Donnerstag, 29. Mai 2014

Digitale Plattformen, Analoge Wahlen: Wie bürgerschaftliche Gruppen versuchen, die Demokratie in die Türkei zurückzuholen*

Von Burcu Baykurt

Die demokratischen Institutionen in der Türkei sind gegenwärtig auf die Behinderung politischer Partizipation ausgerichtet, so auch während der Kommunalwahlen. Das Wirken bürgerschaftlicher Initiativen, die die Wahlen an zahlreichen Orten in der Türkei begleiteten und Manipulationsvorwürfe auswerteten, war seitens der Behörden keineswegs willkommen. Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses bleiben bestehen, von einer unabhängigen Überprüfung kann keine Rede sein.


Als die Gezi-Protestierenden im letzten Sommer den Park besetzten und ihre Frustration über die Regierung auf die Straße brachten, sagte ihnen Premierminister Erdoğan, sie sollten „geduldig sein und die Konfrontation an der Wahlurne abwarten.“ Exakt gegen jenes reduktionistische Verständnis von Demokratie, welches politische Legitimität auf Wahlen begrenzt und eine kompromisslose, polarisierende Haltung gegenüber der Opposition einnimmt, standen die Demonstrierenden. Doch anders als ähnliche politische Bewegungen in den USA und Westeuropa, die das Wirken über Wahlen aufgegeben haben, nahmen die Gezi-Protestierenden Erdoğans Aufruf ernst und machten von ihren Stimmen am 30. März Gebrauch. Ihre Bewegung konnte nicht zu einer politischen Partei anwachsen, welche die Anliegen der Multitude im Park ansprach, während die Oppositionsparteien nicht auf das pluralistische und aktive Bürgerschaftsverständnis eingehen konnten, das die Protestierenden verkörperten und einforderten. Aber das Misstrauen in institutionalisierte Politik führte zu einer Reihe von bürgerschaftlichen Initiativen, die tausende Freiwillige mobilisierten, während und nach den Wahlen als Beobachter_innen aktiv zu sein. Obwohl Twitter zum Zeitpunkt der Wahlen verboten war, waren Möglichkeiten gefunden worden, das Verbot technisch zu umgehen. Die Nutzung von Twitter durch zahlreiche Gruppen sollte eine wichtige Rolle bei der selbstorganisierten Beobachtung der Wahlen spielen.

Bürgerschaftliches Engagement nach Gezi

140journos ist eine dieser bürgerschaftlichen Gruppen, die sich auf das Berichten über die lokalen Wahlen konzentrierte, damit der Wahltag reibungslos und transparent verlief. Sie haben bereits an einer neuen Platform, Journos, gearbeitet, die die täglich eintreffenden Berichte von hunderten Bürger_innen-Gruppen verifizieren, auswerten und kontextualisieren. Der 30. März war für die Initiative ein wichtiger Tag, weil sie mit anderen bürgerschaftlichen Wahlbeobachtungsgruppen, wie Vote and Beyond, zusammenarbeitete, um ihre neuen Hilfsmittel und Methoden auszuprobieren. Nach seiner Motivation befragt, sagte Engin von der Initiative mir: „Wir haben Journos gegründet, weil wir in das Recht der Menschen auf Wissen glauben. (...) In diesem besonderen Sinne sind wir nicht notwendigerweise hinsichtlich der Frage besorgt, wer die Wahlen gewinnt, sondern wie sie gewonnen werden.“ Und: „Wir wussten, dass es ein fordernder Tag werden würde“ aber „was am 30. März und in den folgenden Tagen passierte, ging über unsere Erwartungen hinaus.“

Die zwanzig Freiwilligen des Journos-Teams verbrachten den Sonntag damit, sich durch tausende Tweets durchzuarbeiten, die sie aus vielen Groß- und Kleinstädten der Türkei bis zur Schließung der Wahllokale erreichten. Sie dokumentierten Einwände, die in den Wahllokalen erhoben wurden, sowie Konflikte zwischen der Polizei und Menschen, die den Wahl- und den Zählprozess beobachten wollten. Sie verbreiteten diese Berichte auf Türkisch und Englisch und erreichten deshalb ein größeres Publikum als üblich. Zudem fiel ihre Partnerschaft mit den Beobachtungsgruppen mitten in die wachsende Spannung, die über fast jeder Wahlurne in der Türkei lag. Sie verbreiteten aber auch einen Brief mit Beanstandungen, die sich als falsch erweisen sollten. Obwohl sie diesen falschen Bericht unmittelbar korrigierten, hielt dies ihre Follower nicht davon ab, ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen und sie inmitten eines spannungsgeladenen Tages zu attackieren.

Sobald die Auszählungen begannen, strömten durch die Timelines türkischer Twitter-Accounts Berichte über Fälschungen, Stromausfälle und Wahlzettel, die in Abfallkörben gefunden wurden. Ebenso zirkulierten Aufrufe, zu den Wahllokalen zu gehen und die Auszählungen zu verfolgen. Und in den Mainstreammedien berichteten zwei Nachrichtenagenturen jeweils völlig konträre Ergebnisse. Journos bat seine Follower die Resultate der lokalen Zählungen zu tweeten. Bereits in den Wahllokalen anwesende Bürger_innen begannen Bilder der Auszählungsergebnisse zu machen und schickten sie unter dem Hashtag #SandıkTutanağı zu Journos. Tausende Berichte – mehr als während der Gezi-Proteste – erreichten Journos innerhalb weniger Stunden via Twitter, Whatsapp und SMS.

In Ankara, wo sich der AKP-Kandidat Melih Gökçek und der CHP-Kandidat Mansur Yavaş ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten, meldeten jene Websites, die über den Verlauf der Auszählung berichteten, plötzlich keine neuen Ergebnisse mehr. Zu jenem Zeitpunkt stand noch ein signifikanter Anteil von Stimmen aus zwei CHP-Hochburgen zur Auszählung an und Gökçek führte mit gerade einmal dreitausend Stimmen. Für beinahe eine Stunde gab es keine weiteren Daten. Währenddessen berichteten Bürger, dass der Innenminister Efkan Ala mit Bereitschaftspolizei zum Wahllokal gekommen war und Melih Gökçek derweil das Gebäude besuchte, das die Höhere Wahlkommission (YSK) beherbergt. Als auf die Website mit den Zählergebnissen schließlich auf einen Schlag die letzten Resultate hochgeladen wurden, führte Gökçek mit zwanzigtausend Stimmen. Ungeachtet der Frage, ob diese Unterbrechung nun Wahlbetrug bedeutete, wuchsen die Zweifel der Menschen am Wahlverfahren und auf Twitter schnellte die Zahl neuer Berichte über Zählergebnisse einzelner Wahlurnen in die Höhe.

Mit neuer Software und mehr Freiwilligen arbeitete Journos von Montag bis Dienstagmorgen daran, die von einzelnen Bürger_innen eintreffenden Ergebnisse mit den auf der Website der Wahlkommission veröffentlichten offiziellen Ergebnissen abzugleichen. Sie erstellten die Facebookgruppe “Seçim 2014” (Wahl 2014) und luden vertrauenswürdige Freunde ein, bei der Überprüfung der Ergebnisse mitzumachen. Ihr Netzwerk wuchs zu beinahe 300 Freiwilligen heran, die unermüdlich die Ergebnisse von den zweitausend Wahlurnen überprüften, die sie erreicht hatten. Als am Morgen des 1. April offizielle Beschwerden über die Wahlen eingelegt wurden, hatten sie annähernd 250 Unregelmäßigkeiten dokumentiert. Engin betont, dass sie Unregelmäßigkeiten dokumentiert haben, die zu Gunsten jeder politischen Partei, inklusive der AKP, wirken können.

Was jedoch auf ihre Beschwerde – und die parallelen Bemühungen der CHP – folgte, ist nur einen kleiner Ausschnitt davon, wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei inzwischen ausgehöhlt worden sind. Als sich die Protestierenden vor dem Gebäude der Wahlkommission versammelten und eine Neuauszählung für Ankara forderten, setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um die Menge auseinander zutreiben. AKP-Offizielle verdammten jene Freiwilligen und Demonstrierenden, die protestierend vor den Wahllokalen aushielten oder die Ergebnisse der Wahlurnen überprüften. „Ihr einziges Ziel ist, Chaos zu schaffen“, sagte Melih Gökçek über solches bürgerschaftliches Engagement. Als er auf den Stromausfall in mindestens vier Stadtteilen Ankaras und vierzig Städten in der Türkei angesprochen wurde, gab Ernergieminister Taner Yıldız eine verblüffende Antwort: „Dies ist wirklich kein Witz. Der Strom fiel aus, weil eine Katze in eine Trafostation gestiegen war.“ Festzuhalten bleibt: Obwohl an zahlreichen Wahlurnen Fälschungen dokumentiert worden waren, lehnte die Wahlkommission für Ankara den Antrag der CHP auf Neuauszählung der Stimmen ab.

Ist dies die Demokratie, nach der sich der Westen sehnt?

In der Nacht des 30. März grüßte Ministerpräsident Erdoğan freudestrahlend seine Unterstützer_innen und gab eine harsche Ansprache, in der er erklärte, dass seine Gegner_innen bei den Wahlen eine „osmanische Ohrfeige“ erhalten hätten. Er sagte, dass seine Feinde in Politik und im Staat nach seinem Sieg einen Preis zahlen würden. Die populistisch-nationalistischen Gefühle seiner politischen Basis ausnutzend, signalisierte er einen Krieg mit Syrien und forderte den Westen heraus. Während einer seiner hochgradig polarisierenden Anmerkungen erklärte er: „Die Türkei hat die Demokratie, nach die sich der Westen sehnt.“ Für jene, die den ganzen Tag über Fälle von Wahlbetrug dokumentiert und Bereitschaftspolizei an den Wahllokalen erlebt hatten, mag Erdoğans Äußerung wie ein Scherz erschienen sein. Aber ich muss zugeben, dass ich ihm zum Teil zustimme. Aus folgendem Grund: Am 30. März hat die Türkei eine Wahlbeteiligung erlebt, von der westliche Staaten nur träumen können. Ungeachtet Erdoğans dämonisierender und polarisierender Rhetorik, gaben insbesondere junge Menschen in der Türkei ihre Stimmen ab und verfolgten, wie diese gezählt wurden. Sie gingen zu den Wahllokalen, um sicher zu gehen, dass jede Stimme gezählt wurde. Sie stellten sich den Wasserwerfern entgegen, um vor der Wahlkommission die Neuauszählung der Stimmen zu fordern. Während sie das taten, behielten sie ihren Humor, um die irrwitzigen Erklärungen, die von den AKP-Offiziellen kamen, zu kritisieren.

Während die Menschen in der Türkei unnachgiebig ihre zivilen Muskeln spielen lassen, ist die Nicht-Reaktion, die von der Regierung kommt, vollkommen inakzeptabel. Die Menschen sind nicht nur durch Erdoğans kompromisslose Rhetorik polarisiert, sie werden ebenso aktiv an der politischen Partizipation gehindert, indem Beschwerden abgelehnt, Wahlstimmen womöglich nicht gezählt und ihre Bedenken nicht ernst genommen werden. Was für eine Politik ist in der türkischen Demokratie notwendig, wenn die exekutive Macht gesetzliche Veränderungen, Wahlergebnisse und selbst juristische Entscheidungen in ihrem Würgegriff hält?

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*Das englische Original des Artikels erschien am 8. April 2014 bei Jadaliyya:
www.jadaliyya.com/pages/index/17252/digital-platforms-analog-elections_how-civic-group
Wir danken Jadaliyya sowie der Autorin für die freundliche Erlaubnis, eine leicht überarbeitete deutsche Übersetzung auf unserem Blog veröffentlichen zu dürfen.