Die demokratischen Institutionen in der Türkei sind
gegenwärtig auf die Behinderung politischer Partizipation ausgerichtet, so auch
während der Kommunalwahlen. Das Wirken bürgerschaftlicher Initiativen, die die
Wahlen an zahlreichen Orten in der Türkei begleiteten und Manipulationsvorwürfe
auswerteten, war seitens der Behörden keineswegs willkommen. Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des Wahlergebnisses bleiben bestehen, von einer unabhängigen Überprüfung kann
keine Rede sein.
Als die Gezi-Protestierenden im letzten Sommer den Park besetzten und ihre
Frustration über die Regierung auf die Straße brachten, sagte ihnen Premierminister
Erdoğan, sie sollten „geduldig sein und die Konfrontation an der Wahlurne abwarten.“
Exakt gegen jenes reduktionistische Verständnis von Demokratie, welches
politische Legitimität auf Wahlen begrenzt und eine kompromisslose,
polarisierende Haltung gegenüber der Opposition einnimmt, standen die
Demonstrierenden. Doch anders als ähnliche politische Bewegungen in den USA und
Westeuropa, die das Wirken über Wahlen aufgegeben haben, nahmen die
Gezi-Protestierenden Erdoğans Aufruf ernst und machten von ihren Stimmen am 30.
März Gebrauch. Ihre Bewegung konnte nicht zu einer politischen Partei
anwachsen, welche die Anliegen der Multitude im Park ansprach, während die
Oppositionsparteien nicht auf das pluralistische und aktive Bürgerschaftsverständnis
eingehen konnten, das die Protestierenden verkörperten und einforderten. Aber
das Misstrauen in institutionalisierte Politik führte zu einer Reihe von
bürgerschaftlichen Initiativen, die tausende Freiwillige mobilisierten, während
und nach den Wahlen als Beobachter_innen aktiv zu sein. Obwohl Twitter zum
Zeitpunkt der Wahlen verboten war, waren Möglichkeiten gefunden worden, das
Verbot technisch zu umgehen. Die Nutzung von Twitter durch zahlreiche Gruppen
sollte eine wichtige Rolle bei der selbstorganisierten Beobachtung der Wahlen spielen.
Bürgerschaftliches Engagement nach Gezi
140journos ist eine dieser bürgerschaftlichen
Gruppen, die sich auf das Berichten über die
lokalen Wahlen konzentrierte, damit der Wahltag reibungslos und transparent verlief.
Sie haben bereits an einer neuen Platform, Journos,
gearbeitet, die die täglich eintreffenden Berichte von hunderten
Bürger_innen-Gruppen verifizieren, auswerten und kontextualisieren. Der 30.
März war für die Initiative ein wichtiger Tag, weil sie mit anderen bürgerschaftlichen
Wahlbeobachtungsgruppen, wie Vote and
Beyond, zusammenarbeitete, um ihre neuen Hilfsmittel und Methoden
auszuprobieren. Nach seiner Motivation befragt, sagte Engin von der Initiative
mir: „Wir haben Journos gegründet, weil wir in das Recht der Menschen auf
Wissen glauben. (...) In diesem besonderen Sinne sind wir nicht
notwendigerweise hinsichtlich der Frage besorgt, wer die Wahlen gewinnt,
sondern wie sie gewonnen werden.“ Und: „Wir wussten, dass es ein fordernder Tag
werden würde“ aber „was am 30. März und in den folgenden Tagen passierte, ging
über unsere Erwartungen hinaus.“
Die zwanzig Freiwilligen des Journos-Teams
verbrachten den Sonntag damit, sich durch tausende Tweets durchzuarbeiten, die
sie aus vielen Groß- und Kleinstädten der Türkei bis zur Schließung der
Wahllokale erreichten. Sie dokumentierten Einwände, die in den Wahllokalen
erhoben wurden, sowie Konflikte zwischen der Polizei und Menschen, die den
Wahl- und den Zählprozess beobachten wollten. Sie verbreiteten diese Berichte
auf Türkisch und Englisch und erreichten deshalb ein größeres Publikum als
üblich. Zudem fiel ihre Partnerschaft mit den Beobachtungsgruppen mitten in die
wachsende Spannung, die über fast jeder Wahlurne in der Türkei lag. Sie verbreiteten
aber auch einen Brief mit Beanstandungen, die sich als falsch erweisen sollten.
Obwohl sie diesen falschen Bericht unmittelbar korrigierten, hielt dies ihre
Follower nicht davon ab, ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen und sie inmitten
eines spannungsgeladenen Tages zu attackieren.
Sobald die Auszählungen begannen, strömten durch die Timelines türkischer
Twitter-Accounts Berichte über Fälschungen, Stromausfälle und Wahlzettel, die
in Abfallkörben gefunden wurden. Ebenso zirkulierten Aufrufe, zu den
Wahllokalen zu gehen und die Auszählungen zu verfolgen. Und in den
Mainstreammedien berichteten zwei Nachrichtenagenturen jeweils völlig konträre
Ergebnisse. Journos bat seine
Follower die Resultate der lokalen Zählungen zu tweeten. Bereits in den
Wahllokalen anwesende Bürger_innen begannen Bilder der Auszählungsergebnisse zu
machen und schickten sie unter dem Hashtag #SandıkTutanağı zu Journos. Tausende Berichte – mehr als
während der Gezi-Proteste – erreichten Journos
innerhalb weniger Stunden via Twitter, Whatsapp und SMS.
In Ankara, wo sich der AKP-Kandidat Melih Gökçek und der CHP-Kandidat Mansur
Yavaş ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten, meldeten jene Websites, die über den
Verlauf der Auszählung berichteten, plötzlich keine neuen Ergebnisse mehr. Zu
jenem Zeitpunkt stand noch ein signifikanter Anteil von Stimmen aus zwei
CHP-Hochburgen zur Auszählung an und Gökçek führte mit gerade einmal
dreitausend Stimmen. Für beinahe eine Stunde gab es keine weiteren Daten.
Währenddessen berichteten Bürger, dass der Innenminister Efkan Ala mit
Bereitschaftspolizei zum Wahllokal gekommen war und Melih Gökçek derweil das
Gebäude besuchte, das die Höhere Wahlkommission (YSK) beherbergt. Als auf die
Website mit den Zählergebnissen schließlich auf einen Schlag die letzten
Resultate hochgeladen wurden, führte Gökçek mit zwanzigtausend Stimmen.
Ungeachtet der Frage, ob diese Unterbrechung nun Wahlbetrug bedeutete, wuchsen
die Zweifel der Menschen am Wahlverfahren und auf Twitter schnellte die Zahl
neuer Berichte über Zählergebnisse einzelner Wahlurnen in die Höhe.
Mit neuer Software und mehr Freiwilligen arbeitete Journos von Montag bis Dienstagmorgen daran, die von einzelnen
Bürger_innen eintreffenden Ergebnisse mit den auf der Website der
Wahlkommission veröffentlichten offiziellen Ergebnissen abzugleichen. Sie
erstellten die Facebookgruppe “Seçim 2014” (Wahl 2014) und luden
vertrauenswürdige Freunde ein, bei der Überprüfung der Ergebnisse mitzumachen.
Ihr Netzwerk wuchs zu beinahe 300 Freiwilligen heran, die unermüdlich die
Ergebnisse von den zweitausend Wahlurnen überprüften, die sie erreicht hatten.
Als am Morgen des 1. April offizielle Beschwerden über die Wahlen eingelegt
wurden, hatten sie annähernd 250 Unregelmäßigkeiten dokumentiert. Engin betont,
dass sie Unregelmäßigkeiten dokumentiert haben, die zu Gunsten jeder
politischen Partei, inklusive der AKP, wirken können.
Was jedoch auf ihre Beschwerde – und die parallelen Bemühungen der CHP –
folgte, ist nur einen kleiner Ausschnitt davon, wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
in der Türkei inzwischen ausgehöhlt worden sind. Als sich die Protestierenden
vor dem Gebäude der Wahlkommission versammelten und eine Neuauszählung für
Ankara forderten, setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um die Menge auseinander
zutreiben. AKP-Offizielle verdammten jene Freiwilligen und Demonstrierenden,
die protestierend vor den Wahllokalen aushielten oder die Ergebnisse der
Wahlurnen überprüften. „Ihr einziges Ziel ist, Chaos zu schaffen“, sagte Melih
Gökçek über solches bürgerschaftliches Engagement. Als er auf den Stromausfall
in mindestens vier Stadtteilen Ankaras und vierzig Städten in der Türkei
angesprochen wurde, gab Ernergieminister Taner Yıldız eine verblüffende
Antwort: „Dies ist wirklich kein Witz. Der Strom fiel aus, weil eine Katze in
eine Trafostation gestiegen war.“ Festzuhalten bleibt: Obwohl an zahlreichen
Wahlurnen Fälschungen dokumentiert worden waren, lehnte die Wahlkommission für
Ankara den Antrag der CHP auf Neuauszählung der Stimmen ab.
Ist dies die Demokratie, nach der sich der Westen sehnt?
In der Nacht des 30. März grüßte Ministerpräsident Erdoğan freudestrahlend
seine Unterstützer_innen und gab eine harsche Ansprache, in der er erklärte,
dass seine Gegner_innen bei den Wahlen eine „osmanische Ohrfeige“ erhalten hätten.
Er sagte, dass seine Feinde in Politik und im Staat nach seinem Sieg einen
Preis zahlen würden. Die populistisch-nationalistischen Gefühle seiner
politischen Basis ausnutzend, signalisierte er einen Krieg mit Syrien und
forderte den Westen heraus. Während einer seiner hochgradig polarisierenden
Anmerkungen erklärte er: „Die Türkei hat die Demokratie, nach die sich der
Westen sehnt.“ Für jene, die den ganzen Tag über Fälle von Wahlbetrug
dokumentiert und Bereitschaftspolizei an den Wahllokalen erlebt hatten, mag
Erdoğans Äußerung wie ein Scherz erschienen sein. Aber ich muss zugeben, dass
ich ihm zum Teil zustimme. Aus folgendem Grund: Am 30. März hat die Türkei eine
Wahlbeteiligung erlebt, von der westliche Staaten nur träumen können.
Ungeachtet Erdoğans dämonisierender und polarisierender Rhetorik, gaben
insbesondere junge Menschen in der Türkei ihre Stimmen ab und verfolgten, wie
diese gezählt wurden. Sie gingen zu den Wahllokalen, um sicher zu gehen, dass
jede Stimme gezählt wurde. Sie stellten sich den Wasserwerfern entgegen, um vor
der Wahlkommission die Neuauszählung der Stimmen zu fordern. Während sie das
taten, behielten sie ihren Humor, um die irrwitzigen Erklärungen, die von den
AKP-Offiziellen kamen, zu kritisieren.
Während die Menschen in der Türkei unnachgiebig ihre
zivilen Muskeln spielen lassen, ist die Nicht-Reaktion, die von der Regierung
kommt, vollkommen inakzeptabel. Die Menschen sind nicht nur durch Erdoğans
kompromisslose Rhetorik polarisiert, sie werden ebenso aktiv an der politischen
Partizipation gehindert, indem Beschwerden abgelehnt, Wahlstimmen womöglich nicht
gezählt und ihre Bedenken nicht ernst genommen werden. Was für eine Politik ist
in der türkischen Demokratie notwendig, wenn die exekutive Macht gesetzliche
Veränderungen, Wahlergebnisse und selbst juristische Entscheidungen in ihrem
Würgegriff hält?
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*Das englische Original des Artikels erschien am 8. April
2014 bei Jadaliyya:
www.jadaliyya.com/pages/index/17252/digital-platforms-analog-elections_how-civic-group
Wir danken Jadaliyya sowie der Autorin für die
freundliche Erlaubnis, eine leicht überarbeitete deutsche Übersetzung auf
unserem Blog veröffentlichen zu dürfen.