Sonntag, 2. Februar 2014

Vom Juni-Aufstand zur Palastrevolution – Korruption in der Türkei

Von Errol Babacan

Die durch die Korruptionsermittlungen offenkundig gewordene Regierungskrise in der Türkei kann als Spiegelbild einer Auseinandersetzung im Machtblock interpretiert werden. Vor dem Hintergrund einer Verengung ökonomischer Kapazitäten zur Bündnisbildung stellen sich die Interessengruppen neu auf. Für die nahe Zukunft ist mit einer Verschärfung der politischen Turbulenzen zu rechnen. Die sich ankündigende ökonomische Krise wird von einem Kampf um die Verteilung der Kosten und Risiken des Wirtschaftsmodells bestimmt sein. Wo stehen die subalternen Kräfte in diesem Kampf?

Der Juni-Aufstand im vergangenen Sommer dominierte die politische Tagesordnung in der Türkei bis in den frühen Winter hinein. Der weit über die Gezi-Proteste hinausreichende Aufstand hat direktem sozialem Widerstand einen deutlichen Legitimationsschub verliehen. Zuletzt erkennbar wurde dies in der Besetzung eines Waldes auf dem Campus einer der größten Universitäten des Landes in der Hauptstadt Ankara. Der Protest und die tagelangen Kämpfe mit der Polizei richteten sich gegen den Bau einer Autobahn durch den Campuswald und die damit verbundenen Gentrifizierungspläne in angrenzenden Stadtvierteln. In dieser Zeit verging kaum eine Rede des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ohne eine weitere Diffamierung des Aufstands als Teil einer größeren Verschwörung. Die Tagesordnung der parlamentarischen Opposition in Gestalt der Republikanischen Volkspartei CHP war ebenfalls lange Zeit vom Aufstand besetzt. Die CHP wollte vom gesellschaftlichen Unmut profitieren, indem sie ihn auf die Person Erdoğan lenkte und die anti-kapitalistischen Inhalte komplett ausblendete. Verständlicherweise, da sie sich auch gegen die von ihr getragene Stadtpolitik richteten.
Seit der ersten Welle von Korruptionsermittlungen am 17. Dezember ist der Aufstand aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Die CHP kann sich angesichts der augenscheinlich gegen die Machenschaften Erdoğans gerichteten Ermittlungen bestätigt fühlen. Auch das verschwörungstheoretische Weltbild scheint sich zu erfüllen, da Erdoğan - zumindest auf den ersten Blick – nun tatsächlich einer Verschwörung aus den eigenen Reihen gegenüber steht. Dass die Ermittlungen von einem in Polizei und Justiz organisierten Netzwerk um den in den Vereinigten Staaten lebenden Prediger Fethullah Gülen gelenkt werden, gehört zum Common Sense. Unter Druck geraten, tauschte Erdoğan das halbe Kabinett aus, während im Gegenzug Hunderte ermittelnde Beamte von der Regierung versetzt wurden, ohne verhindern zu können, dass auf die erste Ermittlungswelle weitere folgten. Ein Ende der plötzlichen ‚Enthüllungen‘ ist nicht absehbar. So kursieren Gerüchte über Dokumente, Audio- und Videomitschnitte, die weitere Verstrickungen zwischen Unternehmern und Politikern oder aber die private Lebensführung von Politikern betreffen. In dem veröffentlichten Mitschnitt des Gesprächs zwischen einem hochrangigen AKP-Politiker und einem Bauinvestor, der Sicherheiten verlangt, ist mit Bezug auf Erdoğan die Rede von „dem großen Boss“, der unter der Hand Garantien vergibt.
Worin besteht der Dissens zwischen dem Gülen-Netzwerk, das während der gesamten Regierungszeit der AKP eine ihrer Säulen war, und den restlichen Teilen der Partei? Handelt es sich um einen machtpolitischen Kampf? Wie können die Korruptionsermittlungen bewertet werden? Handelt es sich angesichts des Chaos in den staatlichen Behörden, die gegeneinander ermitteln, um eine Staatskrise? Sicher ist, dass wir das Ende des weltweit gefeierten Traums von einem türkischen Vorzeigemodell einer aufstrebenden, moderat islamischen und demokratischen Regionalmacht erleben. Der Traum wurde zwar bereits mit dem Juni-Aufstand als Albtraum Vieler erkennbar, zerbricht nun aber angesichts interner Grabenkämpfe an der Schwelle einer veritablen ökonomischen Krise.

Was genau ist das Gülen-Netzwerk?
Bevor auf die Hintergründe der Auseinandersetzung eingegangen werden kann, ist eine Charakterisierung des von Halbwahrheiten umrankten Gülen-Netzwerks notwendig. Eine genaue Beschreibung fällt nicht leicht, da es informell organisiert ist. Direkte Einblicke in Hierarchien und Funktionsweisen fehlen. Über die Zahl der Anhänger bzw. Mitglieder des Netzwerks kursieren viele Gerüchte, ebenso über das Ausmaß der Organisierung in Polizei und Justiz. Die Führungsfigur Fethullah Gülen lebt in den Vereinigten Staaten, in die er 1999 wegen Ermittlungen gegen islamistische Umtriebe geflohen war. Zuvor war Gülen ein staatlicher Prediger. In den 1970er Jahren spielte er eine Rolle beim Aufbau anti-kommunistischer Vereine zur Bekämpfung der damals erstarkenden Arbeiterbewegung und zahlreicher linker Organisationen. In den 1980er Jahren wurde die von ihm propagierte, religiös unterlegte kapitalistische Fortschrittsideologie zur organischen Weltanschauung eines Netzwerks, dem zunächst diverse Bildungseinrichtungen und Wohnheime sowie eine wachsende Anzahl Medien angehörten. Inzwischen ist das Netzwerk mit einem Unternehmerverband (TUSKON) assoziiert. Mitsamt seiner außerordentlichen internationalen Medienmacht - das Flaggschiff ist die in mehreren Ländern erscheinende Tageszeitung ZAMAN - war das Netzwerk bis vor kurzem ein konstituierender Bestandteil der AKP.
Das traditionelle gesellschaftliche Rückgrat des Netzwerks wird von Repetitorien (Dershane) gebildet, weshalb es auch als Bildungsbewegung bezeichnet wird. Neben privaten Schulen betreibt das Netzwerk ein Drittel aller Dershanes, in denen SchülerInnen auf die Vielzahl von Prüfungen auf ihrem Bildungsweg vorbereitet werden. Hier stellt es Kontakt zu bewegungsfernen Bevölkerungsteilen in der Türkei her und sucht sie dauerhaft an sich zu binden. Das deklarierte Ziel besteht in der Ausbildung einer Führungselite. Hierfür werden gezielt vielversprechende SchülerInnen angeworben, ebenso gezielt erfolgreiche UnternehmerInnen kontaktiert sowie die Fühler in alle Richtungen ausgestreckt, die irgendwie nützlich sein könnten.
Für das äußerst pragmatische ‚Prinzip des Dialogs‘ stehen auch Vereine außerhalb der Türkei wie das Forum für interkulturellen Dialog e.V. mit einem Sitz in Frankfurt/Main. Im Beirat des Vereins sitzen prominente Intellektuelle, bis vor kurzem auch der langjährige Türkei-Korrespondent der FAZ Rainer Hermann. Er bezeichnete Gülen als eine „Stimme der Vernunft“ und bewertete die Bewegung als unverzichtbar, da sie Religion, Moderne und Demokratie miteinander verbinde, die ‚calvinistische Arbeitsethik‘ in die hintersten Ecken Anatoliens getragen und damit den Grundstein für wirtschaftlichen Aufschwung gelegt habe. Tatsächlich ist die Ideologie des Gülen-Netzwerks eng mit der Kapitallogik verknüpft und rechtfertigt beispielsweise systematisch soziale Ungleichheit als natürlichen Ursprungs bzw. als göttlichen Willen. Was viele von dem Netzwerk umgarnte Journalisten gerne ausblenden, ist die Begeisterung, mit der Gülen 1980 den Militärputsch als ‚Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung‘ begrüßte oder, jüngeren Datums, eine Brandrede, in der er zur physischen Eliminierung zehntausender Aktivisten der kurdischen Bewegung aufrief. Seine Empfehlung einer ‚Lösung‘ wurde 2011 auf einem Höhepunkt des Krieges mit der kurdischen Guerilla von der Tageszeitung ZAMAN als ‚tamilische Lösung‘ propagiert. Ein letztes Beispiel mag illustrieren, welche Inhalte und Strategien vom Netzwerk verfolgt werden. Als der Aufstand im vergangenen Sommer auf brutalste Weise von der Polizei bekämpft wurde, wurde Gülen erneut als „Stimme der Vernunft“ präsentiert, die zu einem Dialog mit den Protestierenden aufrief. Der Begleittext des Aufrufs wurde jedoch wie so oft unterschlagen. Gülen bezeichnete die Protestierenden als Angehörige einer bemitleidenswerten Generation von Gammlern, die den Pfad der Menschheit verlassen hätten, unter Kontrolle gebracht und nützlich gemacht werden müssten für das Wiedererwachen eines starken Staates.

Der Stein des Anstoßes – die Dershanes
Interpretationen der jetzigen Konfrontation, die Gülen als konservativen Demokraten und Erdoğan als autoritären Irrwisch darstellen, können also getrost als Agitation ad acta gelegt werden. Im Hinblick auf kapitalistische Verwertungsinteressen und den Aufbau eines starken Staates mit proto-faschistischen Untertönen besteht eine grundsätzliche Übereinkunft zwischen den Kontrahenten. Die Frage, was genau dazu führte, dass die lange Zeit eng miteinander verknüpften Koalitionspartner aus Gülen-Netzwerk und der ehemaligen Milli Görüş-Bewegung um Erdoğan zu Erzfeinden werden ließ, ist nicht einfach zu beantworten. Als Auslöser für den derzeit eskalierenden Konflikt erscheint die im vergangenen Herbst angekündigte Gesetzesinitiative der Regierung, mit der die Dershanes zu privaten Schulen umgewidmet, damit womöglich keine lukrative Einnahmequelle mehr sein würden und einer stärkeren Kontrolle unterworfen werden sollten. Das Gülen-Netzwerk nahm die Initiative als direkten Angriff auf ihre Autonomie und ihr ureigenstes Tätigkeitsfeld wahr. Auf eine Phase von Vermittlungsversuchen, die ins Leere liefen, folgten Warnungen an Erdoğan, er werde seinen Vorstoß schnell bereuen. Dieser machte jedoch keinen Rückzieher und es kann angesichts der Abfolge der Ereignisse und der deutlichen Stellungnahmen der Medien des Netzwerks als sicher gelten, dass die jetzigen Korruptionsermittlungen die Antwort des Netzwerks darstellen. Diese Antwort wird begleitet von medial wirksam inszenierten Verfluchungen, darunter die aktuelle Videoansprache Gülens, die ein religiöses Beschwörungsritual darstellt und keine Assoziation mit einer „Stimme der Vernunft“ weckt. Halb-offizielle Sprecher des Netzwerks ergänzen dies mit apokalyptischen Drohungen einer reinigenden Katastrophe.
Dass die angekündigte Umwidmung der Dershanes eher Symptom eines tiefer liegenden Problems ist, darauf deutet eine frühere Konfrontation der jetzigen Kontrahenten hin. Bereits vor zwei Jahren erfolgte eine Vorladung des Erdoğan unterstellten Chefs des Geheimdiensts MİT durch Staatsanwälte, die dem Netzwerk nahestehen sollen. Der Geheimdienstchef sollte zu den in Oslo stattgefundenen geheimen Verhandlungen mit der kurdischen Guerillabewegung PKK aussagen. Eine Anklage wegen ‚Terrorismus‘ soll in Vorbereitung gewesen sein[1]. Erdoğan ließ über Nacht ein Gesetz verabschieden, das auch rückwirkend verhinderte, dass ‚Vertrauensleute‘ ohne seine Erlaubnis vorgeladen werden können. Als nächster Schritt wurden die verschiedenen Geheimdienste der an Erdoğan angebundenen Behörde MİT unterstellt, darunter auch die Geheimdienste des Militärs und der Polizei. Letzterer befindet oder befand sich angeblich unter der Kontrolle des Gülen-Netzwerks.
Demzufolge dreht sich der grundlegende Streit nicht (nur) um die Dershanes sondern um die Kontrolle über die staatliche Bürokratie. Für die Regierung untragbar scheint die Existenz eines von ihr unabhängigen Netzwerks in der Bürokratie (Polizei- und Justizbehörde), das seine Dienste, die nicht nur Einblicke in korrupte Machenschaften sondern auch in andere ‚Staatsgeheimnisse‘ umfassen, potentiell anderen gesellschaftlichen Gruppen oder gar anderen Staaten (den USA) anbietet. Letzteres ist ein konkreter Vorwurf der Regierung an das Gülen-Netzwerk und die USA. Es erscheint nicht undenkbar, dass das Netzwerk sich anschickte, die ehemalige Funktion des Militärs als Scharnier zwischen internationalen und nationalen Interessengruppen zu übernehmen, Erdoğan und seine Mitstreiter dies als allzu großes Risiko empfanden und deshalb zum Gegenangriff über die Dershanes übergingen.

Streitpunkt staatliche Verfassung
Weitere Indizien sprechen dafür, dass es bei dem jetzigen Streit um einen noch grundlegenderen politischen Aspekt geht, nämlich um die konkrete staatliche Verfassung des von beiden Konfliktparteien gemeinsam getragenen neoliberalen Autoritarismus. Vor dem Juni-Aufstand stand ein Präsidialsystem auf der Tagesordnung der AKP. Der künftige Staatspräsident, in dessen Rolle Erdoğan sich schon sah, sollte mit umfassenden Vollmachten, darunter der Möglichkeit zur Auflösung des Parlaments und zum Erlass von Dekreten mit Gesetzeskraft ausgestattet werden, womit die ohnehin stattfindende Zentralisierung politischer Macht in eine neue Form gegossen werden sollte. Die politische Entwicklung zur Stärkung der Exekutive auf Kosten parlamentarischer, juristischer aber auch fachlicher Kontrolle sollte weiter zugespitzt und vom temporären Ausnahmezustand zum Normalzustand formalisiert werden. Das neue Modell hätte das Präsidentenamt zur unumgänglichen Anlaufstelle für alle Interessengruppen gemacht.
Das Verfassungsprojekt kam nicht voran, da einerseits zumindest eine der Oppositionsparteien mit ins Boot geholt werden musste, um die notwendige Stimmenmehrheit zu erlangen. Andererseits wurden Zweifel und Dissens innerhalb der AKP laut. Die Medien des Gülen-Netzwerks gehörten zu den lautesten Zweiflern. Ein vorsichtiges Unwohlsein mit dieser Form der autoritären Zuspitzung wurde auch aus dem Umfeld des sich ansonsten auffallend bedeckt haltenden mächtigsten Interessenverbands TÜSİAD geäußert, der nicht nur die umsatzstärksten Konglomerate des Landes versammelt sondern auch eng mit der amerikanisch-europäischen Bourgeoisie verbunden ist. Diese Konglomerate profitierten zwar mehr als alle anderen Unternehmen von der Neoliberalisierungspolitik. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass sie auf der Suche nach einer politischen Alternative zur AKP sind, schon weil einzelne Mitglieder des Verbands von staatlichen (Steuer-)Behörden massiv unter Druck gesetzt werden konnten und nicht alle großen Ausschreibungen zu ihren Gunsten verliefen.
Insofern könnten die Korruptionsermittlungen auch das sein, wonach sie aussehen, allerdings nicht in dem Sinne, dass es um die Bekämpfung von Korruption an sich ginge. Hierfür müssten mindestens strukturelle Veränderungen an der zentralisierten und intransparenten Vergabepraxis staatlicher Aufträge vorgenommen werden, über die sich jedoch keine der beteiligten Konfliktparteien jemals beschwert hat. Vielmehr wurde nun offen gelegt, was alle irgendwie wussten: Es wird unter der Hand verteilt und zwar im großen Stil. Nicht unwahrscheinlich ist, dass die dem Gülen-Netzwerk angehörenden Unternehmen einen größeren Teil des Kuchens forderten, den sie nicht bekamen. Das Ausspielen der Korruptionskarte dient demzufolge der Verhinderung einer noch größeren ‚Benachteiligung‘ des Netzwerks durch „den großen Boss“. Dessen jetziger Machtumfang wurde deutlich, als die Regierung in Reaktion auf die Korruptionsermittlungen Konten staatlicher Unternehmen bei der netzwerknahen Bank Asya auflöste und nur eine Rettungsaktion netzwerknaher Unternehmen den Bankrott verhindert haben soll.

Re-Formierung im Machtblock
Die Weiterverfolgung dieses Aspekts führt zu der Überlegung, den Verteilungskampf in einen größeren ökonomischen Zusammenhang einzubetten. Mit der globalen Krise ab 2008 wurde die globale Nachfrage, damit das wirtschaftliche Wachstumsmodell ausgebremst, folglich auch die Kapazitäten der Regierung, akkumuliertes Kapital in neue Verwertungsprojekte zu lenken. Als Ausweg aus dieser Verengung wurde verstärkt auf den Bausektor und auf großformatige ‚Stadterneuerungsprojekte‘ gesetzt, die von einer zentralen Behörde (TOKİ), die dem Ministerpräsidenten unterstellt ist, gesteuert wurden. Dass die erste Welle von Korruptionsermittlungen sich gegen zentrale Akteure dieses Akkumulationsmodells richtete, darunter den zum Stadtminister ernannten langjährigen Vorsitzenden von TOKİ Erdoğan Bayraktar und den Vorsitzenden eines der größten Baukonzerne Ali Ağaoğlu legt nahe, dass im Visier des Angriffs (der Korruptionsermittlungen) eine sich um den Bausektor herum formierende Kapitalfraktion steht.
Wird der jetzige Streit als Machtkampf zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie innerhalb eines Machtblocks betrachtet, lässt sich fragen, ob sich eine noch näher zu spezifizierende Gruppe um den alten Kern des politischen Islam herum formiert hat, der bestimmte Bau- und Immobilienkonzerne, außerhalb des Gülen-Netzwerks stehende islamische Unternehmernetzwerke sowie mit der AKP assoziierte kurdische Unternehmer angehören. Soweit die Richtung der Korruptionsermittlungen Indizien liefert, sind auch Unternehmer aus dem Iran beteiligt. Unter Verwertungsdruck geraten, verfolgt diese Koalition beschleunigt das Projekt eines ‚Ein-Mann-Regimes‘ unter der Führung von Erdoğan. Der Unternehmerverband MÜSİAD dagegen, der den ehemaligen materiellen Kern des politischen Islam ausmachte, scheint gespalten, bezieht nicht eindeutig Stellung. Auf der anderen Seite lässt sich eine Diskursgemeinschaft bestehend aus TUSKON, TÜSİAD, den Medien der amerikanisch-europäischen Bourgeoisie, der CHP und einigen kleineren Parteien ausmachen, die wie aus einem Munde Transparenz und die Bekämpfung von Korruption einfordern. Zwischen allen Stühlen befindet sich die von der Regierung heftig umworbene kurdische Bewegung, die die kurdische Unter- und Mittelklasse organisiert und auf politische Zugeständnisse hofft.
Mit der Absetzbewegung des Gülen-Netzwerks verliert die AKP an hegemonialer Bindekraft. Dass das integrative Bündnis, das die AKP bisher getragen hat, sich zugunsten eines exklusiveren Bündnisses aufgelöst hat, ist auch aus der Haltung konservativer und liberaler Intellektueller ablesbar. Zusammen mit dem Gülen-Netzwerk hat mit den Korruptionsermittlungen eine Vielzahl dieser Intellektuellen, die das Sprachrohr der AKP vor allem im Ausland bildeten, urplötzlich die Rechtsstaatlichkeit als ein bedrohtes Gut entdeckt. Diese eng mit der Bourgeoisie verbundenen Intellektuellen drückten sowohl angesichts der bisherigen autoritären politischen Entwicklung als auch der diversen ‚Terrorismusprozesse‘ gegen zehntausende Oppositionelle, die jegliche Rechtsstaatlichkeit vermissen ließen und im Einklang mit dem Gülen-Netzwerk durchgeführt wurden, jahrelang beide Augen heftig zu (ebenso wie die USA und die EU!).
Erdoğans Reaktionen auf die Ermittlungen, die bis zu seinem Sohn reichen, gipfeln bisher in Reformvorschlägen, die auf eine direkte Kontrolle der Justiz zielen. Es geht offensichtlich darum, vor den nächsten Wahlen Fakten zu schaffen. Denn spätestens mit den Kommunalwahlen im März 2014 wird das Bündnis um Erdoğan einem ernsthaften Test unterzogen, während die nachfolgenden Präsidentschaftswahlen im Sommer, falls sie stattfinden, höchstwahrscheinlich die Entscheidung über die Zukunft der AKP bringen werden. Die entscheidende Frage wäre dann, ob die Absetzbewegung des Gülen-Netzwerks eine Auflösung der gesamten Koalition mit sich bringen wird, aus der die AKP besteht. Bislang scheint die Koalition, die sich um Erdoğan bzw. um den alten Kern des politischen Islam (ehemalige Milli Görüş-Bewegung) herum formiert hat, zu halten.
Im Rahmen dieser Interpretation der Ereignisse als Kampf im Machtblock erscheint das Gülen-Netzwerk als die operative Kraft eines größeren Bündnisses, das die Zeit für eine Ausbremsung der Pläne zum Übergang in ein von einem „großen Boss“ angeführtes Regime gekommen sah. Falls der Rückzug Erdoğans nicht erzwungen werden kann, erscheint sogar eine Spaltung der Partei denkbar, womöglich unter Führung des angeblich dem Gülen-Netzwerk nahestehenden Präsidenten Abdullah Gül. In der Zwischenzeit zwinkert das Gülen-Netzwerk der CHP zu. Diese zwinkert zurück und stellt den Pragmatismus einer bürgerlichen Partei unter Beweis, indem sie sich als weit nach rechts offene, neoliberale Alternative zur AKP präsentiert. Mit der Unterstützung aus den Vereinigten Staaten im Rücken stellt die CHP allerorten rechts-populistische Bürgermeisterkandidaten für die kommenden Kommunalwahlen auf. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass die CHP die Rolle der AKP ausfüllen kann, als Ergänzung zur Ausbremsung des ‚Ein-Mann-Regimes‘ ist sie jedoch eine nützliche Option.

Wahrscheinliches Krisenszenario
Was auf der politischen Ebene als Kampf innerhalb der staatlichen Bürokratie erscheint, kann demzufolge als Spiegelbild einer Auseinandersetzung im Machtblock vor dem Hintergrund einer Verengung ökonomischer Kapazitäten zur Bündnisbildung interpretiert werden. Verschiedene Interessengruppen, die in der Bürokratie bestimmte Stellungen halten bzw. Verbindungen eingegangen sind, bekämpfen sich gegenseitig und versuchen, neue Koalitionen zu bilden. Die unmittelbare Folge ist eine Regierungskrise, auf die eine Staatskrise folgt, die sich darin ausdrückt, dass verschiedene staatliche Gewalten sich gegenseitig bekämpfen.
Für die nahe Zukunft ist mit einer Verschärfung der politischen Turbulenzen und einer weiteren Verschiebung des jetzigen Szenarios zu rechnen. Die ökonomischen Indikatoren deuten darauf hin, dass große Teile der Bevölkerung sehr bald mit einem gesteigerten Problem konfrontiert sein werden. Die Türkei befindet sich mindestens an der Schwelle einer ökonomischen Krise wenn nicht sogar mittendrin, was derzeit noch verdeckt wird. Die türkische Lira hat seit Anfang Mai 2013 um ca. 30% (Stand: 28. Januar 2014) gegenüber dem US-Dollar abgewertet und die Börsenwerte sind steil gefallen. Sehr bald werden die exorbitant hohen Auslandsschulden der Privatunternehmen sich in Rückzahlungsschwierigkeiten bemerkbar machen. Befürchtet werden müssen gewaltige ökonomische Turbulenzen. Mit einer manifesten Krise würde das ohnehin langsamer fließende kurzfristige Finanzkapital aus dem Ausland zur Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits ausbleiben. Damit stellt sich auch die Frage, wie beispielweise die infolge der Währungsabwertung massiv verteuerten Energieimporte finanziert werden sollen. Zu erwarten ist, dass diese Verteuerung auf die Verbraucherpreise übertragen wird, womit die hohe Inflation der 1990er Jahre zurückkehren würde. Auf der anderen Seite scheute die Regierung kurz vor den Kommunalwahlen lange davor zurück, die Leitzinsen zu erhöhen, um den Druck auf die Währung zu mindern. Denn die Erhöhung der Leitzinsen würde auch den Druck auf die ebenfalls hoch verschuldeten Privathaushalte erhöhen und den über Kredite finanzierten Konsum zügeln. Am 28. Januar erhöhte die Zentralbank schließlich die Leitzinsen drastisch. Die Abwertung der Währung wird damit voraussichtlich gestoppt aber kaum gänzlich rückgängig gemacht werden können, während ein Ende des über günstige Kredite finanzierten Wachstums und zugleich eine Inflation (Stagflation) wahrscheinlicher werden. Es scheint nun, dass das von kritischen Ökonomen schon länger vorausgesagte Szenario eintritt und der Traum von einer blühenden Wirtschaftsmacht sich als eine gewaltige Blase entpuppt, die auf Pump finanziert wurde. Der Kampf um die Verteilung der Kosten und Risiken dieser Blase wird sehr wahrscheinlich die nahe Zukunft der Türkei bestimmen.

Folgen der Krise für die subalternen Kräfte
Wo stehen die subalternen Kräfte in diesem Kampf, der sich im Machtblock abspielt und im Gegensatz zum Juni-Aufstand als eine Palastrevolution bezeichnet werden kann? Es sei daran erinnert, dass die Verhinderung des Baus einer Shopping Mall mit Hotels und Luxuswohnungen anstelle des Gezi-Parks exemplarisch für den Unmut gegenüber einem Entwicklungsmodell stand, das maßgeblich auf der Privatisierung von öffentlichen Gütern und Gemeinbesitz sowie einer kreditbasierten Ausweitung des Konsums fußt. Der Aufstand richtete sich neben der Abwehr eines aggressiver werdenden islamischen Konservatismus zentral gegen das nun durch die Korruptionsermittlungen in den Mittelpunkt des Machtkampfs gerückte Akkumulationsmodell, das den urbanen Raum einer Restrukturierung durch das Kapital unterwirft. Aus der Perspektive der dominanten Klassen galt es unbedingt zu verhindern, dass die Verbindung der solidarischen und libertären Dynamik des Juni-Aufstands mit einem gesellschaftlichen Widerstand gegen die kapitalistische Expansion aufrechterhalten wurde. Eine Reduktion des Unmuts auf korrupte Machenschaften einzelner Politiker dagegen dient der Passivierung des Widerstands. Die derzeitigen Turbulenzen bergen daher die Gefahr, sich zu einer türkischen Variante einer ‚geklauten Revolution‘ zu entwickeln, ohne dass dies als der spiritus movens der Geschehnisse identifiziert werden kann. Zwar sind sich viele der aktiven linken politischen Gruppen in der Türkei dieser Gefahr sehr bewusst, dennoch geht die Sorge um, dass die besondere Dynamik des Aufstands einem passiven Voyeurismus bei der gegenseitigen Zerfleischung des Gülen- und des Erdoğan-Netzwerks weicht und die rechts-populistisch aufgemöbelte CHP die lachende Dritte sein könnte.
Falls die AKP nun bei den Kommunalwahlen deutlich geschwächt werden sollte, beispielsweise indem sie in den größten Städten verliert, so wäre damit noch kein Gewinn für die subalternen Kräfte verbunden. Da der überwiegende Teil der CHP sich auf demselben neoliberalen Boden wie die AKP positioniert, würde der Angriff des Kapitals lediglich unter einer neuen Maske ungebremst weitergehen. Hier lag von Anfang an die Gefahr der Reduzierung des Unmuts auf die AKP oder auf Erdoğan. Eine Krise der AKP ist noch keine Krise der neoliberalen Hegemonie. Schließlich hat die Türkei in jüngerer Vergangenheit ein ähnliches Krisenszenario durchlaufen, das demonstrierte, welche Folgen das Ausbleiben einer aktiven Einmischung subalterner Kräfte haben kann. Die tiefe ökonomische Krise der Jahre 2000/2001 war ebenfalls begleitet von ‚unglaublichen‘ Korruptionsskandalen. Aus ihr ging eine Beschleunigung der neoliberalen Restrukturierung unter der gesellschaftlichen Führung einer ‚brandneuen‘ Partei - der AKP - hervor, die die Türkei in die jetzige Lage geführt hat.
Dass dieser Fall sich nicht wiederholt, ist mit den noch frischen Erfahrungen des Juni-Aufstands im Rücken auch Aufgabe der neu gegründeten Partei HDP (Demokratische Partei der Völker), die ein Bündnis zwischen Teilen der kurdischen Bewegung und linken Gruppierungen darstellt. Die HDP ist bisher jedoch nicht durch ein klares politisches Programm aufgefallen, das die anti-neoliberale Stoßrichtung des Aufstands vorantreibt. Die „Freundschaft der Völker“ erschöpft sich oftmals in libertärer Ideologie. Das ist jedoch zu wenig, um den kolossalen Verwertungsinteressen, mit denen das Land allerorten kapitalistisch erschlossen und die Lebensverhältnisse umgewälzt werden, zu begegnen. Die Basisinitiativen und linken Stadtgruppen werden einen stetigen Druck auf die libertäre Schlagseite der neuen Partei ausüben und gemeinsam mit den außerhalb der HDP stehenden linken Parteien - gerade angesichts einer sich ankündigenden ökonomischen Krise - eine noch aktivere Rolle einnehmen müssen, damit die Abrechnung mit korrupten Politikern den Kampf nicht alleine bestimmt und die gesamte verkrachte Entourage zur Rechenschaft gezogen wird.


[1] Vor diesem Hintergrund interpretiert die Führung der kurdischen Bewegung den derzeitigen Streit als einen Richtungskampf in der kurdischen Frage. Das Gülen-Netzwerk steht aus ihrer Sicht für eine Verschwörung ausländischer Kapitalgruppen und der „jüdischen Lobby“, mit dem Ziel, die Friedensgespräche mit der AKP zu sabotieren. Die Bewegung zeigt sich davon überzeugt, dass ein Frieden nur mit einer den gesamten Staat kontrollierenden AKP geschlossen werden kann. Indes machte die AKP immer dann Zugeständnisse, wenn sie wie durch die derzeitigen Turbulenzen geschwächt war. Sie buhlt, in die Ecke gedrängt, nun um die Gunst der kurdischen Bewegung (übrigens auch um die der inhaftierten Offiziere), zuletzt durch Entlassung kurdischer Parlamentsabgeordneter aus langjähriger Untersuchungshaft. In diesem Zusammenhang bedenklich stimmt die antisemitisch konnotierte, verschwörungstheoretische Übereinstimmung in der Führung der kurdischen Bewegung und der AKP. Eine zweite These besagt, dass es v.a. in der Nahost-Politik zwischen den USA und der Türkei zu massiven Unstimmigkeiten gekommen sei, weshalb die USA jetzt das Gülen-Netzwerk benutzten, um Erdoğan in seine Schranken zu verweisen. Beide Fragen verweisen auf wichtige regionalpolitische Aspekte und verdienen eine nähere Betrachtung, die hier jedoch nicht unternommen werden kann.

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Der Artikel erschien zuerst bei www.links-netz.de