationale Sicherheitsrat, die von ihm einst zur „Bekämpfung des Kommunismus“ – gemeint war auch die sozialdemokratische Arbeiterbewegung - massiv geförderte Islamisierung zu bremsen. Viele Schulen wurden geschlossen, der Schulabschluss wurde abgewertet. Die Neueinschulungen gingen drastisch zurück.

Unter der AKP erleben die Schulen eine Renaissance ohnegleichen. 2003, im ersten Regierungsjahr der AKP, waren an 450 IHL 71.100 SchülerInnen eingeschrieben, 2012 waren es 537 Schulen mit 268.245 SchülerInnen und im Jahr 2015 gab es 1.017 IHL mit 546.000 SchülerInnen. 2012 wurde zudem die durch Beschluss des Nationalen Sicherheitsrats geschlossene gymnasiale Vorstufe der religiösen Gymnasien - im Schulsystem entspricht dies der Mittelstufe – wieder eröffnet. Entsprechend schnellte die Zahl der SchülerInnen, die eine Bildung mit religiösem Schwerpunkt erhielten, hoch. 2015 waren es an Mittel- und Oberstufen zusammen 932.000.

Tabelle: Entwicklung religiöser Berufsschulen

2003
2012
2014
2015
2015 inkl. Mittelstufe
Schulen
450
537
854
1.017
2.614
SchülerInnen
71.100
268.245
474.096
546.000
932.000








Die Gewerkschaft der Werktätigen in Erziehung und Wissenschaft – bekannt unter dem Kürzel Eğitim Sen - nennt weitere Maßnahmen, die die Aufwertung religiöser Inhalte in Bildung und Erziehung charakterisieren [2]. So rückt die Trennung der Geschlechter vermehrt auf die Agenda von Schulen. Lokale Schulbehörden ordnen an, dass der Abstand zwischen Jungs und Mädchen mindestens ein Meter betragen soll und Unterrichtspausen nach Geschlechtern getrennt stattfinden sollen. Gebetsrituale und Koranlesewettbewerbe in Schulen gehören inzwischen zur Normalität. Dass Ausflüge von Kindergärten und Schulen in Moscheen keine Ausnahme mehr bilden, lässt sich der Presse und Berichten von Eltern entnehmen. Die Religion macht auch vor Sonderschulen keinen Halt. Seit 2010 erhalten „autistische Kinder“ verpflichtend religiöse Unterrichtung, als Maßnahme gegen Atheismus, wie es heißt.

In Einzelfällen ist die religiöse Erziehung in Kindergärten vorgerückt. Die Standardisierung ist in Planung. Der Nationale Bildungsrat hat Ende 2014 Empfehlungen beschlossen, wonach die Vermittlung religiöser und nationaler Werte in den Vorschulen systematisiert werden soll. Der obligatorische Religionsunterricht soll zukünftig bereits mit der ersten Klasse beginnen. SchülerInnen, die den Koran auswendig lernen wollen (mehrere Hundert Seiten auf Arabisch), sollen ab der fünften Klasse – also im Alter von zehn Jahren – für zwei Jahre von der Schulpflicht entbunden werden können. Erlaubnisse für einen Zeitraum von einem Jahr werden bereits erteilt.

Die Regierung investiert enorm viel in die religiöse Ausbildung und privilegiert die IHL bei der Ausstattung gegenüber anderen Schulen. Zwar haben Eltern weiterhin die Wahl zwischen religiösen und „normalen“ Gymnasien, allerdings werden immer mehr „normale“ Gymnasien in IHL umgewidmet, so dass in manchen Orten Eltern diese Wahl faktisch nicht mehr haben. Ausgenommen von dieser Entwicklung sind bislang Privatschulen. Sie sind selbstverständlich nur für zahlungskräftige Schichten zugänglich. Die Reicheren können sich vom Islamisierungsdruck freikaufen. Der Anpassungsdruck auf die Ärmeren ist stärker. Eine gemeinsame Strategiebildung zwischen ärmeren und reicheren Schichten gegen die Islamisierung wird somit erschwert.

Kaderbildung an Hochschulen

Während der islamisch-konservative Nachwuchs sichergestellt wird, schreitet die Kaderbildung auch an den Hochschulen voran. Jüngst sichtbar wurde dieser „Fortschritt“ infolge der Petition der „AkademikerInnen für den Frieden“ (AfF), die von der Regierung die Beendigung der militärischen Belagerung kurdischer Städte sowie die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen mit der kurdischen Bewegung forderten. Eine zweite Gruppe Hochschulangehöriger, die sich „AkademikerInnen für die Türkei“ (AfT) nannte, sprang der Regierung umgehend zur Seite und veröffentlichte eine Gegenpetition, mit der sie ihre Unterstützung im „Kampf gegen den Terrorismus“ erklärte.

Die von 2071 AkademikerInnen unterzeichnete Türkeipetition gewährt einen Einblick in die Verfasstheit des regierungstreuen Personals an den Hochschulen [3]. Im Text heißt es, dass die Unterzeichner das „Wohl der Türkei“ und „der türkischen Nation“ gegen „dieses Gesindel, das sich Akademiker nennt“ und „das noch gefährlicher und niederträchtiger als die Banditen in den Bergen ist“, verteidigen wollen. Wer sind diese nach eigenen Angaben „Türkei verliebten“ AkademikerInnen, die die „echten Gefühle und Gedanken der türkischen Nation“ ausdrücken wollen gegen ihre KollegInnen, die sie als „Gesindel“ diffamieren, das „die Bekämpfung des Terrorismus untergräbt und die Sicherheitskräfte demoralisiert“?

Die Türkeipetition erhielt Unterstützung aus 168 Universitäten, 21 davon befinden sich außerhalb der Türkei [4]. 99 % der Unterzeichner arbeiten an einer türkischen Universität, lediglich 1 % ist außerhalb der Türkei beschäftigt. Interessant ist die Verteilung nach Fachbereichen. Die mit Abstand größte Einzelgruppe unter den AfT wird von Theologen (20 %) gebildet, gefolgt von Ingenieuren (12 %) und Medizinern (9 %). Der namentlich verantwortlich zeichnende Verfasser der Türkeipetition ist Leiter einer theologischen Fakultät. Der Frauenanteil beträgt nur 10 %, unter denjenigen mit Professur und Dozentur beträgt er sogar nur 5 %.

Zum Vergleich: Bei den „AkademikerInnen für den Frieden“ liegt der Frauenanteil bei 54 %, ein Verhältnis, das auch bei steigendem akademischem Grad gleich bleibt. Bei den AfF wird die größte Gruppe von ÖkonomInnen (19 %) gebildet, gefolgt von Politik- und ErziehungswissenschaftlerInnen (14 bzw. 9 %). Die Friedenspetition erhielt Unterstützung aus 433 Universitäten. 321 dieser Universitäten befinden sich außerhalb der Türkei, hauptsächlich in Westeuropa und den USA. Etwa ein Drittel der Unterzeichner arbeitet an einer Universität im Ausland.

Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Informationen ziehen? Inhaltlich erkennbar ist, dass mit der Eskalation des Krieges das Gewicht des türkischen Nationalismus gegenüber dem islamischen Konservatismus zugenommen hat. Dies entspricht der aktuellen Bündniskonstellation: Für ihre Militäroffensive gegen die PKK erhält die Regierung handfeste Unterstützung aus dem ultra-nationalistischen Lager, das bis vor kurzem noch zu ihren Konkurrenten zählte [5]. Ein Spiegelbild des ideologischen Projekts der AKP und der beschleunigten Islamisierung im gesamten Bildungsbereich ist dahingegen die starke Präsenz von Theologen. Sie produzieren projektimmanentes Wissen [6]. Im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt – die Lösung der kurdischen Frage – besteht dieses Wissen darin, die ideologischen Voraussetzungen für die Assimilierung der kurdischen Bevölkerung in die islamisch-konservative Nation herzustellen.

Wie ist die männliche Dominanz in der akademischen Gefolgschaft der Regierung zu erklären? Dass der konservative Islam eine Benachteiligung von Frauen im akademischen Berufsleben mit sich bringt, erscheint auf den ersten Blick als plausible Erklärung. Das drastische Übergewicht von Männern liegt jedoch mit ziemlicher Sicherheit auch am langjährigen, inzwischen aufgehobenen Kopftuchverbot an Universitäten, wodurch islamisch-konservative Frauen erst mit einiger zeitlicher Verzögerung in das akademische Berufsfeld vordringen können.

Nationale Akademie

Eine nähere Betrachtung verdient die geographische Verteilung. 90 % der in den drei Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir beschäftigten AkademikerInnen, die eine der beiden Petitionen unterzeichnet haben, haben die Friedenspetition unterstützt. In vielen kleineren Städten hat das wissenschaftliche Personal dahingegen auffallend geschlossen die Türkeipetition unterschrieben. In den islamistischen und ultra-nationalistischen Hochburgen besteht eine erdrückende Dominanz der AfT, während in einigen säkular geprägten Städten und im kurdischen Südosten die AfF sichtbar präsent (wie in Antakya, Artvin, Aydın, Muş, Tekirdağ, Van), teils sogar in der Mehrheit sind (wie in Dersim, Diyarbakır, Edirne, Mardin, Mersin, Muğla).

Neben diesem Zusammenhang zu den politischen Mehrheitsverhältnissen in den einzelnen Städten lässt sich ein Zusammenhang zur Entwicklung der Hochschullandschaft in der AKP-Periode erkennen. Die Anzahl der Universitäten hat sich seit 2003 verdoppelt. Obgleich es sich in einigen Fällen lediglich um Umwidmungen von sehr kleinen Berufshochschulen handelt, wurden unter der AKP etwa 100 neue Universitäten gegründet. An mehr als 60 % dieser Universitäten dominieren die AfT. An den Unterzeichnern (beider Petitionen) aus den neueren Universitäten haben die AfT sogar einen Anteil von 80 %.

Der Einfluss, den die AKP auf die Kaderbildung an den Universitäten nehmen kann – durch Ernennung von Rektoren und über den Hochschulrat YÖK -, fällt offensichtlich an den Universitäten, die unter ihrer Ägide gegründet wurden, fächerübergreifend stark ins Gewicht. Unter der AKP hat sich eine nationale und (vorläufig?) männlich dominierte Akademie gebildet, die am Nabel ihres Gesellschaftsprojekts hängt.

Mit der akademischen Kaderbildung wird ein politischer und ideologischer Schulterschluss in der Akademie erreicht. Die „nationale Akademie“ agiert einerseits als verlängerter Arm der Regierung, andererseits trägt sie die selbige, von deren Zukunft ihre eigene abhängt. Der Einklang zwischen Regierung und AfT gemahnt an faschistische Zeiten. Die „nationale Akademie“ ist zwar international isoliert. Doch das scheint von geringer Bedeutung. Schließlich kann die Regierung internationalen Druck sogar in Stärkung des Konsens im Innern umlenken. Und falls diese Regierung stürzen und Erdoğan in der Versenkung der Geschichte verschwinden sollte: Etwas Bleibendes ist längst geschaffen.


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[1] Ein kurzer Abriss zu den politischen Hintergründen dieser Geschichte findet sich unter: http://www.akweb.de/ak_s/ak566/08.htm

[2] Die Daten zu den IHL und weitere Angaben sind Berichten der Gewerkschaft Eğitim Sen entnommen: http://egitimsen.org.tr/wp-content/uploads/2015/12/Eğitimin-Dinselleştirilmesi-ve-Şura-Kararları.pdf

[3] Die Zahl der Unterzeichner wurde nach Angaben der Urheber bewusst auf 2071 begrenzt. Die Zahl nimmt Bezug auf die Schlacht von Manzikert (Malazgirt Savaşı), die 1071 zwischen Seldschuken und Byzantinern ausgetragen wurde. In der nationalistischen Geschichtsschreibung gilt das Datum als Beginn der türkischen Eroberung Anatoliens.

[4] Die Türkeipetition wurde am 12. Januar 2016 veröffentlicht, einen Tag nach Veröffentlichung der Friedenspetition. Zu diesem Zeitpunkt hatten 1.128 AkademikerInnen die Friedenspetition unterzeichnet, die endgültige Zahl betrug 2.212. Der Abschnitt über die Petitionen beruht auf einer statistischen Auswertung von Efe Kerem Sözeri. Angaben zum methodischen Vorgehen und Schlussfolgerungen von Sözeri finden sich unter: http://platform24.org/guncel/1320/evrensel-degerler-ve-milli-yalnizlik--iki-bildiri--iki-akademi

[5] Dennoch sollte weiterhin zwischen islamisch-konservativem und türkischem Nationalismus unterschieden werden, um Charakter und Flexibilität der AKP adäquat erfassen zu können, vgl. http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2012/11/islamic-conservative-nationalism.html

[6] Woraus der hohe Anteil an Ingenieuren und Medizinern hervorgeht, liegt allerdings nicht auf der Hand und müsste durch qualitative Studien herausgefunden werden. Möglicherweise wird die Fortführung des Baubooms und der Expansion des Gesundheitssektors, damit auch die Stabilisierung der beruflichen Zukunft am ehesten der AKP zugetraut.