Von
Kaya Genç
Ein Dozent
verbrachte am Institut für politische Wissenschaften der Ankara-Universität
einen Abend damit, Fragen für eine anstehende Prüfung vorzubereiten. Nicht eine
Sekunde lang hätte er geglaubt, dass eine der Prüfungsfragen zu Todesdrohungen
gegen ihn führen würde – Schriftsteller und Literat Kaya Genç berichtet von den heftigen Auseinandersetzungen über die Freiheit von Forschung und Lehre.
Reşat Barış Ünlü
ist ein beliebter Dozent am Institut für politische Wissenschaften der Ankara Universität und den meisten
bekannt durch seine Biografie über den türkischen Sozialistenführer Mehmet Ali
Aybar. Als Wissenschaftler der Geschichte politischer Bewegungen im Osmanischen
Reich gab Ünlü seinen Studierenden die Aufgabe, das „Kurdistan Manifest“ von
Abdullah Öcalan, den inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, zu analysieren. Öcalan verbringt
eine lebenslängliche Haftstrafe auf der Insel Imrali im Marmara-Meer und hat in
den vergangenen Jahren die Gespräche/Verhandlungen mit der türkischen Regierung
im sogenannten „Friedensprozess“ geführt. Für seine neue Rolle als
Friedensstifter fanden einige Politiker der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) durchaus lobende
Worte – und das öffentlich.
Aber für die
nationalistische Zeitung Vahdet
(türkisch für Einheit/Eintracht oder Einzigartigkeit) kam die Aufgabe, Öcalans
frühes Revolutionsmanifest zu analysieren, Hochverrat gleich. „Was ist das für
eine Universität?“ kreischte die Überschrift in Vahdet. „Dieser Dozent namens Barış Ünlü gibt seinen Studenten doch
glatt Aufgaben zu Abdullah Öcalan. Er spricht in seinen Seminaren über ihn, als
sei er eine ‚Führungsfigur’. Er stellt seinen Studenten die PKK als die ‚kurdische
Bewegung‘ dar.“ Der Zeitungsartikel endet damit, dass Akademiker_innen und
Journalist_innen eine ähnliche Strategie wählten, um ihren ‚terroristischen
Aktivitäten‘ nachzugehen: Sie würden sich „unter dem Deckmantel der
Meinungsfreiheit“ verstecken. Aufgrund dieses Artikels und einer Hasskampagne
in den sozialen Netzwerken erhielt Ünlü mehrfach Morddrohungen.
Es ist wohl eher
die Ausnahme, dass bei einer Prüfung der Dozent, der die Fragen stellt, am Ende
mehr eingeschüchtert ist als seine Studierenden. Und obwohl Ünlü keiner
disziplinarischen Maßnahme durch seine Universität unterworfen wurde, musste er
in Todesangst leben, nur weil er einer rechtmäßigen akademischen Tätigkeit
nachgegangen war.
Der Fall Ünlü
steht exemplarisch für ein Klima der Angst mit Blick auf die Freiheit von
Forschung und Lehre in der Türkei, wo eine einzige Entscheidung eine sorgfältig
aufgebaute Karriere zerstören kann. „Es gibt eine Identitätskrise im türkischen
Bildungssystem“, meint Sarphan Uzunoğlu, Dozent an der Kadir Has Universität in Istanbul. „Die meisten Studierenden, die
keinen sunnitischen Hintergrund haben, können ihre religiösen Identitäten nicht
offen zeigen. Verpflichtender Religionsunterricht ist eines der Hauptprobleme
unseres Bildungssystems. Konservativer Sunnit zu sein, ist ‚gestattet’.
Demgegenüber befinden sich Kurden, Christen, Juden, Aleviten oder Shia-Muslime in
einer Situation der Unterdrückung.“
Nahezu jeder kennt
die strukturellen Gründe, die den Beeinträchtigungen der Freiheit von Forschung
und Lehre in der Türkei zugrunde liegen. Der Hochschulrat (türkisch: Yükseköğretim Kurulu, YÖK) ist
berüchtigt für seine umfangreiche Überwachung des akademischen Lebens an allen
Universitäten der Türkei. Er wurde 1981, ein Jahr nach dem Militärputsch vom
12. September 1980, gegründet. Die Hauptaufgabe von YÖK besteht darin,
sicherzustellen, dass alle Universitäten des Landes gemäß der Richtlinien des
türkischen Staatsapparates geführt werden. Schon seit langer Zeit mischt sich
der Hochschulrat in Details des akademischen Betriebs ein. Das umfasst Vorgaben
bis zu der Frage, ob das akademische Personal Bärte und Kopftücher tragen darf.
Die Restriktionen
der Aktivitäten des akademischen Personals ändern sich zwar in Abhängigkeit vom
politischen Klima, aber die Entschlossenheit, das universitäre Leben zu
kontrollieren, bleibt konstant. Gerade vergangenes Jahr kündigte der YÖK neue
Regularien an, die erwartungsgemäß großen Einfluss auf das Wirken von
Akademiker_innen in der Türkei hatten: Die neuen Vorschriften verboten es
Wissenschaftler_innen, „abgesehen von wissenschaftlichen Debatten und
Statements irgendwelche Informationen oder persönliche Ansichten in den Medien,
Nachrichtenagenturen und in Funk und Fernsehen zu verbreiten.“ Auf diese neue
Art wurde der akademischen Community in der Türkei zu verstehen gegeben, dass
sie über öffentliche Themen zu schweigen hat — just zu einer Zeit, in der die
Türkei sich in einer Ära beispielloser sozialer Unruhen befand.
Studierende trifft
der Druck auch in den sozialen Medien: Eine Studentin im Grundstudium an der Anadolu Universität twitterte den Link
zur Website der Satirezeitschrift Zaytung
und bekam dafür im April dieses Jahres [2015] ein Jahr Gefängnisstrafe auf
Bewährung.
Die
zentralistische Kontrolle des Bildungswesens ist ein Dauerproblem, das die
konservative Regierung der AKP zu beheben versprach, als sie [2002] an die
Macht kam. Letztlich verschärfte sie es aber. Die Universitätsverwaltungen
greifen auch immer mehr in kulturelle Aktivitäten und künstlerische Events ein.
Das alljährliche Festival der Dokumentarfilme an der Ege Universität in Izmir wurde bspw. im April kurzfristig abgesagt.
Die Studierenden setzten eine Petition auf change.org
auf, um die Fortführung des seit sieben Jahren stattfindenden Filmfestivals zu
erwirken.
An Ankaras Gazi Universität wurden 2013 eines
Nachts zwei Skulpturen des berühmten österreichischen Künstlers Heinrich
Krippel entfernt – es waren Akte. Im
Jahr davor wurde an sieben großen Universitäten des Landes – Marmara, Atatürk, Gazi,
Fatih, Turgut Özal, Akdeniz und Gümüşhane
– der zensierte Internetzugang für
alle Studierenden obligatorisch.
Der erfolgreiche
Versuch des Rektors der Istanbuler
Technischen Universität dieses Jahr [2015], den Zugriff auf einen
kritischen Artikel in der Zeitung Radikal
zu blockieren, ist ein weiteres Beispiel von Zensur. Der Rektor erwirkte eine
gerichtliche Verfügung gegenüber der Zeitung, weil sie über sein Versagen,
akademische Freiheiten auf dem Campus zu erhalten, kritisch berichtet hatte.
Im selben Monat
beschwerte sich ein/e Student/in [1] im Grundstudium über Akt-Malereien an den
Wänden in der Bibliothek der Çukurova
Universität. Seine/ihre Begründung: Die Gemälde würden die Studierenden
ablenken. Als eine Zeitung darüber berichtete, nahm die Bibliothek die Bilder
umgehend von der Wand und begründete dies in einem öffentlichen Statement
damit, die Gemälde seien „zu alt“.
Die neuen
Regularien des YÖK und solche nur scheinbar zufälligen Ereignisse sind Teil
einer Verschiebung im türkischen Bildungssystem und in der Frage, was
gegenwärtig an den Universitäten noch erlaubt ist. Vergangenes Jahr wurde der
90. Jahrestag der Verabschiedung des Gesetzes
zur Vereinheitlichung der Bildung von 1924 begangen. Dieses Gesetz
ermöglichte es dem türkischen Staat, jeden Aspekt des Bildungswesens
dahingehend zu kontrollieren, dass alle diesbezüglichen Institutionen unter dem
Dach des Bildungsministeriums zusammengefasst wurden.
Im Jahr 2013 sah
das Vorstandsmitglied des religiös-konservativen Vereins für Menschenrechte und Solidarität mit den Unterdrückten
(türkisch: Mazlum-Der), Beytullah
Emrah Önce, die dringende Notwendigkeit, dieses Gesetz abzuschaffen. So könne
damit begonnen werden, die bedrückende, repressive und verleugnende Denkart der
Regierung zu überwinden.
Das Bildungssystem
der Türkei bleibt aber wohl antidemokratisch, solange der YÖK weiter seines Amtes
waltet und die Universitätsbürokratien ihre Regieanweisungen aus seinen
Vorschriften entnehmen. In ihrer Programmschrift für die Wahlen in diesem Juni
[2015] versprach die regierende AKP, den Hochschulrat zu reformieren. Doch
bedeutet das im Grunde nur, dass diese Institution weiter bestehen wird – eben unter anderen Regelungen.
„Die Universitäten
verfügen nicht über genügend Autonomie“, so Sarphan Uzunoğlu. „Die
Sicherheitspolitik der Universitätsbürokratien beschneidet die Meinungsfreiheit
und verunmöglicht gemeinsame intellektuelle Aktivitäten. Selbstzensur ist kein
individueller Mechanismus für uns. Es gibt ein repressives Umfeld sowohl für
Studierende als auch für Lehrende. Indem die meisten bürokratischen
Vorgehensweisen durch Gesetze und Personal im höheren Verwaltungsdienst
kontrolliert werden, steht praktisch jede intellektuelle Regung unter
Beobachtung.“ Dabei gehe die Beschneidung akademischer Freiheiten Hand in Hand
mit einer noch grundsätzlicheren Verschiebung von einem staatlich betriebenen Bildungssystem
hin zu einem System, das auf neoliberalen Prinzipien beruht.
„Diese zweite
Verschiebung ist ökonomischer Natur“, so Uzunoğlu. „Staatliche Universitäten
sind schwächer denn je, während die Anzahl privater Colleges mit hohen
Studiengebühren täglich wächst. Wenn du über genügend Geld verfügst, ist dir
der Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung ‚gestattet‘, wohingegen für die
unteren Klassen der Zugang zu guter Bildung fast unmöglich ist.“ Dessen
ungeachtet sei aber auch die Vorstellung, an den Privatunis gäbe es eine
vergleichsweise Freiheit, eine Illusion, betont Uzunoğlu.
Um sich die
Situation von (fehlender) Freiheit in Forschung und Lehre an den Universitäten
eindrücklich vor Augen zu führen, vergleiche man den Fall von zwei Konferenzen
über die Massaker an den osmanischen Armeniern. Die erste Konferenz fand im
Jahr 2005 statt, die zweite war auf April 2015 angesetzt. Die Konferenz von
2005 sollte an der Bosporus Universität
in Istanbul stattfinden, angesehene Referent_innen waren geladen, darunter der
renommierte Journalist und Herausgeber Hrant Dink und die Schriftstellerin Elif
Safak. Die Konferenz wurde abrupt abgesagt, nachdem ein nationalistischer
Anwalt beim Amtsgericht eine einstweilige Verfügung erwirkt hatte.
„Ich kann einer
solchen Entscheidung, die die Durchführung einer Veranstaltung absagt, auf der
Teilnehmende ihre Ansichten frei äußern, nicht zustimmen“, sagte der damalige
Premier Recep Tayyip Erdoğan. Also fand die Konferenz schließlich an der
privaten Bilgi Universität statt.
Trotz der Versuche von Protestierenden, die Redner_innen daran zu hindern, die
Veranstaltungsräume zu betreten, war die Veranstaltung ein Erfolg und
Meilenstein für die akademische Freiheit in der Türkei.
Als
Wissenschaftler_innen türkischer Universitäten und der Universität von Kalifornien 2015 am selben Ort eine ähnliche
Konferenz organisieren wollten, im Jahr des hundertsten Jahrestages der
Massenermordungen an den osmanischen Armeniern, lehnte die Bilgi Universität ab. In einem Statement sagte sie, sie habe
überhaupt nie eine Bewerbung von den Konferenzorganisator_innen erhalten. Die
Organisator_innen wiederum betonten, die Universität habe nicht nur ihre
Bewerbung angenommen, sondern die Veranstaltung sogar angekündigt, aber
anschließend von ihrer Website gelöscht. Solch ein Zwischenfall, falls
erwiesen, scheint auf eine neue, düsterere Atmosphäre der Zensur hinzudeuten.
___________________________
[1]
Geschlecht ist nicht bekannt.
Das
englische Original dieses Artikels erschien in der Zeitschrift Index on
Censorship. Silence on campus: How a Turkish historian got death
threats for writing an exam question, June 2015, vol. 44 no. 2, 10-13.