Donnerstag, 14. April 2016

Stille auf dem Campus

Von Kaya Genç

Ein Dozent verbrachte am Institut für politische Wissenschaften der Ankara-Universität einen Abend damit, Fragen für eine anstehende Prüfung vorzubereiten. Nicht eine Sekunde lang hätte er geglaubt, dass eine der Prüfungsfragen zu Todesdrohungen gegen ihn führen würde – Schriftsteller und Literat Kaya Genç berichtet von den heftigen Auseinandersetzungen über die Freiheit von Forschung und Lehre.

Reşat Barış Ünlü ist ein beliebter Dozent am Institut für politische Wissenschaften der Ankara Universität und den meisten bekannt durch seine Biografie über den türkischen Sozialistenführer Mehmet Ali Aybar. Als Wissenschaftler der Geschichte politischer Bewegungen im Osmanischen Reich gab Ünlü seinen Studierenden die Aufgabe, das „Kurdistan Manifest“ von Abdullah Öcalan, den inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, zu analysieren. Öcalan verbringt eine lebenslängliche Haftstrafe auf der Insel Imrali im Marmara-Meer und hat in den vergangenen Jahren die Gespräche/Verhandlungen mit der türkischen Regierung im sogenannten „Friedensprozess“ geführt. Für seine neue Rolle als Friedensstifter fanden einige Politiker der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) durchaus lobende Worte und das öffentlich.

Aber für die nationalistische Zeitung Vahdet (türkisch für Einheit/Eintracht oder Einzigartigkeit) kam die Aufgabe, Öcalans frühes Revolutionsmanifest zu analysieren, Hochverrat gleich. „Was ist das für eine Universität?“ kreischte die Überschrift in Vahdet. „Dieser Dozent namens Barış Ünlü gibt seinen Studenten doch glatt Aufgaben zu Abdullah Öcalan. Er spricht in seinen Seminaren über ihn, als sei er eine ‚Führungsfigur’. Er stellt seinen Studenten die PKK als die ‚kurdische Bewegung‘ dar.“ Der Zeitungsartikel endet damit, dass Akademiker_innen und Journalist_innen eine ähnliche Strategie wählten, um ihren ‚terroristischen Aktivitäten‘ nachzugehen: Sie würden sich „unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit“ verstecken. Aufgrund dieses Artikels und einer Hasskampagne in den sozialen Netzwerken erhielt Ünlü mehrfach Morddrohungen.

Es ist wohl eher die Ausnahme, dass bei einer Prüfung der Dozent, der die Fragen stellt, am Ende mehr eingeschüchtert ist als seine Studierenden. Und obwohl Ünlü keiner disziplinarischen Maßnahme durch seine Universität unterworfen wurde, musste er in Todesangst leben, nur weil er einer rechtmäßigen akademischen Tätigkeit nachgegangen war.

Der Fall Ünlü steht exemplarisch für ein Klima der Angst mit Blick auf die Freiheit von Forschung und Lehre in der Türkei, wo eine einzige Entscheidung eine sorgfältig aufgebaute Karriere zerstören kann. „Es gibt eine Identitätskrise im türkischen Bildungssystem“, meint Sarphan Uzunoğlu, Dozent an der Kadir Has Universität in Istanbul. „Die meisten Studierenden, die keinen sunnitischen Hintergrund haben, können ihre religiösen Identitäten nicht offen zeigen. Verpflichtender Religionsunterricht ist eines der Hauptprobleme unseres Bildungssystems. Konservativer Sunnit zu sein, ist ‚gestattet’. Demgegenüber befinden sich Kurden, Christen, Juden, Aleviten oder Shia-Muslime in einer Situation der Unterdrückung.“

Nahezu jeder kennt die strukturellen Gründe, die den Beeinträchtigungen der Freiheit von Forschung und Lehre in der Türkei zugrunde liegen. Der Hochschulrat (türkisch: Yükseköğretim Kurulu, YÖK) ist berüchtigt für seine umfangreiche Überwachung des akademischen Lebens an allen Universitäten der Türkei. Er wurde 1981, ein Jahr nach dem Militärputsch vom 12. September 1980, gegründet. Die Hauptaufgabe von YÖK besteht darin, sicherzustellen, dass alle Universitäten des Landes gemäß der Richtlinien des türkischen Staatsapparates geführt werden. Schon seit langer Zeit mischt sich der Hochschulrat in Details des akademischen Betriebs ein. Das umfasst Vorgaben bis zu der Frage, ob das akademische Personal Bärte und Kopftücher tragen darf.

Die Restriktionen der Aktivitäten des akademischen Personals ändern sich zwar in Abhängigkeit vom politischen Klima, aber die Entschlossenheit, das universitäre Leben zu kontrollieren, bleibt konstant. Gerade vergangenes Jahr kündigte der YÖK neue Regularien an, die erwartungsgemäß großen Einfluss auf das Wirken von Akademiker_innen in der Türkei hatten: Die neuen Vorschriften verboten es Wissenschaftler_innen, „abgesehen von wissenschaftlichen Debatten und Statements irgendwelche Informationen oder persönliche Ansichten in den Medien, Nachrichtenagenturen und in Funk und Fernsehen zu verbreiten.“ Auf diese neue Art wurde der akademischen Community in der Türkei zu verstehen gegeben, dass sie über öffentliche Themen zu schweigen hat — just zu einer Zeit, in der die Türkei sich in einer Ära beispielloser sozialer Unruhen befand.

Studierende trifft der Druck auch in den sozialen Medien: Eine Studentin im Grundstudium an der Anadolu Universität twitterte den Link zur Website der Satirezeitschrift Zaytung und bekam dafür im April dieses Jahres [2015] ein Jahr Gefängnisstrafe auf Bewährung.

Die zentralistische Kontrolle des Bildungswesens ist ein Dauerproblem, das die konservative Regierung der AKP zu beheben versprach, als sie [2002] an die Macht kam. Letztlich verschärfte sie es aber. Die Universitätsverwaltungen greifen auch immer mehr in kulturelle Aktivitäten und künstlerische Events ein. Das alljährliche Festival der Dokumentarfilme an der Ege Universität in Izmir wurde bspw. im April kurzfristig abgesagt. Die Studierenden setzten eine Petition auf change.org auf, um die Fortführung des seit sieben Jahren stattfindenden Filmfestivals zu erwirken.

An Ankaras Gazi Universität wurden 2013 eines Nachts zwei Skulpturen des berühmten österreichischen Künstlers Heinrich Krippel entfernt es waren Akte. Im Jahr davor wurde an sieben großen Universitäten des Landes Marmara, Atatürk, Gazi, Fatih, Turgut Özal, Akdeniz und Gümüşhane der zensierte Internetzugang für alle Studierenden obligatorisch.

Der erfolgreiche Versuch des Rektors der Istanbuler Technischen Universität dieses Jahr [2015], den Zugriff auf einen kritischen Artikel in der Zeitung Radikal zu blockieren, ist ein weiteres Beispiel von Zensur. Der Rektor erwirkte eine gerichtliche Verfügung gegenüber der Zeitung, weil sie über sein Versagen, akademische Freiheiten auf dem Campus zu erhalten, kritisch berichtet hatte.

Im selben Monat beschwerte sich ein/e Student/in [1] im Grundstudium über Akt-Malereien an den Wänden in der Bibliothek der Çukurova Universität. Seine/ihre Begründung: Die Gemälde würden die Studierenden ablenken. Als eine Zeitung darüber berichtete, nahm die Bibliothek die Bilder umgehend von der Wand und begründete dies in einem öffentlichen Statement damit, die Gemälde seien „zu alt“.

Die neuen Regularien des YÖK und solche nur scheinbar zufälligen Ereignisse sind Teil einer Verschiebung im türkischen Bildungssystem und in der Frage, was gegenwärtig an den Universitäten noch erlaubt ist. Vergangenes Jahr wurde der 90. Jahrestag der Verabschiedung des Gesetzes zur Vereinheitlichung der Bildung von 1924 begangen. Dieses Gesetz ermöglichte es dem türkischen Staat, jeden Aspekt des Bildungswesens dahingehend zu kontrollieren, dass alle diesbezüglichen Institutionen unter dem Dach des Bildungsministeriums zusammengefasst wurden.

Im Jahr 2013 sah das Vorstandsmitglied des religiös-konservativen Vereins für Menschenrechte und Solidarität mit den Unterdrückten (türkisch: Mazlum-Der), Beytullah Emrah Önce, die dringende Notwendigkeit, dieses Gesetz abzuschaffen. So könne damit begonnen werden, die bedrückende, repressive und verleugnende Denkart der Regierung zu überwinden.

Das Bildungssystem der Türkei bleibt aber wohl antidemokratisch, solange der YÖK weiter seines Amtes waltet und die Universitätsbürokratien ihre Regieanweisungen aus seinen Vorschriften entnehmen. In ihrer Programmschrift für die Wahlen in diesem Juni [2015] versprach die regierende AKP, den Hochschulrat zu reformieren. Doch bedeutet das im Grunde nur, dass diese Institution weiter bestehen wird eben unter anderen Regelungen.

„Die Universitäten verfügen nicht über genügend Autonomie“, so Sarphan Uzunoğlu. „Die Sicherheitspolitik der Universitätsbürokratien beschneidet die Meinungsfreiheit und verunmöglicht gemeinsame intellektuelle Aktivitäten. Selbstzensur ist kein individueller Mechanismus für uns. Es gibt ein repressives Umfeld sowohl für Studierende als auch für Lehrende. Indem die meisten bürokratischen Vorgehensweisen durch Gesetze und Personal im höheren Verwaltungsdienst kontrolliert werden, steht praktisch jede intellektuelle Regung unter Beobachtung.“ Dabei gehe die Beschneidung akademischer Freiheiten Hand in Hand mit einer noch grundsätzlicheren Verschiebung von einem staatlich betriebenen Bildungssystem hin zu einem System, das auf neoliberalen Prinzipien beruht.

„Diese zweite Verschiebung ist ökonomischer Natur“, so Uzunoğlu. „Staatliche Universitäten sind schwächer denn je, während die Anzahl privater Colleges mit hohen Studiengebühren täglich wächst. Wenn du über genügend Geld verfügst, ist dir der Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung ‚gestattet‘, wohingegen für die unteren Klassen der Zugang zu guter Bildung fast unmöglich ist.“ Dessen ungeachtet sei aber auch die Vorstellung, an den Privatunis gäbe es eine vergleichsweise Freiheit, eine Illusion, betont Uzunoğlu.

Um sich die Situation von (fehlender) Freiheit in Forschung und Lehre an den Universitäten eindrücklich vor Augen zu führen, vergleiche man den Fall von zwei Konferenzen über die Massaker an den osmanischen Armeniern. Die erste Konferenz fand im Jahr 2005 statt, die zweite war auf April 2015 angesetzt. Die Konferenz von 2005 sollte an der Bosporus Universität in Istanbul stattfinden, angesehene Referent_innen waren geladen, darunter der renommierte Journalist und Herausgeber Hrant Dink und die Schriftstellerin Elif Safak. Die Konferenz wurde abrupt abgesagt, nachdem ein nationalistischer Anwalt beim Amtsgericht eine einstweilige Verfügung erwirkt hatte.

„Ich kann einer solchen Entscheidung, die die Durchführung einer Veranstaltung absagt, auf der Teilnehmende ihre Ansichten frei äußern, nicht zustimmen“, sagte der damalige Premier Recep Tayyip Erdoğan. Also fand die Konferenz schließlich an der privaten Bilgi Universität statt. Trotz der Versuche von Protestierenden, die Redner_innen daran zu hindern, die Veranstaltungsräume zu betreten, war die Veranstaltung ein Erfolg und Meilenstein für die akademische Freiheit in der Türkei.

Als Wissenschaftler_innen türkischer Universitäten und der Universität von Kalifornien 2015 am selben Ort eine ähnliche Konferenz organisieren wollten, im Jahr des hundertsten Jahrestages der Massenermordungen an den osmanischen Armeniern, lehnte die Bilgi Universität ab. In einem Statement sagte sie, sie habe überhaupt nie eine Bewerbung von den Konferenzorganisator_innen erhalten. Die Organisator_innen wiederum betonten, die Universität habe nicht nur ihre Bewerbung angenommen, sondern die Veranstaltung sogar angekündigt, aber anschließend von ihrer Website gelöscht. Solch ein Zwischenfall, falls erwiesen, scheint auf eine neue, düsterere Atmosphäre der Zensur hinzudeuten.

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[1] Geschlecht ist nicht bekannt.

Das englische Original dieses Artikels erschien in der Zeitschrift Index on Censorship. Silence on campus: How a Turkish historian got death threats for writing an exam question, June 2015, vol. 44 no. 2, 10-13.