Von Alexander Christie-Miller
Dass
die AKP ihre Vormachtstellung bei den Kommunalwahlen konsolidieren konnte und
Erdoğans Popularität weiterhin sehr hoch ist, erscheint angesichts des sozialen
Aufstands im vergangenen Sommer und der Abspaltung der
Gülen-Bewegung erklärungsbedürftig. Antworten finden sich an der sozialen Basis
der Partei, deren Prioritäten am realen materiellen Fortschritt der letzten
Dekade orientiert sind, dessen Fortführung in Abhängigkeit von der herrschenden
Partei gesehen wird.
Auf einer Demo am vergangenen Samstag im Istanbuler Stadtteil Bakırköy war
das ausschließlich weibliche Publikum entfacht wie Teenager auf einem
Pop-Konzert – lange bevor der Hauptredner die Bühne betrat. „Auf wen warten
wir?“, skandierte der Ansager. „Recep Tayyip Erdoğan!“, so die tosende Antwort.
Als ich einige der Frauen fragte, was ihnen am Premier der Türkei so sehr gefalle,
fiel den meisten darauf eine Antwort anfangs nicht leicht, so als seien seine
Qualitäten so zahlreich, dass man sie gar nicht alle aufzählen könne. „Ich
denke, es gibt niemanden wie ihn auf dieser Welt, er ist in jeder Hinsicht
perfekt“, sagte eine.
Dies kontrastierte stark zu den Kommentaren, die ich zuvor an diesem Tag in
Büyükçekmece, einem von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP)
regierten Stadtrandbezirk, gehört hatte, wo Erdoğan in Vorbereitung auf die
landesweiten Kommunalwahlen am 30. März auf einer anderen Kundgebung
aufgetreten war. Dort hatte ich gerade einen Gemüsehändler nach seiner Meinung
zum Premierminister gefragt, als ein Kunde sich einmischte: „Die Menschen sehen
doch, was für ein Dieb Erdoğan ist“, sagte er und machte eine Bewegung, als ob
er eine Schlinge um seinen Nacken ziehen würde. „Er ist ein Verräter und wird
hängen.“
Diese einander diametral widersprechenden Ansichten fanden am treffendsten
auf einem Transparent zusammen, das auf der Demonstration in Bakırköy
emporgehalten wurde: Seni bilen hayran,
bilmeyen düşman. „Die dich kennen, sind deine Bewunderer, die dich nicht
kennen, deine Feinde“. An diesem Slogan beeindruckte mich besonders, dass er
die Stärke der politischen Botschaft Erdoğans so perfekt darlegte. Es ist ein
Mantra, das sowohl Unterstützung wie auch Widerstand umfasst: Es unterstellt
Opposition, ja fordert sie gar, um diese zugleich als illegitim abzutun.
Menschen außerhalb der Türkei sind oft perplex angesichts der Frage, warum
Erdoğan sich angesichts erheblicher Korruptionsvorwürfe, die seine Regierung
nicht mal besonders gekonnt entkräftete, einen derart soliden Kern von
UnterstützerInnen erhalten kann. Ich denke, viele Außenstehende – und auch
zahlreiche Oppositionelle innerhalb der Türkei – begreifen nicht, wie stark
seine politische Plattform ist, und wie seine Erzählung in den Augen
erheblicher Teile der Bevölkerung sogar noch stärker wird, je mehr er durch
seine „Feinde“ unter Beschuss zu geraten scheint. Seine Botschaft wird zudem
von einem tief verwurzelten historischen Narrativ und spürbaren
Errungenschaften in der Gegenwart gestützt. Diese statten ihn gegenüber den
Korruptionsvorwürfen mit prompten Antworten aus, die in den Augen zahlreicher
Menschen bei weitem überzeugender sind als substantielle Konsequenzen. Erdoğans
Slogan vom „nationalen Willen“ – ein ziemlich gruselig erscheinendes Leitbild –
ist für viele Türkinnen und Türken weit fesselnder und weniger nebulös als
Begriffe wie „Gewaltenteilung“ oder „Rechtsstaat“, zumal die Motive der
Gülen-Bewegung den Glauben an die Gesetzmäßigkeit an sich kompromittiert haben.
Konkrete Errungenschaften versus abstrakte Konzepte
Es ist mir peinlich einzugestehen, dass ich in den vier Jahren, die ich
bereits hier lebe, vor Samstag nie auf einer von Erdoğans Kundgebungen gewesen
bin – obschon seine Stimme den ständigen Soundtrack in der heutigen Türkei
bildet. Sie schmettert landesweit aus Autoradios und von Fernsehschirmen in
Geschäften, Cafés und Lebensmittelläden. Die meisten Fernsehkanäle switchen die
Übertragung zum Premierminister, wann immer er spricht. Als er in der Sinan
Erdem Sporthalle in Bakırköy auf die Bühne trat, vor einem Publikum von rund
7.000 Frauen, einige von ihnen mit kleinen Kindern, ein oder zwei mit ihren
Ehemännern im Schlepptau, sprach er anlässlich des Internationalen Frauentages.
Die Stimmung war bereits zuvor aufgeheizt von einer Reihe Redebeiträgen, u.a.
von Istanbuls Oberbürgermeister Kadir Topbaş und Familienministerin Ayşenur
İslam. Sie sprachen über die Politik der „Null Toleranz“ gegenüber Gewalt an
Frauen, über die große Zahl an Gesundheitszentren, Sporthallen und
Kindertagesstätten, die die Partei in Istanbul errichtet habe und weiterhin
errichten werde. Oft lenkt die Regierung die Aufmerksamkeit auf die vielen
anderen Dinge, die sie auch gebaut hat: im ganzen Land neue Flughäfen, den
kürzlich eröffneten Marmaray Tunnel unter dem Bosporus, tausende Kilometer
Fernstraßen. Regierungsgegner blicken verbittert auf diese Leistungen. Ihnen
erscheinen errichtete Gebäude unbedeutend im Vergleich zu Grundrechten, die
aberkannt werden oder bedroht sind: die Rechte einer Frau über ihren Körper,
zum Beispiel, die Erdoğan mit seinen Drohungen gegen Abtreibung und seiner
bedrückenden Verherrlichung von Mutterschaft permanent infragestellt. Für große
Teile der Bevölkerung – meistens die ärmeren Schichten – sind die konkreten
Errungenschaften der AKP allerdings weitaus substanzieller als eine Reihe
abstrakt erscheinender Konzepte. Wenn letztere dann tatsächlich ihr Leben
berühren (zum Beispiel ein Mädchen aus konservativem Hause, das
gezwungenermaßen eine illegale Abtreibung durchführen lässt), werden sie meist
nicht als politische Entscheidungen betrachtet. Sie erscheinen vielmehr als
Schicksal, oder als der Wille Gottes, oder als gesellschaftliche Gepflogenheit.
Gravierende Fehleinschätzungen
Einer der wenigen mit einem schalen Nachgeschmack behafteten Aspekte
während der Gezi-Proteste – der ansonsten inspirierendsten und positivsten
sozialen Bewegung in der Türkei, der ich beiwohnte – war die breit geteilte Meinung über die
Anhänger der Regierung: „Die Menschen unterstützen die AKP, weil die ihnen
Sachen schenkt“, war eine oft gehörte Ansicht, oder auch „Die haben ihre
Stimmen gekauft“. Die allgemeine Sichtweise war, Regierungsanhänger seien
provinzlerische, fromme, von einer zynischen Regierung hinters Licht geführte
Schmarotzer. Dieser Aberkennung von Handlungsfähigkeit entsprach auf der
Gegenseite die herablassende Behauptung der Regierung, die Gezi-Protestierenden
seien „Randgruppen“ oder verwöhnte, von Terrorbanden irregeleitete Kids. Manche
bezogen sich auf den verbreiteten Glauben, die AKP kaufe sich ihre
Unterstützung, indem sie Kohle umsonst verteile. Doch zugleich offenbarte sich
darin die Vorstellung, die materiellen Errungenschaften der AKP – die Straßen,
Flughäfen und so weiter – seien im Grunde Wahlbestechungen.
Um anhand eines Beispiels zu verdeutlichen, warum dies eine gravierende
Fehleinschätzung ist, sei Tuzköy erwähnt, ein Dorf in der Provinz Nevşehir, das
durch eine Krebs-Epidemie, die im Zusammenhang mit einem seltenen, im örtlichen
Gebirge natürlich auftretenden Mineral steht, schwer in Mitleidenschaft gezogen
wurde. Ich habe vergangenes Jahr hierzu eine Reportage geschrieben. Seit den
1960er Jahren wusste der türkische Staat von der Misere in Tuzköy: Mehr als 50%
der Todesfälle waren krebsverursacht, oft bei Menschen Anfang Dreißig. Über
vier Jahrzehnte wurde aus unterschiedlichen Gründen nichts dagegen unternommen:
kommunalpolitische Verfehlungen, schwache Regierungskoalitionen,
Militärputsche, dürftige staatliche Leistungsfähigkeit usw. Erst kurz nachdem
Erdoğan sein Amt angetreten hatte und ein AKP-Bürgermeister gewählt wurde,
siedelte die Regierung das gesamte Dorf um. Jetzt ist die Situation auch nicht
perfekt, aber die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, waren
glücklich über die Umsiedlung, und darüber, dass ihre Kinder nicht länger mit
der Aussicht auf einen frühen, qualvollen Tod leben mussten. Natürlich mag dies
den Gegnern der AKP als eine Belohnung für die treue Gefolgschaft des
Bürgermeisters erscheinen. Ähnlich wird die Großzügigkeit der Regierung in von
der Opposition regierten Gebieten als populistischer Versuch erklärt,
Unterstützung zu gewinnen – so wie bei den Projekten des öffentlichen
Nahverkehrs in Izmir. Mag sein. Aber diese Sichtweise verschleiert den
wichtigeren Punkt, dass nämlich die AKP – anders als manch ihrer Vorgänger –
die Grundfunktionen einer Regierung erfüllt. Ohne die Aufmerksamkeit von der
Korruption, der fehlenden öffentlichen Konsultation sowie der mit dieser
Entwicklung einhergehenden Umweltzerstörung ablenken zu wollen (wenngleich
letztere in der Türkei bei den Massen wenig Mobilisierungskraft hat), sollte
die Opposition den gewaltigen materiellen Fortschritt der letzten Dekade klar
und deutlich zur Kenntnis nehmen, ebenso wie die Rolle der AKP darin.
Absurderweise könnte dies der einzige Weg sein, damit diese Errungenschaften
nicht mehr weitläufig als das Monopol der AKP wahrgenommen werden sowie ihre
Fortführung nicht mehr in Abhängigkeit von denen gesehen wird, die an der Macht
sind. Vielleicht würden dann der Ausbau und die Dienstleistungen in der
Infrastruktur nicht mehr als eine Funktion politischer Patronage betrachtet
werden.
„Schützt die Wahlurnen, schützt eure Stimme!“
Wie dem auch sei, Erdoğan trat auf die Bühne. Wie häufig begann er mit
einer weitläufigen Grußreihe an die Menschen (Muslime) aus aller Welt. Er
grüßte die geplagten Frauen Syriens, Somalias und aus Myanmar, „die trotz allem
an ihrer Ehre festgehalten haben“. Er grüßte Frauen aller Berufe und sozialer
Schichten. Nebenbei grüßte er sogar „die ausgebeuteten Frauen im Westen, die zu
käuflichen Waren gemacht worden sind“. Es war ein klassisches Beispiel für die
Art und Weise, in der Erdoğan scheinbar vereint, während er eigentlich spaltet.
Für seine Anhänger erscheint er in diesen Grußbotschaften als der herausragende
Staatsmann, der diejenigen, die er widerlich findet, bemitleidet und sogar
verbal umarmt. Gleichzeitig ist es eine unterschwellige Verurteilung des großen
Teils derjenigen türkischen Frauen, die „westliche“ kulturelle Werte übernommen
haben. Für sein Publikum war es eine großartige Rede. Der Slogan des Events war
Kadın varsa demokrasi var—“Wenn
Frauen dabei sind, gibt es Demokratie“ – womit wahrscheinlich gemeint ist, dass
die Partizipation von Frauen Demokratie ausmacht, jenseits ihrer schlichten
Anwesenheit. Zu diesem Thema gab Erdoğan eine Anekdote über ein Dorf namens
Arslanköy zum Besten, in dem, wie er sagte, die ansässigen Frauen sich 1947
erfolgreich gegen die Versuche der CHP, die Wahlergebnisse zu manipulieren, zur
Wehr gesetzt hatten. Dies ließ ihn zur gegenwärtigen Stimmabgabe in den
anstehenden Kommunalwahlen übergehen. Die CHP würde wieder versuchen, die
Stimmen zu klauen, behauptete er: „Schützt die Wahlurnen, schützt eure Stimme!“
Die Demokratie, in Gestalt der Frauen von Arslanköy, die langmütigen
konservativen Massen und Erdoğan himself wurden wieder mal von denselben Kräften attackiert wie in der Vergangenheit:
dunkle ausländische Mächte, die CHP, die säkularen Eliten, die lange die Macht
in ihren Händen gehalten und immer dann das Militär eingesetzt hätten, wenn ihr
fester Griff sich zu lockern schien. Die gegenwärtigen Korruptionsvorwürfe
passen perfekt in diese Erzählung. Anders als bei Gezi, als die „Putsch“-Behauptungen
Außenstehenden schlicht lächerlich vorkamen, stellt nun niemand ernsthaft in
Frage, dass Erdoğan recht hat, wenn er behauptet, die Ermittlungen zu den
Bestechungsvorwürfen seien ein Versuch, ihn zu stürzen. In den Augen vieler
Türkinnen und Türken ist es diese Tatsache, mehr als der Wahrheits- oder
Unwahrheitsgehalt der Anschuldigungen selbst, die den stärksten Nachhall
findet, und die die Bestechungsuntersuchungen mit einer seit langem etablierten
und emotional tief sitzenden historisch-politischen Erzählung verknüpft. Dies
spiegelt sich in den Aussagen der an der Kundgebung Beteiligten: „Das ist eine
Falle, die uns von unseren Feinden gestellt wurde... Die Türkei befindet sich
in ihrer glorreichsten Periode seit der Republiksgründung, und da gibt es
Leute, die darauf neidisch sind und versuchen, Probleme zu machen“, sagte eine
Frau. Andere stellten die ökonomischen Erfolge der Regierung positiv den
Anschuldigungen gegenüber: „Korruption hat es immer schon gegeben, jeder in der
Regierung bereichert sich... Aber zugleich hat er [Erdoğan] so hart für uns
gearbeitet, selbst wenn das alles wahr wäre, würde ich ihn weiterhin
unterstützen.“ Und ein anderer schlicht: „Ich werde ihn bis zum Ende
unterstützen, bis zum Tod.“
Indem er daran festhält, er sei einem putsch-ähnlichen Angriff ausgesetzt,
versucht Erdoğan immer wieder, den Geist von Premierminister Adnan Menderes
wachzurufen, ein weiterer charismatischer Populist, der in seinen späteren
Jahren auf eine autoritäre Linie umschwenkte, schließlich durch einen
Militärputsch 1960 seines Amtes enthoben und nach einem Schauprozess gehenkt
wurde. „Was sie Menderes angetan haben, wollen sie mir antun“, sagte er auf der
Kundgebung in Bakırköy. Zu einer Zeit, in der Erdoğan um sein politisches
Überleben kämpft, rahmt er diese Erzählung so, dass das von einem Teil der
Bevölkerung geforderte Resultat – er möge zurücktreten und für die ihm zur Last
gelegten Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden – für einen anderen großen
Teil der Bevölkerung einem Putsch gleichkommt. Und sie haben nicht ganz
Unrecht. Immerhin sind die erhobenen Korruptionsvorwürfe, was immer ihr
Wahrheitsgehalt sein mag, zweifelsohne ein wohl kalkulierter Versuch, Erdoğan
entweder aus dem Amt zu jagen oder ihn an den Wahlurnen so weit wie möglich zu
schwächen. Innerhalb der Opposition haben die Bestechungsanschuldigungen und
die Reaktion der Regierung – erfolgreich den Rechtsstaat außer Kraft zu setzen
– die feste Überzeugung hervorgebracht, dass Erdoğan nun kein legitimer Premier
mehr sei. Kemal Kılıçdaroğlu, der Kopf der führenden Oppositionspartei CHP,
weigert sich nun, Erdoğan Başbakan (Premierminister)
zu nennen. Stattdessen nennt der ihn einen Başçalan (Premierdieb).
Copyright auf den „nationalen Willen“? Die Hälfte
stimmte nicht für Erdoğan
Ebenso wie die Opposition in der Türkei die Stabilität der Unterstützung
für die Regierung und die tiefe Resonanz von Erdoğans Botschaft missversteht,
so missversteht sein eigenes Lager die Bedeutung der noch zersplitterten
Opposition gegen ihn. Diese falsche Auffassung rührt von Erdoğans Erzählung
selbst her (und von den spezifischen Spaltungen in der türkischen Politik),
nämlich von der Behauptung, er und seine Unterstützer seien quasi identisch mit
der Vorstellung von Demokratie. Durch diesen Glauben kann er ohne mit der
Wimper zu zucken behaupten, dass die 49.9% der bei den letzten Parlamentswahlen
gewonnenen Stimmen es ihm erlauben, das Copyright auf den „nationalen Willen“
für sich zu beanspruchen, obwohl mehr als die Hälfte der WählerInnen für jemand
anderen gestimmt hatten. Die Unterstützer der AKP tendieren dazu, diese Gegner
im besten Fall als verbitterte Verlierer zu betrachten, und im schlechtesten
Fall als aktive Putsch-Verschwörer und Terroristen. Für diesen Teil der
Bevölkerung ist die Fortsetzung und Verschanzung von Erdoğans Regierung
gleichbedeutend mit der Verteidigung der Demokratie selbst. Aus dem Blick gerät
dabei der Umstand, dass der Erfolg der AKP in ihren ersten zehn Jahren – und
der Grund, weshalb die Türkei in jener Zeit bei vielen Beobachtern aus der
restlichen Welt ein derart hohes Ansehen genoss – darin bestand, eine
Demokratie zu sein, die mit der Zustimmung fast der gesamten Bevölkerung funktionierte.
Sogar diejenigen, die die AKP geringschätzten, anerkannten ihr Recht zu
regieren. Erdoğan hat natürlich immer noch ein starkes demokratisches Mandat im
grundlegenden Sinne, und womöglich bestätigt sich dies in den kommenden Wahlen.
Aber er wird nicht weiterhin in der Lage sein, stabile Verhältnisse zu haben,
wenn er nicht bereit ist, drastische repressive Maßnahmen zu beschließen, was
der Türkei die Demokratie kosten wird. Erdoğan redet, als zögen diese
Kommunalwahlen einen Schlussstrich unter die gegenwärtige Krise. Doch sollte
umgehend offensichtlich geworden sein, dass dies nicht der Fall ist. Sein
Problem ist nicht die Legitimität durch Wahlen, sondern die gesetzliche
Rechtmäßigkeit. Die Angriffe der Gülen-Bewegung werden wohl weitergehen, und
ein beachtlicher Teil der Bevölkerung wird einem durch Wahlen erneuerten Mandat
Erdoğans nicht trauen. Das liegt in der zunehmenden Wahrnehmung, dass
angesichts des Umfangs der Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung und des
hohen Preises, der zu zahlen wäre (Erdoğan könnte im Gefängnis landen, falls er
schließlich die Macht verliert), die Wahlen gefälscht werden könnten.
Bevölkerungsgruppen auf Kollisionskurs
Letztlich mögen, so die abschließende Analyse, diese Kommunalwahlen gar
nicht so bedeutsam sein, außer dass sie der Maßstab für Erdoğans Entscheidung
sein werden, ob er a) im August als Präsidentschaftskandidat antritt, und b) ob
die Parlamentswahlen vorgezogen werden. Nun da in der Türkei die
Anti-Regierungsproteste erneut entflammt sind, warfen gestern [12. März 2014]
zehntausende Trauernde auf einem Platz in Istanbul Nelken auf den Sarg eines
getöteten Jungen, für dessen Tod sie Erdoğan verfluchten und seinen Rücktritt
verlangten. Zugleich sprach Erdoğan in der ostanatolischen Stadt Mardin zu
einer anderen großen Menschenmenge und warf ebenso Blumen – auf seine ihn
anhimmelnden Unterstützer. Trotz der Wut, die in Istanbul hervorbrach, erwähnte
er Berkin Elvan nicht einmal. Man unterliegt der Versuchung, bei der
Betrachtung dieser Szene das einfache Klischee des Autokraten hervorzuholen,
der jeglichen Realitätsbezug verloren hat und kurz vor seinem Sturz steht.
Dennoch ist keine dieser beiden Szenen eine Täuschung. Erdoğan mag von der
einen Hälfte der Bevölkerung zutiefst entfremdet sein, doch zugleich hat er den
Finger genau am Puls der anderen Hälfte, und das weiß er. Das macht die Situation
in der Türkei so beängstigend: Erdoğans politische Erzählung lenkt zwei
wesentliche Teile der Bevölkerung auf einen Kollisionskurs. Mittelfristig fällt
es mir zunehmend schwerer, eine Lösung der Situation auszumachen, ohne dass es
zu einer noch ernsteren Periode sozialer Unruhen kommt, als wir sie bislang
erlebt haben. Ob Erdoğan bleibt oder geht, in der Türkei stehen harte Zeiten
an. Wir haben die Wut all derer auf der Straße gesehen, die sich von der
autoritären Spaltungspolitik der Regierung marginalisiert fühlen, aber
vielleicht muss der andere Fuß noch loslaufen: der Ärger eines ebenso großen
oder gar größeren Anteils der Bevölkerung, die den Eindruck hat, dass just der
Mann, der der Türkei augenscheinlich eine goldene Dekade verschafft hat, ihnen
von ruchlosen Kräften entrissen wird.
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*Das
englische Original des Artikels erschien am 13. März 2014 bei Jadaliyya:
www.jadaliyya.com/pages/index/16873/seni-bilen-hayran-bilmeyen-dusman-or-why-erdogan-r
Wir
danken Jadaliyya sowie dem Autor für die freundliche Erlaubnis, eine deutsche
Übersetzung auf unserem Blog veröffentlichen zu dürfen.