Die durch die
Korruptionsermittlungen offenkundig gewordene Regierungskrise in der Türkei
kann als Spiegelbild einer Auseinandersetzung im Machtblock interpretiert
werden. Vor dem Hintergrund einer Verengung ökonomischer Kapazitäten zur
Bündnisbildung stellen sich die Interessengruppen neu auf. Für die nahe Zukunft
ist mit einer Verschärfung der politischen Turbulenzen zu rechnen. Die sich
ankündigende ökonomische Krise wird von einem Kampf um die Verteilung der
Kosten und Risiken des Wirtschaftsmodells bestimmt sein. Wo stehen die subalternen
Kräfte in diesem Kampf?
Der Juni-Aufstand im vergangenen Sommer dominierte die politische Tagesordnung in der Türkei bis in den frühen Winter hinein. Der weit über die Gezi-Proteste hinausreichende Aufstand hat direktem sozialem Widerstand einen deutlichen Legitimationsschub verliehen. Zuletzt erkennbar wurde dies in der Besetzung eines Waldes auf dem Campus einer der größten Universitäten des Landes in der Hauptstadt Ankara. Der Protest und die tagelangen Kämpfe mit der Polizei richteten sich gegen den Bau einer Autobahn durch den Campuswald und die damit verbundenen Gentrifizierungspläne in angrenzenden Stadtvierteln. In dieser Zeit verging kaum eine Rede des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ohne eine weitere Diffamierung des Aufstands als Teil einer größeren Verschwörung. Die Tagesordnung der parlamentarischen Opposition in Gestalt der Republikanischen Volkspartei CHP war ebenfalls lange Zeit vom Aufstand besetzt. Die CHP wollte vom gesellschaftlichen Unmut profitieren, indem sie ihn auf die Person Erdoğan lenkte und die anti-kapitalistischen Inhalte komplett ausblendete. Verständlicherweise, da sie sich auch gegen die von ihr getragene Stadtpolitik richteten.
Seit der ersten Welle von Korruptionsermittlungen am
17. Dezember ist der Aufstand aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Die
CHP kann sich angesichts der augenscheinlich gegen die Machenschaften Erdoğans
gerichteten Ermittlungen bestätigt fühlen. Auch das verschwörungstheoretische
Weltbild scheint sich zu erfüllen, da Erdoğan - zumindest auf den ersten Blick
– nun tatsächlich einer Verschwörung aus den eigenen Reihen gegenüber steht. Dass
die Ermittlungen von einem in Polizei und Justiz organisierten Netzwerk um den
in den Vereinigten Staaten lebenden Prediger Fethullah Gülen gelenkt werden,
gehört zum Common Sense. Unter Druck geraten, tauschte Erdoğan das halbe
Kabinett aus, während im Gegenzug Hunderte ermittelnde Beamte von der Regierung
versetzt wurden, ohne verhindern zu können, dass auf die erste Ermittlungswelle
weitere folgten. Ein Ende der plötzlichen ‚Enthüllungen‘ ist nicht absehbar. So
kursieren Gerüchte über Dokumente, Audio- und Videomitschnitte, die weitere
Verstrickungen zwischen Unternehmern und Politikern oder aber die private
Lebensführung von Politikern betreffen. In dem veröffentlichten Mitschnitt des
Gesprächs zwischen einem hochrangigen AKP-Politiker und einem Bauinvestor, der
Sicherheiten verlangt, ist mit Bezug auf Erdoğan die Rede von „dem großen Boss“,
der unter der Hand Garantien vergibt.
Worin besteht der Dissens zwischen dem
Gülen-Netzwerk, das während der gesamten Regierungszeit der AKP eine ihrer
Säulen war, und den restlichen Teilen der Partei? Handelt es sich um einen
machtpolitischen Kampf? Wie können die Korruptionsermittlungen bewertet werden?
Handelt es sich angesichts des Chaos in den staatlichen Behörden, die
gegeneinander ermitteln, um eine Staatskrise? Sicher ist, dass wir das Ende des
weltweit gefeierten Traums von einem türkischen Vorzeigemodell einer
aufstrebenden, moderat islamischen und demokratischen Regionalmacht erleben.
Der Traum wurde zwar bereits mit dem Juni-Aufstand als Albtraum Vieler erkennbar,
zerbricht nun aber angesichts interner Grabenkämpfe an der Schwelle einer
veritablen ökonomischen Krise.
Was genau ist
das Gülen-Netzwerk?
Bevor auf die Hintergründe der Auseinandersetzung eingegangen
werden kann, ist eine Charakterisierung des von Halbwahrheiten umrankten Gülen-Netzwerks
notwendig. Eine genaue Beschreibung fällt nicht leicht, da es informell
organisiert ist. Direkte Einblicke in Hierarchien und Funktionsweisen fehlen. Über
die Zahl der Anhänger bzw. Mitglieder des Netzwerks kursieren viele Gerüchte,
ebenso über das Ausmaß der Organisierung in Polizei und Justiz. Die
Führungsfigur Fethullah Gülen lebt in den Vereinigten Staaten, in die er 1999
wegen Ermittlungen gegen islamistische Umtriebe geflohen war. Zuvor war Gülen
ein staatlicher Prediger. In den 1970er Jahren spielte er eine Rolle beim
Aufbau anti-kommunistischer Vereine zur Bekämpfung der damals erstarkenden Arbeiterbewegung
und zahlreicher linker Organisationen. In den 1980er Jahren wurde die von ihm
propagierte, religiös unterlegte kapitalistische Fortschrittsideologie zur
organischen Weltanschauung eines Netzwerks, dem zunächst diverse
Bildungseinrichtungen und Wohnheime sowie eine wachsende Anzahl Medien angehörten.
Inzwischen ist das Netzwerk mit einem Unternehmerverband (TUSKON) assoziiert. Mitsamt
seiner außerordentlichen internationalen Medienmacht - das Flaggschiff ist die
in mehreren Ländern erscheinende Tageszeitung ZAMAN - war das Netzwerk bis vor
kurzem ein konstituierender Bestandteil der AKP.
Das traditionelle gesellschaftliche Rückgrat des Netzwerks
wird von Repetitorien (Dershane)
gebildet, weshalb es auch als Bildungsbewegung bezeichnet wird. Neben privaten
Schulen betreibt das Netzwerk ein Drittel aller Dershanes, in denen SchülerInnen auf die Vielzahl von Prüfungen auf
ihrem Bildungsweg vorbereitet werden. Hier stellt es Kontakt zu bewegungsfernen
Bevölkerungsteilen in der Türkei her und sucht sie dauerhaft an sich zu binden.
Das deklarierte Ziel besteht in der Ausbildung einer Führungselite. Hierfür werden
gezielt vielversprechende SchülerInnen angeworben, ebenso gezielt erfolgreiche
UnternehmerInnen kontaktiert sowie die Fühler in alle Richtungen ausgestreckt,
die irgendwie nützlich sein könnten.
Für das äußerst pragmatische ‚Prinzip des Dialogs‘
stehen auch Vereine außerhalb der Türkei wie das Forum für interkulturellen
Dialog e.V. mit einem Sitz in Frankfurt/Main. Im Beirat des Vereins sitzen
prominente Intellektuelle, bis vor kurzem auch der langjährige Türkei-Korrespondent
der FAZ Rainer Hermann. Er bezeichnete Gülen als eine „Stimme der Vernunft“ und
bewertete die Bewegung als unverzichtbar, da sie Religion, Moderne und
Demokratie miteinander verbinde, die ‚calvinistische Arbeitsethik‘ in die
hintersten Ecken Anatoliens getragen und damit den Grundstein für wirtschaftlichen
Aufschwung gelegt habe. Tatsächlich ist die Ideologie des Gülen-Netzwerks eng
mit der Kapitallogik verknüpft und rechtfertigt beispielsweise systematisch soziale
Ungleichheit als natürlichen Ursprungs bzw. als göttlichen Willen. Was viele von
dem Netzwerk umgarnte Journalisten gerne ausblenden, ist die Begeisterung, mit
der Gülen 1980 den Militärputsch als ‚Wiederherstellung von Sicherheit und
Ordnung‘ begrüßte oder, jüngeren Datums, eine Brandrede, in der er zur
physischen Eliminierung zehntausender Aktivisten der kurdischen Bewegung
aufrief. Seine Empfehlung einer ‚Lösung‘ wurde 2011 auf einem Höhepunkt des
Krieges mit der kurdischen Guerilla von der Tageszeitung ZAMAN als ‚tamilische
Lösung‘ propagiert. Ein letztes Beispiel mag illustrieren, welche Inhalte und
Strategien vom Netzwerk verfolgt werden. Als der Aufstand im vergangenen Sommer
auf brutalste Weise von der Polizei bekämpft wurde, wurde Gülen erneut als
„Stimme der Vernunft“ präsentiert, die zu einem Dialog mit den Protestierenden
aufrief. Der Begleittext des Aufrufs wurde jedoch wie so oft unterschlagen.
Gülen bezeichnete die Protestierenden als Angehörige einer bemitleidenswerten Generation
von Gammlern, die den Pfad der Menschheit verlassen hätten, unter Kontrolle
gebracht und nützlich gemacht werden müssten für das Wiedererwachen eines
starken Staates.
Der Stein des
Anstoßes – die Dershanes
Interpretationen der jetzigen Konfrontation, die
Gülen als konservativen Demokraten und Erdoğan als autoritären Irrwisch
darstellen, können also getrost als Agitation ad acta gelegt werden. Im
Hinblick auf kapitalistische Verwertungsinteressen und den Aufbau eines starken
Staates mit proto-faschistischen Untertönen besteht eine grundsätzliche
Übereinkunft zwischen den Kontrahenten. Die Frage, was genau dazu führte, dass
die lange Zeit eng miteinander verknüpften Koalitionspartner aus Gülen-Netzwerk
und der ehemaligen Milli Görüş-Bewegung
um Erdoğan zu Erzfeinden werden ließ, ist nicht einfach zu beantworten. Als
Auslöser für den derzeit eskalierenden Konflikt erscheint die im vergangenen
Herbst angekündigte Gesetzesinitiative der Regierung, mit der die Dershanes zu privaten Schulen umgewidmet, damit womöglich keine
lukrative Einnahmequelle mehr sein würden und einer stärkeren Kontrolle
unterworfen werden sollten. Das Gülen-Netzwerk nahm die Initiative als direkten
Angriff auf ihre Autonomie und ihr ureigenstes Tätigkeitsfeld wahr. Auf eine
Phase von Vermittlungsversuchen, die ins Leere liefen, folgten Warnungen an
Erdoğan, er werde seinen Vorstoß schnell bereuen. Dieser machte jedoch keinen
Rückzieher und es kann angesichts der Abfolge der Ereignisse und der deutlichen
Stellungnahmen der Medien des Netzwerks als sicher gelten, dass die jetzigen
Korruptionsermittlungen die Antwort des Netzwerks darstellen. Diese Antwort
wird begleitet von medial wirksam inszenierten Verfluchungen, darunter die
aktuelle Videoansprache Gülens, die ein religiöses Beschwörungsritual darstellt
und keine Assoziation mit einer „Stimme der Vernunft“ weckt. Halb-offizielle
Sprecher des Netzwerks ergänzen dies mit apokalyptischen Drohungen einer reinigenden
Katastrophe.
Dass die angekündigte Umwidmung der Dershanes eher Symptom eines tiefer
liegenden Problems ist, darauf deutet eine frühere Konfrontation der jetzigen
Kontrahenten hin. Bereits vor zwei Jahren erfolgte eine Vorladung des Erdoğan
unterstellten Chefs des Geheimdiensts MİT durch Staatsanwälte, die dem Netzwerk
nahestehen sollen. Der Geheimdienstchef sollte zu den in Oslo stattgefundenen geheimen
Verhandlungen mit der kurdischen Guerillabewegung PKK aussagen. Eine Anklage
wegen ‚Terrorismus‘ soll in Vorbereitung gewesen sein[1].
Erdoğan ließ über Nacht ein Gesetz verabschieden, das auch rückwirkend verhinderte,
dass ‚Vertrauensleute‘ ohne seine Erlaubnis vorgeladen werden können. Als
nächster Schritt wurden die verschiedenen Geheimdienste der an Erdoğan
angebundenen Behörde MİT unterstellt, darunter auch die Geheimdienste des
Militärs und der Polizei. Letzterer befindet oder befand sich angeblich unter
der Kontrolle des Gülen-Netzwerks.
Demzufolge dreht sich der grundlegende Streit nicht
(nur) um die Dershanes sondern um die
Kontrolle über die staatliche Bürokratie. Für die Regierung untragbar scheint die
Existenz eines von ihr unabhängigen Netzwerks in der Bürokratie (Polizei- und
Justizbehörde), das seine Dienste, die nicht nur Einblicke in korrupte
Machenschaften sondern auch in andere ‚Staatsgeheimnisse‘ umfassen, potentiell
anderen gesellschaftlichen Gruppen oder gar anderen Staaten (den USA) anbietet.
Letzteres ist ein konkreter Vorwurf der Regierung an das Gülen-Netzwerk und die
USA. Es erscheint nicht undenkbar, dass das Netzwerk sich anschickte, die
ehemalige Funktion des Militärs als Scharnier zwischen internationalen und
nationalen Interessengruppen zu übernehmen, Erdoğan und seine Mitstreiter dies als
allzu großes Risiko empfanden und deshalb zum Gegenangriff über die Dershanes übergingen.
Streitpunkt
staatliche Verfassung
Weitere Indizien sprechen dafür, dass es bei dem
jetzigen Streit um einen noch grundlegenderen politischen Aspekt geht, nämlich
um die konkrete staatliche Verfassung des von beiden Konfliktparteien gemeinsam
getragenen neoliberalen Autoritarismus. Vor dem Juni-Aufstand stand ein
Präsidialsystem auf der Tagesordnung der AKP. Der künftige Staatspräsident, in
dessen Rolle Erdoğan sich schon sah, sollte mit umfassenden Vollmachten,
darunter der Möglichkeit zur Auflösung des Parlaments und zum Erlass von
Dekreten mit Gesetzeskraft ausgestattet werden, womit die ohnehin stattfindende
Zentralisierung politischer Macht in eine neue Form gegossen werden sollte. Die
politische Entwicklung zur Stärkung der Exekutive auf Kosten parlamentarischer,
juristischer aber auch fachlicher Kontrolle sollte weiter zugespitzt und vom temporären
Ausnahmezustand zum Normalzustand formalisiert werden. Das neue Modell hätte
das Präsidentenamt zur unumgänglichen Anlaufstelle für alle Interessengruppen
gemacht.
Das Verfassungsprojekt kam nicht voran, da einerseits
zumindest eine der Oppositionsparteien mit ins Boot geholt werden musste, um
die notwendige Stimmenmehrheit zu erlangen. Andererseits wurden Zweifel und
Dissens innerhalb der AKP laut. Die Medien des Gülen-Netzwerks gehörten zu den
lautesten Zweiflern. Ein vorsichtiges Unwohlsein mit dieser Form der
autoritären Zuspitzung wurde auch aus dem Umfeld des sich ansonsten auffallend bedeckt
haltenden mächtigsten Interessenverbands TÜSİAD geäußert, der nicht nur die
umsatzstärksten Konglomerate des Landes versammelt sondern auch eng mit der
amerikanisch-europäischen Bourgeoisie verbunden ist. Diese Konglomerate profitierten
zwar mehr als alle anderen Unternehmen von der Neoliberalisierungspolitik. Es
ist jedoch kein Geheimnis, dass sie auf der Suche nach einer politischen
Alternative zur AKP sind, schon weil einzelne Mitglieder des Verbands von
staatlichen (Steuer-)Behörden massiv unter Druck gesetzt werden konnten und
nicht alle großen Ausschreibungen zu ihren Gunsten verliefen.
Insofern könnten die Korruptionsermittlungen auch
das sein, wonach sie aussehen, allerdings nicht in dem Sinne, dass es um die
Bekämpfung von Korruption an sich ginge. Hierfür müssten mindestens
strukturelle Veränderungen an der zentralisierten und intransparenten
Vergabepraxis staatlicher Aufträge vorgenommen werden, über die sich jedoch
keine der beteiligten Konfliktparteien jemals beschwert hat. Vielmehr wurde nun
offen gelegt, was alle irgendwie wussten: Es wird unter der Hand verteilt und
zwar im großen Stil. Nicht unwahrscheinlich ist, dass die dem Gülen-Netzwerk
angehörenden Unternehmen einen größeren Teil des Kuchens forderten, den sie
nicht bekamen. Das Ausspielen der Korruptionskarte dient demzufolge der
Verhinderung einer noch größeren ‚Benachteiligung‘ des Netzwerks durch „den
großen Boss“. Dessen jetziger Machtumfang wurde deutlich, als die Regierung in
Reaktion auf die Korruptionsermittlungen Konten staatlicher Unternehmen bei der
netzwerknahen Bank Asya auflöste und nur eine Rettungsaktion netzwerknaher
Unternehmen den Bankrott verhindert haben soll.
Re-Formierung im
Machtblock
Die Weiterverfolgung dieses Aspekts führt zu der
Überlegung, den Verteilungskampf in einen größeren ökonomischen Zusammenhang
einzubetten. Mit der globalen Krise ab 2008 wurde die globale Nachfrage, damit das
wirtschaftliche Wachstumsmodell ausgebremst, folglich auch die Kapazitäten der
Regierung, akkumuliertes Kapital in neue Verwertungsprojekte zu lenken. Als
Ausweg aus dieser Verengung wurde verstärkt auf den Bausektor und auf
großformatige ‚Stadterneuerungsprojekte‘ gesetzt, die von einer zentralen
Behörde (TOKİ), die dem Ministerpräsidenten unterstellt ist, gesteuert wurden.
Dass die erste Welle von Korruptionsermittlungen sich gegen zentrale Akteure
dieses Akkumulationsmodells richtete, darunter den zum Stadtminister ernannten
langjährigen Vorsitzenden von TOKİ Erdoğan Bayraktar und den Vorsitzenden eines
der größten Baukonzerne Ali Ağaoğlu legt nahe, dass im Visier des Angriffs (der
Korruptionsermittlungen) eine sich um den Bausektor herum formierende
Kapitalfraktion steht.
Wird der jetzige Streit als Machtkampf zwischen
verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie innerhalb eines Machtblocks betrachtet,
lässt sich fragen, ob sich eine noch näher zu spezifizierende Gruppe um den
alten Kern des politischen Islam herum formiert hat, der bestimmte Bau- und
Immobilienkonzerne, außerhalb des Gülen-Netzwerks stehende islamische
Unternehmernetzwerke sowie mit der AKP assoziierte kurdische Unternehmer angehören.
Soweit die Richtung der Korruptionsermittlungen Indizien liefert, sind auch Unternehmer
aus dem Iran beteiligt. Unter Verwertungsdruck geraten, verfolgt diese
Koalition beschleunigt das Projekt eines ‚Ein-Mann-Regimes‘ unter der Führung
von Erdoğan. Der Unternehmerverband MÜSİAD dagegen, der den ehemaligen
materiellen Kern des politischen Islam ausmachte, scheint gespalten, bezieht
nicht eindeutig Stellung. Auf der anderen Seite lässt sich eine
Diskursgemeinschaft bestehend aus TUSKON, TÜSİAD, den Medien der amerikanisch-europäischen
Bourgeoisie, der CHP und einigen kleineren Parteien ausmachen, die wie aus
einem Munde Transparenz und die Bekämpfung von Korruption einfordern. Zwischen
allen Stühlen befindet sich die von der Regierung heftig umworbene kurdische
Bewegung, die die kurdische Unter- und Mittelklasse organisiert und auf
politische Zugeständnisse hofft.
Mit der Absetzbewegung des Gülen-Netzwerks verliert
die AKP an hegemonialer Bindekraft. Dass das integrative Bündnis, das die AKP
bisher getragen hat, sich zugunsten eines exklusiveren Bündnisses aufgelöst hat,
ist auch aus der Haltung konservativer und liberaler Intellektueller ablesbar. Zusammen
mit dem Gülen-Netzwerk hat mit den Korruptionsermittlungen eine Vielzahl dieser
Intellektuellen, die das Sprachrohr der AKP vor allem im Ausland bildeten,
urplötzlich die Rechtsstaatlichkeit als ein bedrohtes Gut entdeckt. Diese eng mit
der Bourgeoisie verbundenen Intellektuellen drückten sowohl angesichts der
bisherigen autoritären politischen Entwicklung als auch der diversen
‚Terrorismusprozesse‘ gegen zehntausende Oppositionelle, die jegliche
Rechtsstaatlichkeit vermissen ließen und im Einklang mit dem Gülen-Netzwerk
durchgeführt wurden, jahrelang beide Augen heftig zu (ebenso wie die USA und
die EU!).
Erdoğans Reaktionen auf die Ermittlungen, die bis zu
seinem Sohn reichen, gipfeln bisher in Reformvorschlägen, die auf eine direkte
Kontrolle der Justiz zielen. Es geht offensichtlich darum, vor den nächsten
Wahlen Fakten zu schaffen. Denn spätestens mit den Kommunalwahlen im März 2014
wird das Bündnis um Erdoğan einem ernsthaften Test unterzogen, während die
nachfolgenden Präsidentschaftswahlen im Sommer, falls sie stattfinden,
höchstwahrscheinlich die Entscheidung über die Zukunft der AKP bringen werden.
Die entscheidende Frage wäre dann, ob die Absetzbewegung des Gülen-Netzwerks
eine Auflösung der gesamten Koalition mit sich bringen wird, aus der die AKP
besteht. Bislang scheint die Koalition, die sich um Erdoğan bzw. um den alten
Kern des politischen Islam (ehemalige Milli
Görüş-Bewegung) herum formiert hat, zu halten.
Im Rahmen dieser Interpretation der Ereignisse als
Kampf im Machtblock erscheint das Gülen-Netzwerk als die operative Kraft eines
größeren Bündnisses, das die Zeit für eine Ausbremsung der Pläne zum Übergang
in ein von einem „großen Boss“ angeführtes Regime gekommen sah. Falls der
Rückzug Erdoğans nicht erzwungen werden kann, erscheint sogar eine Spaltung der
Partei denkbar, womöglich unter Führung des angeblich dem Gülen-Netzwerk
nahestehenden Präsidenten Abdullah Gül. In der Zwischenzeit zwinkert das
Gülen-Netzwerk der CHP zu. Diese zwinkert zurück und stellt den Pragmatismus
einer bürgerlichen Partei unter Beweis, indem sie sich als weit nach rechts
offene, neoliberale Alternative zur AKP präsentiert. Mit der Unterstützung aus
den Vereinigten Staaten im Rücken stellt die CHP allerorten rechts-populistische
Bürgermeisterkandidaten für die kommenden Kommunalwahlen auf. Es ist zwar
unwahrscheinlich, dass die CHP die Rolle der AKP ausfüllen kann, als Ergänzung
zur Ausbremsung des ‚Ein-Mann-Regimes‘ ist sie jedoch eine nützliche Option.
Wahrscheinliches
Krisenszenario
Was auf der politischen Ebene als Kampf innerhalb
der staatlichen Bürokratie erscheint, kann demzufolge als Spiegelbild einer
Auseinandersetzung im Machtblock vor dem Hintergrund einer Verengung
ökonomischer Kapazitäten zur Bündnisbildung interpretiert werden. Verschiedene
Interessengruppen, die in der Bürokratie bestimmte Stellungen halten bzw.
Verbindungen eingegangen sind, bekämpfen sich gegenseitig und versuchen, neue
Koalitionen zu bilden. Die unmittelbare Folge ist eine Regierungskrise, auf die
eine Staatskrise folgt, die sich darin ausdrückt, dass verschiedene staatliche
Gewalten sich gegenseitig bekämpfen.
Für die nahe Zukunft ist mit einer Verschärfung der
politischen Turbulenzen und einer weiteren Verschiebung des jetzigen Szenarios
zu rechnen. Die ökonomischen Indikatoren deuten darauf hin, dass große Teile
der Bevölkerung sehr bald mit einem gesteigerten Problem konfrontiert sein werden.
Die Türkei befindet sich mindestens an der Schwelle einer ökonomischen Krise
wenn nicht sogar mittendrin, was derzeit noch verdeckt wird. Die türkische Lira
hat seit Anfang Mai 2013 um ca. 30% (Stand: 28. Januar 2014) gegenüber dem US-Dollar
abgewertet und die Börsenwerte sind steil gefallen. Sehr bald werden die
exorbitant hohen Auslandsschulden der Privatunternehmen sich in
Rückzahlungsschwierigkeiten bemerkbar machen. Befürchtet werden müssen
gewaltige ökonomische Turbulenzen. Mit einer manifesten Krise würde das ohnehin
langsamer fließende kurzfristige Finanzkapital aus dem Ausland zur Finanzierung
des Leistungsbilanzdefizits ausbleiben. Damit stellt sich auch die Frage, wie
beispielweise die infolge der Währungsabwertung massiv verteuerten
Energieimporte finanziert werden sollen. Zu erwarten ist, dass diese
Verteuerung auf die Verbraucherpreise übertragen wird, womit die hohe Inflation
der 1990er Jahre zurückkehren würde. Auf der anderen Seite scheute die
Regierung kurz vor den Kommunalwahlen lange davor zurück, die Leitzinsen zu
erhöhen, um den Druck auf die Währung zu mindern. Denn die Erhöhung der
Leitzinsen würde auch den Druck auf die ebenfalls hoch verschuldeten
Privathaushalte erhöhen und den über Kredite finanzierten Konsum zügeln. Am 28.
Januar erhöhte die Zentralbank schließlich die Leitzinsen drastisch. Die
Abwertung der Währung wird damit voraussichtlich gestoppt aber kaum gänzlich
rückgängig gemacht werden können, während ein Ende des über günstige Kredite
finanzierten Wachstums und zugleich eine Inflation (Stagflation)
wahrscheinlicher werden. Es scheint nun, dass das von kritischen Ökonomen schon
länger vorausgesagte Szenario eintritt und der Traum von einer blühenden
Wirtschaftsmacht sich als eine gewaltige Blase entpuppt, die auf Pump
finanziert wurde. Der Kampf um die Verteilung der Kosten und Risiken dieser
Blase wird sehr wahrscheinlich die nahe Zukunft der Türkei bestimmen.
Folgen der Krise
für die subalternen Kräfte
Wo stehen die subalternen Kräfte in diesem Kampf,
der sich im Machtblock abspielt und im Gegensatz zum Juni-Aufstand als eine
Palastrevolution bezeichnet werden kann? Es sei daran erinnert, dass die
Verhinderung des Baus einer Shopping Mall mit Hotels und Luxuswohnungen anstelle
des Gezi-Parks exemplarisch für den Unmut gegenüber einem Entwicklungsmodell
stand, das maßgeblich auf der Privatisierung von öffentlichen Gütern und
Gemeinbesitz sowie einer kreditbasierten Ausweitung des Konsums fußt. Der Aufstand
richtete sich neben der Abwehr eines aggressiver werdenden islamischen
Konservatismus zentral gegen das nun durch die Korruptionsermittlungen in den Mittelpunkt
des Machtkampfs gerückte Akkumulationsmodell, das den urbanen Raum einer
Restrukturierung durch das Kapital unterwirft. Aus der Perspektive der
dominanten Klassen galt es unbedingt zu verhindern, dass die Verbindung der
solidarischen und libertären Dynamik des Juni-Aufstands mit einem
gesellschaftlichen Widerstand gegen die kapitalistische Expansion
aufrechterhalten wurde. Eine Reduktion des Unmuts auf korrupte Machenschaften
einzelner Politiker dagegen dient der Passivierung des Widerstands. Die
derzeitigen Turbulenzen bergen daher die Gefahr, sich zu einer türkischen
Variante einer ‚geklauten Revolution‘ zu entwickeln, ohne dass dies als der spiritus
movens der Geschehnisse identifiziert werden kann. Zwar sind sich viele der
aktiven linken politischen Gruppen in der Türkei dieser Gefahr sehr bewusst,
dennoch geht die Sorge um, dass die besondere Dynamik des Aufstands einem
passiven Voyeurismus bei der gegenseitigen Zerfleischung des Gülen- und des
Erdoğan-Netzwerks weicht und die rechts-populistisch aufgemöbelte CHP die
lachende Dritte sein könnte.
Falls die AKP nun bei den Kommunalwahlen deutlich
geschwächt werden sollte, beispielsweise indem sie in den größten Städten
verliert, so wäre damit noch kein Gewinn für die subalternen Kräfte verbunden.
Da der überwiegende Teil der CHP sich auf demselben neoliberalen Boden wie die
AKP positioniert, würde der Angriff des Kapitals lediglich unter einer neuen
Maske ungebremst weitergehen. Hier lag von Anfang an die Gefahr der Reduzierung
des Unmuts auf die AKP oder auf Erdoğan. Eine Krise der AKP ist noch keine
Krise der neoliberalen Hegemonie. Schließlich hat die Türkei in jüngerer
Vergangenheit ein ähnliches Krisenszenario durchlaufen, das demonstrierte,
welche Folgen das Ausbleiben einer aktiven Einmischung subalterner Kräfte haben
kann. Die tiefe ökonomische Krise der Jahre 2000/2001 war ebenfalls begleitet
von ‚unglaublichen‘ Korruptionsskandalen. Aus ihr ging eine Beschleunigung der
neoliberalen Restrukturierung unter der gesellschaftlichen Führung einer
‚brandneuen‘ Partei - der AKP - hervor, die die Türkei in die jetzige Lage
geführt hat.
Dass dieser Fall sich nicht wiederholt, ist mit den
noch frischen Erfahrungen des Juni-Aufstands im Rücken auch Aufgabe der neu
gegründeten Partei HDP (Demokratische Partei der Völker), die ein Bündnis
zwischen Teilen der kurdischen Bewegung und linken Gruppierungen darstellt. Die
HDP ist bisher jedoch nicht durch ein klares politisches Programm aufgefallen,
das die anti-neoliberale Stoßrichtung des Aufstands vorantreibt. Die „Freundschaft
der Völker“ erschöpft sich oftmals in libertärer Ideologie. Das ist jedoch zu
wenig, um den kolossalen Verwertungsinteressen, mit denen das Land allerorten
kapitalistisch erschlossen und die Lebensverhältnisse umgewälzt werden, zu
begegnen. Die Basisinitiativen und linken Stadtgruppen werden einen stetigen
Druck auf die libertäre Schlagseite der neuen Partei ausüben und gemeinsam mit
den außerhalb der HDP stehenden linken Parteien - gerade angesichts einer sich
ankündigenden ökonomischen Krise - eine noch aktivere Rolle einnehmen müssen,
damit die Abrechnung mit korrupten Politikern den Kampf nicht alleine bestimmt
und die gesamte verkrachte Entourage zur Rechenschaft gezogen wird.
[1] Vor diesem Hintergrund
interpretiert die Führung der kurdischen Bewegung den derzeitigen Streit als
einen Richtungskampf in der kurdischen Frage. Das Gülen-Netzwerk steht aus
ihrer Sicht für eine Verschwörung ausländischer Kapitalgruppen und der
„jüdischen Lobby“, mit dem Ziel, die Friedensgespräche mit der AKP zu sabotieren.
Die Bewegung zeigt sich davon überzeugt, dass ein Frieden nur mit einer den
gesamten Staat kontrollierenden AKP geschlossen werden kann. Indes machte die
AKP immer dann Zugeständnisse, wenn sie wie durch die derzeitigen Turbulenzen
geschwächt war. Sie buhlt, in die Ecke gedrängt, nun um die Gunst der
kurdischen Bewegung (übrigens auch um die der inhaftierten Offiziere), zuletzt durch
Entlassung kurdischer Parlamentsabgeordneter aus langjähriger
Untersuchungshaft. In diesem Zusammenhang bedenklich stimmt die antisemitisch
konnotierte, verschwörungstheoretische Übereinstimmung in der Führung der
kurdischen Bewegung und der AKP. Eine zweite These besagt, dass es v.a. in der
Nahost-Politik zwischen den USA und der Türkei zu massiven Unstimmigkeiten
gekommen sei, weshalb die USA jetzt das Gülen-Netzwerk benutzten, um Erdoğan in
seine Schranken zu verweisen. Beide Fragen verweisen auf wichtige
regionalpolitische Aspekte und verdienen eine nähere Betrachtung, die hier jedoch
nicht unternommen werden kann.
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Der Artikel erschien zuerst bei www.links-netz.de
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