Die
Zusammenstellung von Wahlanalysen vermittelt einen Überblick zu verschiedenen
Erwartungen vor der Wahl und gibt Einschätzungen wieder, wie die Wahl sich auf
das politische Feld auswirken könnte. Konnte sich die gesellschaftliche
Opposition, die mit dem Juni-Aufstand entstanden ist, in den Wahlprozess
einbringen, und wie gelang es der AKP, die Unterstützung einer großen
Wählerschaft zu erneuern?
Die kürzlichen Kommunalwahlen in der Türkei, die in
einer Atmosphäre ähnlich den Parlamentswahlen abgehalten wurden und im Grunde
einer Vertrauensabstimmung gleichkamen, hatten innerhalb der oppositionellen
Kräfte die Hoffnung geweckt, die Risse in der AKP-Hegemonie seien deutlicher
geworden. Der Juni-Aufstand, der die gesellschaftliche Opposition
transformierte und zeitweise vereinigte, die Polarisierung zwischen AKP und
Gülen-Bewegung, die im Zusammenhang des Korruptionsskandals veröffentlichten
Dokumente, die daraufhin unternommenen Schließungsversuche sozialer Netzwerke und
die verhängten Internetverbote sowie die von Recep Tayyip Erdoğan persönlich ausgehende
ausgrenzende und diskriminierende Rhetorik zeugten immerhin von einer Krise der
AKP-Regierung. Aber die kumulativen Wahlergebnisse belegen, dass die AKP
keineswegs eine Wahlniederlage erlitten hat. Sicherlich werden detaillierte
Auswertungen die unterschiedlichen Dimensionen dieses Wahlergebnisses
deutlicher veranschaulichen.
Im Folgenden sind unterschiedliche Wahlbewertungen
zusammenfassend dargestellt. Als Achse für diesen Artikel haben wir uns an zwei
Diskussionssträngen orientiert: Hat sich erstens die gesellschaftliche
Opposition, die mit dem Juni-Aufstand entstanden ist, in den Wahlprozess eingebracht,
konnte daraus eine politische Alternative aufgebaut werden? Und zweitens: Wie konnte
es der AKP gelingen, ihre Wählerschaft trotz des für viele Kreise
überraschenden Korruptionsskandals und der AKP-Gülen-Konfrontation erneut für
sich zu gewinnen und den Stimmenanteil nicht nur zu konsolidieren, sondern
sogar auszubauen?
Eine Analyse von Güven Gürkan Öztan, die kurz nach
den Wahlen auf der Internetplattform bianet.org veröffentlicht wurde, zeichnet
den Rahmen über die zwei Seiten der politischen Polarisierung. Laut Öztan sei
es nicht gelungen, die konsequente Haltung der Straßenopposition und des
Juni-Aufstandes in einem politischen Zentrum zu sammeln, weshalb ein
politischer Akteur vor den Wahlen nicht entstehen konnte. „Auch wenn es
diesbezügliche Erwartungen gibt, ist mit Blick auf die Parlamentswahlen in 2015
eine die unterschiedlichen Kräfte vereinigende Alternative nicht in Sicht. Zwar
beteiligten sich Teile der Mitglieder der Republikanischen Volkspartei (CHP)
aktiv am Widerstand, aber die ideologische Linie, das Erbe der CHP und ihre
fehlende Fähigkeit, demokratisch Politik zu machen, waren die Gründe dafür,
warum sie keine Alternative darstellte“ so Öztan weiter. Laut Öztan war die
Unfähigkeit der während des Juni-Aufstandes entstandenen spektrenübergreifenden
gesellschaftlichen Opposition, größere Massen ansprechende Politikformen zu
entwickeln, ein wesentliches Hindernis für die Gewinnung weiterer Mitstreiter_innen:
„Zwar haben die kreative Opposition und der sarkastische Stil für die Subjekte
des Widerstands einen kollektiven und einenden Geist geschaffen, dies wurde
jedoch von den Unterstützer_innen der Regierung als eine Strategie der
›Demütigung und Verachtung‹ wahrgenommen.“ Aufgrund der scharfen AKP-Rhetorik habe,
so Öztan weiter, eine breite Masse der Bevölkerung den Juni-Aufstand nicht als
ein berechtigtes oder demokratisches Aufbegehren, sondern als Angriff auf „Stabilität,
Ruhe und Ordnung“ verstanden. Es gäbe zudem „innerhalb der demokratischen
Kräfte und der um die AKP gesammelten Traditionslinien unterschiedliche
Auffassungen über den Freiheitsbegriff“. Teile der AKP-Wählerschaft verstünden
die Einschränkungen der Meinungsfreiheit und des Internets sowie die Verbote und
die autoritären Mechanismen als Indikator für die Stärke ihrer Regierung.
Öztan weist auf die Erwartung der Oppositionskräfte
hin, dass die AKP infolge einer weiteren Polarisierung, der zwischen ihr und
der Gülen-Bewegung, sowie der bekanntgewordenen Korruptionsskandale in den
Augen vieler Wähler_innen ihre Glaubwürdigkeit verlieren würde. Allerdings
hatten die Korruptionsvorwürfe offensichtlich keinen Einfluss auf die
Entscheidung an der Wahlurne. Öztan erklärt diesen Umstand mit der Haltung der
Regierung zu den Korruptionsvorwürfen und damit, dass diese Vorwürfe – vorerst
– keinen Einfluss auf die ökonomische Situation der Bevölkerung hätten. Auf der
anderen Seite begründet er die Haltung der AKP-Wählerschaft mit dem „heiligen
Staatsfetischismus“.
In seinem Artikel aus der Tageszeitung Birgün kommt
Deniz Yıldırım zu ähnlichen Schlüssen und betont, dass die Kommunalwahlen sich
allgemein für die AKP und im Besonderen für Erdoğan zu einer
Vertrauensabstimmung entwickelt hätten. Yıldırım bewertet den Wahlerfolg der
AKP vor dem Hintergrund ihrer Strategie nach den Vorgängen vom 17. Dezember
2013 (Tag der ersten Welle von Korruptionsermittlungen gegen die Regierung) und
betont, dass die AKP die Einschwörung ihrer Basis mit einer „unmittelbar führerzentrierten
und den Führer mit einer religiösen und verherrlichenden Legitimation als
Heiliger ausstattenden Kampagne“ versucht und die WählerInnen vor die Frage „Stabilität
oder Ungewissheit?“ gestellt habe. In diesem Zusammenhang benutzt Yıldırım den
Begriff „Kompensations-Islamismus“: „Um die moralische Führung der sich
entwickelnden gesellschaftlich-politischen Oppositionsströmung abzuwehren,
wurde der ›säkulare‹ Charakter der Gegner angegriffen und durch den Vorwurf,
die Gegner seien ›unmoralisch‹, aber die AKP selbst der Maßstab des
›Muslimischen‹, eine gewisse Kompensation erreicht. Der Versuch der AKP, jede
Krise der moralischen Führung mit einer islamischen Diskussion zu beenden und
die moralische Überlegenheit wiederzuerringen, hängt mit dieser ›Kompensationssuche‹
zusammen.“
Bei diesen Wahlen, in denen sich der islamistische
Diskurs weiter herauskristallisierte, habe die AKP durch die religiöse Aufladung
ihrer Herkunft und ihres Daseins den „Kompensations-Islamismus“ auf eine höhere
Stufe gebracht. Der während der Wahlkampagne benutzte Slogan „Allah ist mit uns“
müsse ernst genommen werden. Die Strategie, die AKP als „Partei Allahs“
darzustellen, sei mehr als nur ein „Ritual“. Laut Yıldırım werde eine „Intensivierung
der Islamisierung“ die Folge sein. Diese Strategie erklärt er aus der
Polarisierung zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung. Während zuvor die
gesellschaftlich-politische Opposition aufgrund ihres säkularen Charakters zum
gegnerischen Pol erklärt worden sei, habe die jetzige Polarisierung erstmals zu
einer Konfrontation innerhalb der „islamistischen Identität“ und in
Gegnerschaft zur Gülen-Bewegung geführt, in deren Verlauf die AKP sich als
Hüterin der „wahren Religiosität“ darstellen konnte. „Insofern kann konstatiert
werden, dass die AKP gegenüber der Gülen-Bewegung durchaus erfolgreich war, indem
sie sich ihrer Basis erklären und die übertriebene These von der vermeintlichen
politischen Stärke der Gülen-Bewegung an der Wahlurne relativieren konnte“, so
Yıldırım weiter.
Wenn wir Faktoren wie die „ideologische
Intensivierung“ in der Ansprache der konservativen Basis, die stärker
islamistisch ausgerichtete politische Linie und – nach der Auflösung des
Bündnisses mit den Liberalen und der Gülen-Bewegung – die Betonung der Milli-Görüş-Tradition
in ihrer Bedeutung für lokale Kader aus der AKP berücksichtigen, dann können
diese Wahlen als die historisch erfolgreichsten Wahlen der türkischen
Islamisten bezeichnet werden. Die AKP habe zwischen 2002 und 2011 zunächst die
Strategie verfolgt, die Lücke im politischen Zentrum zu füllen. Und nachdem das
Zentrum eingenommen worden sei, habe sie die darin integrierten Massen mit „unterschiedlichen
Einbeziehungsstrategien“ unter dem Dach einer großen islamischen Erzählung
gesammelt und auf diese Weise durchaus Zustimmung für ihr Projekt bekommen.
Yıldırım sieht den „Erfolg“ der AKP in ihrer „Fähigkeit,
unterschiedliche politische Sensibilitäten in unterschiedlichen Regionen
zeitgleich zu lenken.“ Gerade die Kommunalwahlen, die ersten nach Beginn des
sog. ›Lösungsprozesses‹ [in der kurdischen Frage], hätten ein Tableau
hervorgebracht, das zeige, wie die AKP sowohl nationalistisch-konservative
türkische als auch konservative kurdische Wählerinnen und Wähler gleichzeitig
anspricht.
Die Wahlanalyse von Mahmut Çınar zeigt auf, wie die
AKP ihre Basis konsolidieren konnte und was die materiellen Grundlagen dafür
waren. Mit Blick auf das Verhältnis der ärmeren Klassen zur AKP trifft Çınar
folgende Feststellung: „Neben dem Kommunikationsprozess über die
Stadtverwaltungen, die Gouverneure, die Distriktverwaltungen, die als Sprachrohre
der Regierung agieren, ist es notwendig, das Organisationsmodell der AKP zu
verstehen. [...] Die Gründe der Armut und der Arbeitslosigkeit werden
strukturell nicht analysiert, was ja auch von einer Partei, die Fahnenträgerin
des Neoliberalismus ist, nicht zu erwarten ist. Aber die „soziale Hilfe“ macht
einen erheblichen Teil der Haushalte z.B. der Stadtverwaltungen aus. Die Anstrengungen
der Partei und der Regierung werden auf die vorübergehende Zufriedenheit der
vom Staat zuvor kaum beachteten Massen kanalisiert. So stellt sich eine Partei,
deren Klassenzugehörigkeit eine andere ist, an die Seite der unterdrückten
Klassen.“ Auch Ferda Koç kommt in seinem auf sendika.org veröffentlichten
Artikel zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Koç meint, dass die Linke, wobei
er die CHP im linken Spektrum verortet, nur in den urbanen Zentren mit
mittlerem Einkommen ihre Führungsfähigkeit habe etablieren können, aber in den
ärmeren Stadtteilen die Hegemonie der Rechten stärker geworden sei. Koç ist der
Auffassung, dass die führende Position der AKP innerhalb der armen
Bevölkerungsgruppen auf einer „neo-populistischen Armutsverwaltung“ basiere und
es keine politische Alternative gäbe, die in der Lage sei (was sie hätte sein
müssen), die Probleme der ausgebeuteten Massen zu artikulieren.
Zu verstehen, so Çınar, aus welchen pragmatischen
Gründen die AKP-Wählerschaft zur Wahlurne gegangen ist, schaffe erst die
Voraussetzung für eine Politik in den gegebenen Verhältnissen. Ähnlich wie
Öztan zieht Çınar folgende Schlussfolgerungen aus den Wahlen: „Für die Hälfte
der türkischen Bevölkerung stellt eine Regierung, die rechtsstaatliche
Freiheiten jeden Tag von neuem auf autoritäre Weise behindert, kein Problem
dar. Das bedeutet aber nicht, dass das für die Gesamtheit der anderen Hälfte kein
Problem wäre. Dennoch: Für die eine Hälfte der türkischen Bevölkerung sind die
Konzentration aller staatlichen Institutionen in einer Hand, der Verlust der
Unabhängigkeit der Justiz, die finanzielle Förderung der regierungsnahen Medien
und die Korruptionen kein Problem mehr.“
Ein aufschlussreicher Artikel von Cihan Tuğal, der
im Nachrichtenportal T24.com.tr veröffentlicht wurde, zeigt den Einfluss des
Juni-Aufstandes auf die Kommunalwahlen und analysiert, welche Bedeutung diese
Wahlen in Zusammenhang mit dem Juni-Aufstand haben. „Plünderung [des
Öffentlichen], Rechthaberei, Krieg – alles, wogegen der Juni-Aufstand war,
wurde mit der Operation 17. Dezember offensichtlich. (...) Aber das Regime
erneuerte die Zustimmung der einen Bevölkerungshälfte.“ Tuğal stellt die Frage,
ob der Juni-Aufstand aufgrund des AKP-Erfolges eine Niederlage erlitten habe
oder nicht – immerhin sei der Juni-Aufstand eine Reaktion gegen die Missstände in
der Regierung gewesen. Er hätte aber keinen Erfolg gehabt, keine Alternative
entwickeln können. „Die Idee der sog. Alternativlosigkeit, die seit den 1970er
Jahren [von den Herrschenden] auf der ganzen Welt vorangetrieben wurde, zu
schwächen, ist durch einen Aufstand von ein paar Monaten sowieso nicht zu
bewerkstelligen“ so Tuğal. Doch zugleich erinnert er daran, dass historische Rebellionen
wie der Juni-Aufstand mehr bedeuteten als nur Wahlergebnisse: „Die seit 2009
auf der ganzen Welt entstandenen Aufstände deuten auf das Ende des Gleichklangs
von Kapitalakkumulation, liberaler Demokratie und US-Hegemonie. Doch das Fehlen
eines Alternativmodells, das an seine Stelle treten könnte, führt dazu, dass
als Alternative zum liberal-konservativen Block nur ein noch dunklerer
Konservatismus auftritt. In groben Zügen kann diese Situation mit dem
Niedergang des Liberalismus in den 1920er Jahren verglichen werden. Auch damals
hatten Faschismus, Nationalsozialismus o. ä. die entstandene Lücke gefüllt. Zugleich
stand damals die Welt vor einer linken ‚Gefahr‘ – auch wenn sie klein war. Aus
diesem Grund haben die sich erneuernden Regime wenig Raum für Demokratie und Gleichheit
gelassen.“ Tuğal meint, die Niederlage des Juni-Aufstandes könne nur dann
proklamiert werden, „wenn die Akteure des Aufstandes es nicht schaffen, in den
nächsten Jahren ein Alternativmodel gegen den Liberalismus zu entwickeln.“