Donnerstag, 29. Mai 2014

Reflektionen aus der Türkei zu den Ergebnissen der Kommunalwahlen: Ein kursorischer Überblick

Von Özgür Genç

Die Zusammenstellung von Wahlanalysen vermittelt einen Überblick zu verschiedenen Erwartungen vor der Wahl und gibt Einschätzungen wieder, wie die Wahl sich auf das politische Feld auswirken könnte. Konnte sich die gesellschaftliche Opposition, die mit dem Juni-Aufstand entstanden ist, in den Wahlprozess einbringen, und wie gelang es der AKP, die Unterstützung einer großen Wählerschaft zu erneuern?


Die kürzlichen Kommunalwahlen in der Türkei, die in einer Atmosphäre ähnlich den Parlamentswahlen abgehalten wurden und im Grunde einer Vertrauensabstimmung gleichkamen, hatten innerhalb der oppositionellen Kräfte die Hoffnung geweckt, die Risse in der AKP-Hegemonie seien deutlicher geworden. Der Juni-Aufstand, der die gesellschaftliche Opposition transformierte und zeitweise vereinigte, die Polarisierung zwischen AKP und Gülen-Bewegung, die im Zusammenhang des Korruptionsskandals veröffentlichten Dokumente, die daraufhin unternommenen Schließungsversuche sozialer Netzwerke und die verhängten Internetverbote sowie die von Recep Tayyip Erdoğan persönlich ausgehende ausgrenzende und diskriminierende Rhetorik zeugten immerhin von einer Krise der AKP-Regierung. Aber die kumulativen Wahlergebnisse belegen, dass die AKP keineswegs eine Wahlniederlage erlitten hat. Sicherlich werden detaillierte Auswertungen die unterschiedlichen Dimensionen dieses Wahlergebnisses deutlicher veranschaulichen.

Im Folgenden sind unterschiedliche Wahlbewertungen zusammenfassend dargestellt. Als Achse für diesen Artikel haben wir uns an zwei Diskussionssträngen orientiert: Hat sich erstens die gesellschaftliche Opposition, die mit dem Juni-Aufstand entstanden ist, in den Wahlprozess eingebracht, konnte daraus eine politische Alternative aufgebaut werden? Und zweitens: Wie konnte es der AKP gelingen, ihre Wählerschaft trotz des für viele Kreise überraschenden Korruptionsskandals und der AKP-Gülen-Konfrontation erneut für sich zu gewinnen und den Stimmenanteil nicht nur zu konsolidieren, sondern sogar auszubauen?

Eine Analyse von Güven Gürkan Öztan, die kurz nach den Wahlen auf der Internetplattform bianet.org veröffentlicht wurde, zeichnet den Rahmen über die zwei Seiten der politischen Polarisierung. Laut Öztan sei es nicht gelungen, die konsequente Haltung der Straßenopposition und des Juni-Aufstandes in einem politischen Zentrum zu sammeln, weshalb ein politischer Akteur vor den Wahlen nicht entstehen konnte. „Auch wenn es diesbezügliche Erwartungen gibt, ist mit Blick auf die Parlamentswahlen in 2015 eine die unterschiedlichen Kräfte vereinigende Alternative nicht in Sicht. Zwar beteiligten sich Teile der Mitglieder der Republikanischen Volkspartei (CHP) aktiv am Widerstand, aber die ideologische Linie, das Erbe der CHP und ihre fehlende Fähigkeit, demokratisch Politik zu machen, waren die Gründe dafür, warum sie keine Alternative darstellte“ so Öztan weiter. Laut Öztan war die Unfähigkeit der während des Juni-Aufstandes entstandenen spektrenübergreifenden gesellschaftlichen Opposition, größere Massen ansprechende Politikformen zu entwickeln, ein wesentliches Hindernis für die Gewinnung weiterer Mitstreiter_innen: „Zwar haben die kreative Opposition und der sarkastische Stil für die Subjekte des Widerstands einen kollektiven und einenden Geist geschaffen, dies wurde jedoch von den Unterstützer_innen der Regierung als eine Strategie der ›Demütigung und Verachtung‹ wahrgenommen.“ Aufgrund der scharfen AKP-Rhetorik habe, so Öztan weiter, eine breite Masse der Bevölkerung den Juni-Aufstand nicht als ein berechtigtes oder demokratisches Aufbegehren, sondern als Angriff auf „Stabilität, Ruhe und Ordnung“ verstanden. Es gäbe zudem „innerhalb der demokratischen Kräfte und der um die AKP gesammelten Traditionslinien unterschiedliche Auffassungen über den Freiheitsbegriff“. Teile der AKP-Wählerschaft verstünden die Einschränkungen der Meinungsfreiheit und des Internets sowie die Verbote und die autoritären Mechanismen als Indikator für die Stärke ihrer Regierung.

Öztan weist auf die Erwartung der Oppositionskräfte hin, dass die AKP infolge einer weiteren Polarisierung, der zwischen ihr und der Gülen-Bewegung, sowie der bekanntgewordenen Korruptionsskandale in den Augen vieler Wähler_innen ihre Glaubwürdigkeit verlieren würde. Allerdings hatten die Korruptionsvorwürfe offensichtlich keinen Einfluss auf die Entscheidung an der Wahlurne. Öztan erklärt diesen Umstand mit der Haltung der Regierung zu den Korruptionsvorwürfen und damit, dass diese Vorwürfe – vorerst – keinen Einfluss auf die ökonomische Situation der Bevölkerung hätten. Auf der anderen Seite begründet er die Haltung der AKP-Wählerschaft mit dem „heiligen Staatsfetischismus“.

In seinem Artikel aus der Tageszeitung Birgün kommt Deniz Yıldırım zu ähnlichen Schlüssen und betont, dass die Kommunalwahlen sich allgemein für die AKP und im Besonderen für Erdoğan zu einer Vertrauensabstimmung entwickelt hätten. Yıldırım bewertet den Wahlerfolg der AKP vor dem Hintergrund ihrer Strategie nach den Vorgängen vom 17. Dezember 2013 (Tag der ersten Welle von Korruptionsermittlungen gegen die Regierung) und betont, dass die AKP die Einschwörung ihrer Basis mit einer „unmittelbar führerzentrierten und den Führer mit einer religiösen und verherrlichenden Legitimation als Heiliger ausstattenden Kampagne“ versucht und die WählerInnen vor die Frage „Stabilität oder Ungewissheit?“ gestellt habe. In diesem Zusammenhang benutzt Yıldırım den Begriff „Kompensations-Islamismus“: „Um die moralische Führung der sich entwickelnden gesellschaftlich-politischen Oppositionsströmung abzuwehren, wurde der ›säkulare‹ Charakter der Gegner angegriffen und durch den Vorwurf, die Gegner seien ›unmoralisch‹, aber die AKP selbst der Maßstab des ›Muslimischen‹, eine gewisse Kompensation erreicht. Der Versuch der AKP, jede Krise der moralischen Führung mit einer islamischen Diskussion zu beenden und die moralische Überlegenheit wiederzuerringen, hängt mit dieser ›Kompensationssuche‹ zusammen.“

Bei diesen Wahlen, in denen sich der islamistische Diskurs weiter herauskristallisierte, habe die AKP durch die religiöse Aufladung ihrer Herkunft und ihres Daseins den „Kompensations-Islamismus“ auf eine höhere Stufe gebracht. Der während der Wahlkampagne benutzte Slogan „Allah ist mit uns“ müsse ernst genommen werden. Die Strategie, die AKP als „Partei Allahs“ darzustellen, sei mehr als nur ein „Ritual“. Laut Yıldırım werde eine „Intensivierung der Islamisierung“ die Folge sein. Diese Strategie erklärt er aus der Polarisierung zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung. Während zuvor die gesellschaftlich-politische Opposition aufgrund ihres säkularen Charakters zum gegnerischen Pol erklärt worden sei, habe die jetzige Polarisierung erstmals zu einer Konfrontation innerhalb der „islamistischen Identität“ und in Gegnerschaft zur Gülen-Bewegung geführt, in deren Verlauf die AKP sich als Hüterin der „wahren Religiosität“ darstellen konnte. „Insofern kann konstatiert werden, dass die AKP gegenüber der Gülen-Bewegung durchaus erfolgreich war, indem sie sich ihrer Basis erklären und die übertriebene These von der vermeintlichen politischen Stärke der Gülen-Bewegung an der Wahlurne relativieren konnte“, so Yıldırım weiter.

Wenn wir Faktoren wie die „ideologische Intensivierung“ in der Ansprache der konservativen Basis, die stärker islamistisch ausgerichtete politische Linie und – nach der Auflösung des Bündnisses mit den Liberalen und der Gülen-Bewegung – die Betonung der Milli-Görüş-Tradition in ihrer Bedeutung für lokale Kader aus der AKP berücksichtigen, dann können diese Wahlen als die historisch erfolgreichsten Wahlen der türkischen Islamisten bezeichnet werden. Die AKP habe zwischen 2002 und 2011 zunächst die Strategie verfolgt, die Lücke im politischen Zentrum zu füllen. Und nachdem das Zentrum eingenommen worden sei, habe sie die darin integrierten Massen mit „unterschiedlichen Einbeziehungsstrategien“ unter dem Dach einer großen islamischen Erzählung gesammelt und auf diese Weise durchaus Zustimmung für ihr Projekt bekommen.

Yıldırım sieht den „Erfolg“ der AKP in ihrer „Fähigkeit, unterschiedliche politische Sensibilitäten in unterschiedlichen Regionen zeitgleich zu lenken.“ Gerade die Kommunalwahlen, die ersten nach Beginn des sog. ›Lösungsprozesses‹ [in der kurdischen Frage], hätten ein Tableau hervorgebracht, das zeige, wie die AKP sowohl nationalistisch-konservative türkische als auch konservative kurdische Wählerinnen und Wähler gleichzeitig anspricht.

Die Wahlanalyse von Mahmut Çınar zeigt auf, wie die AKP ihre Basis konsolidieren konnte und was die materiellen Grundlagen dafür waren. Mit Blick auf das Verhältnis der ärmeren Klassen zur AKP trifft Çınar folgende Feststellung: „Neben dem Kommunikationsprozess über die Stadtverwaltungen, die Gouverneure, die Distriktverwaltungen, die als Sprachrohre der Regierung agieren, ist es notwendig, das Organisationsmodell der AKP zu verstehen. [...] Die Gründe der Armut und der Arbeitslosigkeit werden strukturell nicht analysiert, was ja auch von einer Partei, die Fahnenträgerin des Neoliberalismus ist, nicht zu erwarten ist. Aber die „soziale Hilfe“ macht einen erheblichen Teil der Haushalte z.B. der Stadtverwaltungen aus. Die Anstrengungen der Partei und der Regierung werden auf die vorübergehende Zufriedenheit der vom Staat zuvor kaum beachteten Massen kanalisiert. So stellt sich eine Partei, deren Klassenzugehörigkeit eine andere ist, an die Seite der unterdrückten Klassen.“ Auch Ferda Koç kommt in seinem auf sendika.org veröffentlichten Artikel zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Koç meint, dass die Linke, wobei er die CHP im linken Spektrum verortet, nur in den urbanen Zentren mit mittlerem Einkommen ihre Führungsfähigkeit habe etablieren können, aber in den ärmeren Stadtteilen die Hegemonie der Rechten stärker geworden sei. Koç ist der Auffassung, dass die führende Position der AKP innerhalb der armen Bevölkerungsgruppen auf einer „neo-populistischen Armutsverwaltung“ basiere und es keine politische Alternative gäbe, die in der Lage sei (was sie hätte sein müssen), die Probleme der ausgebeuteten Massen zu artikulieren.

Zu verstehen, so Çınar, aus welchen pragmatischen Gründen die AKP-Wählerschaft zur Wahlurne gegangen ist, schaffe erst die Voraussetzung für eine Politik in den gegebenen Verhältnissen. Ähnlich wie Öztan zieht Çınar folgende Schlussfolgerungen aus den Wahlen: „Für die Hälfte der türkischen Bevölkerung stellt eine Regierung, die rechtsstaatliche Freiheiten jeden Tag von neuem auf autoritäre Weise behindert, kein Problem dar. Das bedeutet aber nicht, dass das für die Gesamtheit der anderen Hälfte kein Problem wäre. Dennoch: Für die eine Hälfte der türkischen Bevölkerung sind die Konzentration aller staatlichen Institutionen in einer Hand, der Verlust der Unabhängigkeit der Justiz, die finanzielle Förderung der regierungsnahen Medien und die Korruptionen kein Problem mehr.“

Ein aufschlussreicher Artikel von Cihan Tuğal, der im Nachrichtenportal T24.com.tr veröffentlicht wurde, zeigt den Einfluss des Juni-Aufstandes auf die Kommunalwahlen und analysiert, welche Bedeutung diese Wahlen in Zusammenhang mit dem Juni-Aufstand haben. „Plünderung [des Öffentlichen], Rechthaberei, Krieg – alles, wogegen der Juni-Aufstand war, wurde mit der Operation 17. Dezember  offensichtlich. (...) Aber das Regime erneuerte die Zustimmung der einen Bevölkerungshälfte.“ Tuğal stellt die Frage, ob der Juni-Aufstand aufgrund des AKP-Erfolges eine Niederlage erlitten habe oder nicht – immerhin sei der Juni-Aufstand eine Reaktion gegen die Missstände in der Regierung gewesen. Er hätte aber keinen Erfolg gehabt, keine Alternative entwickeln können. „Die Idee der sog. Alternativlosigkeit, die seit den 1970er Jahren [von den Herrschenden] auf der ganzen Welt vorangetrieben wurde, zu schwächen, ist durch einen Aufstand von ein paar Monaten sowieso nicht zu bewerkstelligen“ so Tuğal. Doch zugleich erinnert er daran, dass historische Rebellionen wie der Juni-Aufstand mehr bedeuteten als nur Wahlergebnisse: „Die seit 2009 auf der ganzen Welt entstandenen Aufstände deuten auf das Ende des Gleichklangs von Kapitalakkumulation, liberaler Demokratie und US-Hegemonie. Doch das Fehlen eines Alternativmodells, das an seine Stelle treten könnte, führt dazu, dass als Alternative zum liberal-konservativen Block nur ein noch dunklerer Konservatismus auftritt. In groben Zügen kann diese Situation mit dem Niedergang des Liberalismus in den 1920er Jahren verglichen werden. Auch damals hatten Faschismus, Nationalsozialismus o. ä. die entstandene Lücke gefüllt. Zugleich stand damals die Welt vor einer linken ‚Gefahr‘ – auch wenn sie klein war. Aus diesem Grund haben die sich erneuernden Regime wenig Raum für Demokratie und Gleichheit gelassen.“ Tuğal meint, die Niederlage des Juni-Aufstandes könne nur dann proklamiert werden, „wenn die Akteure des Aufstandes es nicht schaffen, in den nächsten Jahren ein Alternativmodel gegen den Liberalismus zu entwickeln.“