Von
Errol Babacan, Murat Çakır und Andrea Neugebauer
Editorial zum Dossier Nr.
82 in Wissenschaft & Frieden 2016-2
Drei Jahre nach Aufnahme von Verhandlungen zwischen der AKP und der PKK muss
nicht nur deren Scheitern, sondern auch eine militärische Eskalation
festgestellt werden, die qualitativ neue Züge trägt. Das Dossier
stellt Artikel zusammen, die Ursachen der aktuellen Eskalation diskutieren und Einsichten in den Charakter des Konflikts vermitteln.
Anfang 2013 rief der
inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan nach Gesprächen mit der türkischen
Regierung den Beginn einer demokratischen Ära aus. Die Waffen sollten einem
Wettbewerb der Ideen weichen, die Guerilla sich aus der Türkei zurückziehen.
Die PKK-Führung im Irak zeigte sich skeptisch, verkündete aber doch einen
Waffenstillstand. Die Skepsis der PKK war durch die abrupte Kehrtwende der
türkischen Regierung begründet, die noch kurz zuvor die „totale
Eliminierung“ der kurdischen Bewegung als Ziel formuliert hatte. Mit den
nachfolgenden Verhandlungen keimten Hoffnungen auf, dass der seit mehr als 30
Jahren anhaltende bewaffnete Konflikt befriedet und die wesentlich ältere »kurdische
Frage« mit zivilen Mitteln gelöst werden könnte.
Drei Jahre später muss
nicht nur das Scheitern der Verhandlungen, sondern auch eine militärische
Eskalation des Konflikts festgestellt werden, die qualitativ neue Züge trägt.
Seit Monaten werden urbane Zentren der überwiegend kurdisch besiedelten Region
in der Türkei bombardiert. In dicht bewohnten Stadtvierteln großer Städte wie
Diyarbakir findet ein Häuserkampf zwischen einer Stadtguerilla und dem
türkischen Militär statt.
Das vorliegende Dossier
stellt Artikel zusammen, die Ursachen der aktuellen Eskalation diskutieren,
Einsichten in den Charakter des Konflikts vermitteln wollen und dabei zu
unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Arzu Yılmaz beleuchtet die Eskalation
im Kontext der regionalen Entwicklungen und legt dar, dass der
»Friedensprozess« von Anfang an problematisch war. Während in der Türkei über
Frieden gesprochen wurde, entwickelte sich in Syrien ein Stellvertreterkrieg.
Die Unterstützung islamistischer Milizen durch die türkische Regierung
verhinderte jedoch nicht, dass sich mit »Rojava« ein – nach dem Irak – zweites
kurdisches Autonomieprojekt herausbildete. Die militärischen Verbände dieses
Projekts, die von der PKK maßgeblich unterstützt wurden, gingen überdies mit
den USA eine Kooperation ein, die mit den Interessen des US-amerikanischen
NATO-Partners Türkei nicht zu vereinbaren war. Eine Lösung des Konflikts könne
vor diesem Hintergrund nur durch eine Internationalisierung von Friedensverhandlungen
erreicht werden, so Yılmaz.
Errol Babacan befasst
sich mit gesellschaftlichen Ursachen der Widersprüche zwischen der kurdischen
Bewegung und der türkischen Regierungspartei AKP und fragt nach der Möglichkeit
eines Kompromisses zwischen ihnen. Er kommt zu der Ansicht, dass die AKP –
durch die Eskalation innenpolitisch eher gestärkt – zu keinen Abstrichen an
ihrem islamisch-nationalistischen Kernprojekt bereit sei, wodurch eine
Verhandlungslösung verunmöglicht werde. Babacan sieht ein Dilemma: Militärisch
sei der Konflikt nicht lösbar, eine Annäherung mit »zivilen« Mitteln sei aber
nur unter Aufgabe von Inhalten denkbar, durch die die Akteure sich definieren
und ihre gesellschaftliche Macht organisieren.
Joost Jongerden befasst
sich in seinem Beitrag mit dem Projekt »Demokratische Autonomie«, das auf eine
philosophische Auseinandersetzung Öcalans mit Nation und Staat zurückgeht. Er
berichtet von einem dichten politischen und sozialen Netzwerk, das die kurdische
Bewegung errichtet habe und das den Anspruch erhebe, eine alternative Form der
Vergesellschaftung von unten zu organisieren. Mit Beispielen aus der kurdischen
Metropole Diyarbakir veranschaulicht Jongerden diesen Ansatz.
Norman Paech fragt nach
den internationalen Regeln für einen Krieg, den er als Bürgerkrieg
klassifiziert, und legt dar, warum sie eine Asymmetrie zwischen den kämpfenden
Parteien entstehen lassen. Paech stellt jedoch klar, dass Staaten das
humanitäre Völkerrecht bzw. die Regeln der Genfer Konventionen einhalten
müssten und die aktuellen Kriegshandlungen der Türkei ein Vergehen gegen das
Völkerrecht seien.
Schließlich zeichnet Ulla
Jelpke in ihrem Beitrag nach, wie die Bundesrepublik Deutschland, durch
Bündnis- und Wirtschaftsinteressen motiviert, kurdische Aktivitäten in
Deutschland unterdrückt (hat). Die Einstufung der PKK als terroristische
Vereinigung setzte zivile und demokratische Aktivitäten kurdisch-stämmiger
BürgerInnen und auf sie bezogene Solidarität strafrechtlicher Verfolgung aus.
Insbesondere vor dem Hintergrund der internationalen Anerkennung des Kampfes
der kurdischen Bewegung gegen den »Islamischen Staat« plädiert Jelpke für ein
Überdenken der bundesdeutschen Politik.
Das Dossier kann nur
einige der Aspekte, die für eine kritische Betrachtung und Bewertung des
Konflikts von Bedeutung sind, aufnehmen. Weitere Themen, die uns von besonderer
Relevanz erscheinen, sind die Auswirkungen des so genannten
Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei sowie eine ausführlichere
Betrachtung der bundesdeutschen Außenpolitik in der Nahostregion. Denn
militärische Ausbildung für und Waffenlieferungen an irakisch-kurdische
Peschmerga haben zu einer unmittelbaren Beteiligung geführt, die im Rahmen der
»Anti-IS-Allianz« um weitere militärische Einsatzmittel ergänzt wurde. Ferner
wäre eine geopolitische Einbettung des Konflikts, die über den Rahmen der von
Yılmaz diskutierten Zusammenhänge hinaus reicht, wichtig für eine umfassendere
Einschätzung. Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach den Auswirkungen des
Krieges in der Osttürkei für die westtürkischen Metropolen, in denen Millionen
Kurdinnen und Kurden leben, die durch ihre Herkunft in den Konflikt verwickelt
sind, ob sie wollen oder nicht.
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