Die türkische Juni-Revolte von 2013 sowie der andauernde Machtkampf innerhalb des politischen Islam haben hierzulande das Interesse an den Entwicklungen in der Türkei belebt. Das Angebot an differenziert-kritischer Literatur in deutscher Sprache ist derweil begrenzt, und nicht wenige WissenschaftlerInnen und JournalistInnen haben sich in den letzten Jahren durch eine unkritische Nähe zur Regierung oder eine undifferenzierte Lobhuldigung des nunmehr kollabierten „türkischen Wirtschaftswunders“ als AnalytikerInnen diskreditiert. Gezi bildete in diesem Kontext ein Ereignis, das half, auch hierzulande oppositionelle Deutungen aus der Türkei bekannt zu machen. Die gilt freilich vor allem für politisch-identitäre Fragen. Der kritische Diskurs zur politischen Ökonomie in der Türkei ist in der Bundesrepublik weitgehend unbekannt, auch unter Wissensschaffenden und politisch Aktiven.
Ilker
Atac verspricht mit dem vorliegenden Buch, das eine überarbeitete Fassung
seiner Dissertation darstellt, "die unterschiedlichen Phasen des
Neoliberalismus fest[zu]stellen und dessen Folgen für die Umstrukturierung des
Verhältnisses von Staat und Ökonomie [zu] analysieren" (181). Den
türkischen Neoliberalismus, der 1980 mittels eines orthodoxen
IWF-Strukturanpassungsprogramms eingeführt worden war, gliedert er in drei
Phasen:
Am
Anfang stand demnach der Versuch ein liberales,
exportorientiertes Entwicklungsmodell (43) zu etablieren. Nicht zuletzt eine
Senkung der Löhne aktivierte anfangs
bestehende Produktionskapazitäten für den Export, führte aber nicht zum
Ausbau neuer Kapazitäten. Das Modell
geriet in den späten 1980er Jahren in die Krise, nachdem graduelle politische
Liberalisierungen ein Wiedererstarken der Gewerkschaftsbewegung ermöglichten.
Die Öffnung des türkischen Finanzmarktes ab 1989 brachte einen neuen
Wachstumsimpuls: Konsum und Importe konnten durch eine gesteigerte
Kreditaufnahme ausgeweitet werden. Vor allem spielten die wachsenden
Fiskaldefizite des Staates und das hohe Zinsniveau eine wichtige Rolle für den
Akkumulationsprozess, der sich vor diesem Hintergrund immer stärker in den
Bankensektor verlagerte. Türkische Banken nahmen dabei günstig Kredite auf den
internationalen Kapitalmärkten auf und
investierten sie in hochverzinsliche Anleihen des türkischen Staates, dies
geschah auf Kosten der Finanzierung des Produktionssektors. Dieses
„staatszentrierte finanzielle Akkumulationsregime“ war nicht nur auf Grund
seiner internen Verfassung instabil und reagierte darüber hinaus empfindlich
auf die Schwankungen der internationalen
Kapitalmärkte. So führten die häufigen Krisen der neunziger Jahre erneut zu
Einbußen bei den Reallöhnen. Die
große Krise des Jahres 2001 bildete nach Atac den Beginn der Reformulierung des
neoliberalen Paradigmas nach dem Post-Washington-Konsensus, der in Türkei in
Form des Güçlü Ekonmiye Geçiş Programı
(GEGP, Programm zum Übergang in eine starke Ökonomie) implementiert wurde: Der
türkische Staat verfolgte in diesem Rahmen
eine von neuen bzw. gestärkten unabhängigen Regulierungsagenturen
überwachte Austeritätspolitik. An die Stelle staatszentrierter finanzieller
Akkumulation trat nunmehr ein kreditbasierter Finanzialisierungsprozess, der
wesentlich auf Steigerungen von Privatkonsum und -verschuldung sowie einer
vertieften Integration in die internationalen Geldmärkte basierte, während das
Problem der geringen Investitionen in die Industrie bestehen blieb. Ein
vergleichsweise stabiles globalökonomisches Umfeld und das Vertrauen der
internationalen InvestorInnen in die neue Stabilität der Türkei führten zu hohen Zuflüssen ausländischen Kapitals, das
dazu beitrug, die parallel zum ökonomischen Wachstum steigenden
Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren. Dies ermöglichte gerade auch den
Mittelschichten einen auf Kredit basierenden Konsumschub und generierte nicht
zuletzt gesellschaftliche Zustimmung für die seit Ende 2002 regierende AKP.
Letztere formulierte keine eigene Wirtschaftspolitik, sondern betrieb bis zum
Ende des Analysezeitraums (2007) im Wesentlichen die Umsetzung des GEGP.
Zentrale
Dynamiken des türkischen Neoliberalismus seit 1980 stellt Ataç durch
Aufarbeitung der einschlägigen kritisch-politökonomischen Literatur aus der
Türkei gut verständlich dar; dies gilt insbesondere für den ebenso komplexen
wie engen Zusammenhang zwischen Fiskalpolitik, Zinspolitik und der Konstitution
von Akkumulationsregimen. So wird klar, warum die führenden Kapitalgruppen und
Banken in der Türkei seit den neunziger Jahren selbst auf die Implementierung
des Post-Washington-Konsensus gedrängt hatten, die ab 2001 schließlich in Form
des GEGP erfolgte. Ataç bezeichnet dies als „Interiorisierung weltumspannender
Kräfteverhältnisse“.
Allerdings
verspricht Ataç mehr, wenn er eingangs kritisiert, dass „in
regulationstheoretischen Analysen peripherer Gesellschaften (...) die
Außenwirtschaftsbeziehungen im Handel- und Geldbereich im Mittelpunkt“ (14)
stehen und „Fragen nach der Transformation von Staatlichkeit, nach politischen
Auseinandersetzungen sowie nach der Verbindung von Kräfteverhältnissen und
gesellschaftlichen Projekten“ eine „Lücke in der regulationstheoretischen
Forschung bilden“ (15). Eben dies hätte eine systematischere staats- und
hegemonietheoretische Erweiterung (seines an sich überzeugend entwickelten)
regulationstheoretischen Ansatzes sowie eine systematische Analyse
gesellschaftlicher Konflikte jenseits von Fragen der unmittelbar
makroökonomischen Regulation erfordert. So untersucht er zwar die
Umstrukturierung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie mit einem klaren
Fokus auf die Schaffung neuer, direkt dem Ministerpräsidenten unterstellter
Apparate, die in den in der 1980er Jahren den Neoliberalisierungsprozess
forcierten, sowie die Etablierung unabhängiger, „depolitisierter“
Regulierungsagenturen, die diesen Prozess in den 2000er Jahren konsolidierten.
Doch leider verschränkt Ataç diese Prozesse nicht konsequent genug mit der
Entstehung, Bedeutung und Wirkgeschichte gesellschaftlicher Projekte. Es findet
sich zwar ein kurzer Exkurs zum „Özalismus“, dem liberal-konservativen
Populismus der achtziger Jahre, wer aber etwas über die Reformulierung des
politischen Islam im Kontext des Neoliberalisierungsprozesses sucht, die
immerhin eine Voraussetzung dafür war, dass sich auch die islamistische AKP
aktiv auf das GEGP verpflichten konnte, wird im vorliegenden Buch nicht fündig.
Sein
Buch bleibt damit im Kern eine regulationstheoretische Analyse der politischen
Ökonomie der Türkei bis 2007, die systematisch auf Prozesse Fiskalpolitik,
Staatsfinanzierung, Zinspolitik fokussiert ist und deren Implikationen für die
Entwicklung des produzierenden Sektors sowie des Handels erläutert. Das
Versprechen, die Umstrukturierung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie zu
analysieren, löst es indes nicht ein. Ein solches Versprechen hätte der Autor
allerdings auch nicht zwingend geben müssen, denn in Deutschland herrscht
ohnehin eine weitgehende Unkenntnis der kritisch-politökonomischen Debatten in
der Türkei und folglich eine große Lücke für schlüssige regulationstheoretische
Beiträge. Festzuhalten bleibt insofern: Das vermeintliche türkische
Wirtschaftswunder hat auch innerhalb einer kritischen deutschen Öffentlichkeit
zu lange Bewunderung erfahren – Ataçs Studie trägt dazu bei, dieses Wunder zu
entzaubern.