Donnerstag, 29. Mai 2014

„Die dich kennen, sind deine Bewunderer, die dich nicht kennen, deine Feinde“ – oder: Warum Erdoğan weiterhin so beliebt ist*

Von Alexander Christie-Miller

Dass die AKP ihre Vormachtstellung bei den Kommunalwahlen konsolidieren konnte und Erdoğans Popularität weiterhin sehr hoch ist, erscheint angesichts des sozialen Aufstands im vergangenen Sommer und der Abspaltung der Gülen-Bewegung erklärungsbedürftig. Antworten finden sich an der sozialen Basis der Partei, deren Prioritäten am realen materiellen Fortschritt der letzten Dekade orientiert sind, dessen Fortführung in Abhängigkeit von der herrschenden Partei gesehen wird.


Auf einer Demo am vergangenen Samstag im Istanbuler Stadtteil Bakırköy war das ausschließlich weibliche Publikum entfacht wie Teenager auf einem Pop-Konzert – lange bevor der Hauptredner die Bühne betrat. „Auf wen warten wir?“, skandierte der Ansager. „Recep Tayyip Erdoğan!“, so die tosende Antwort. Als ich einige der Frauen fragte, was ihnen am Premier der Türkei so sehr gefalle, fiel den meisten darauf eine Antwort anfangs nicht leicht, so als seien seine Qualitäten so zahlreich, dass man sie gar nicht alle aufzählen könne. „Ich denke, es gibt niemanden wie ihn auf dieser Welt, er ist in jeder Hinsicht perfekt“, sagte eine.

Dies kontrastierte stark zu den Kommentaren, die ich zuvor an diesem Tag in Büyükçekmece, einem von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) regierten Stadtrandbezirk, gehört hatte, wo Erdoğan in Vorbereitung auf die landesweiten Kommunalwahlen am 30. März auf einer anderen Kundgebung aufgetreten war. Dort hatte ich gerade einen Gemüsehändler nach seiner Meinung zum Premierminister gefragt, als ein Kunde sich einmischte: „Die Menschen sehen doch, was für ein Dieb Erdoğan ist“, sagte er und machte eine Bewegung, als ob er eine Schlinge um seinen Nacken ziehen würde. „Er ist ein Verräter und wird hängen.“

Diese einander diametral widersprechenden Ansichten fanden am treffendsten auf einem Transparent zusammen, das auf der Demonstration in Bakırköy emporgehalten wurde: Seni bilen hayran, bilmeyen düşman. „Die dich kennen, sind deine Bewunderer, die dich nicht kennen, deine Feinde“. An diesem Slogan beeindruckte mich besonders, dass er die Stärke der politischen Botschaft Erdoğans so perfekt darlegte. Es ist ein Mantra, das sowohl Unterstützung wie auch Widerstand umfasst: Es unterstellt Opposition, ja fordert sie gar, um diese zugleich als illegitim abzutun. Menschen außerhalb der Türkei sind oft perplex angesichts der Frage, warum Erdoğan sich angesichts erheblicher Korruptionsvorwürfe, die seine Regierung nicht mal besonders gekonnt entkräftete, einen derart soliden Kern von UnterstützerInnen erhalten kann. Ich denke, viele Außenstehende – und auch zahlreiche Oppositionelle innerhalb der Türkei – begreifen nicht, wie stark seine politische Plattform ist, und wie seine Erzählung in den Augen erheblicher Teile der Bevölkerung sogar noch stärker wird, je mehr er durch seine „Feinde“ unter Beschuss zu geraten scheint. Seine Botschaft wird zudem von einem tief verwurzelten historischen Narrativ und spürbaren Errungenschaften in der Gegenwart gestützt. Diese statten ihn gegenüber den Korruptionsvorwürfen mit prompten Antworten aus, die in den Augen zahlreicher Menschen bei weitem überzeugender sind als substantielle Konsequenzen. Erdoğans Slogan vom „nationalen Willen“ – ein ziemlich gruselig erscheinendes Leitbild – ist für viele Türkinnen und Türken weit fesselnder und weniger nebulös als Begriffe wie „Gewaltenteilung“ oder „Rechtsstaat“, zumal die Motive der Gülen-Bewegung den Glauben an die Gesetzmäßigkeit an sich kompromittiert haben.

Konkrete Errungenschaften versus abstrakte Konzepte

Es ist mir peinlich einzugestehen, dass ich in den vier Jahren, die ich bereits hier lebe, vor Samstag nie auf einer von Erdoğans Kundgebungen gewesen bin – obschon seine Stimme den ständigen Soundtrack in der heutigen Türkei bildet. Sie schmettert landesweit aus Autoradios und von Fernsehschirmen in Geschäften, Cafés und Lebensmittelläden. Die meisten Fernsehkanäle switchen die Übertragung zum Premierminister, wann immer er spricht. Als er in der Sinan Erdem Sporthalle in Bakırköy auf die Bühne trat, vor einem Publikum von rund 7.000 Frauen, einige von ihnen mit kleinen Kindern, ein oder zwei mit ihren Ehemännern im Schlepptau, sprach er anlässlich des Internationalen Frauentages. Die Stimmung war bereits zuvor aufgeheizt von einer Reihe Redebeiträgen, u.a. von Istanbuls Oberbürgermeister Kadir Topbaş und Familienministerin Ayşenur İslam. Sie sprachen über die Politik der „Null Toleranz“ gegenüber Gewalt an Frauen, über die große Zahl an Gesundheitszentren, Sporthallen und Kindertagesstätten, die die Partei in Istanbul errichtet habe und weiterhin errichten werde. Oft lenkt die Regierung die Aufmerksamkeit auf die vielen anderen Dinge, die sie auch gebaut hat: im ganzen Land neue Flughäfen, den kürzlich eröffneten Marmaray Tunnel unter dem Bosporus, tausende Kilometer Fernstraßen. Regierungsgegner blicken verbittert auf diese Leistungen. Ihnen erscheinen errichtete Gebäude unbedeutend im Vergleich zu Grundrechten, die aberkannt werden oder bedroht sind: die Rechte einer Frau über ihren Körper, zum Beispiel, die Erdoğan mit seinen Drohungen gegen Abtreibung und seiner bedrückenden Verherrlichung von Mutterschaft permanent infragestellt. Für große Teile der Bevölkerung – meistens die ärmeren Schichten – sind die konkreten Errungenschaften der AKP allerdings weitaus substanzieller als eine Reihe abstrakt erscheinender Konzepte. Wenn letztere dann tatsächlich ihr Leben berühren (zum Beispiel ein Mädchen aus konservativem Hause, das gezwungenermaßen eine illegale Abtreibung durchführen lässt), werden sie meist nicht als politische Entscheidungen betrachtet. Sie erscheinen vielmehr als Schicksal, oder als der Wille Gottes, oder als gesellschaftliche Gepflogenheit.

Gravierende Fehleinschätzungen

Einer der wenigen mit einem schalen Nachgeschmack behafteten Aspekte während der Gezi-Proteste – der ansonsten inspirierendsten und positivsten sozialen Bewegung in der Türkei, der ich beiwohnte –  war die breit geteilte Meinung über die Anhänger der Regierung: „Die Menschen unterstützen die AKP, weil die ihnen Sachen schenkt“, war eine oft gehörte Ansicht, oder auch „Die haben ihre Stimmen gekauft“. Die allgemeine Sichtweise war, Regierungsanhänger seien provinzlerische, fromme, von einer zynischen Regierung hinters Licht geführte Schmarotzer. Dieser Aberkennung von Handlungsfähigkeit entsprach auf der Gegenseite die herablassende Behauptung der Regierung, die Gezi-Protestierenden seien „Randgruppen“ oder verwöhnte, von Terrorbanden irregeleitete Kids. Manche bezogen sich auf den verbreiteten Glauben, die AKP kaufe sich ihre Unterstützung, indem sie Kohle umsonst verteile. Doch zugleich offenbarte sich darin die Vorstellung, die materiellen Errungenschaften der AKP – die Straßen, Flughäfen und so weiter – seien im Grunde Wahlbestechungen.

Um anhand eines Beispiels zu verdeutlichen, warum dies eine gravierende Fehleinschätzung ist, sei Tuzköy erwähnt, ein Dorf in der Provinz Nevşehir, das durch eine Krebs-Epidemie, die im Zusammenhang mit einem seltenen, im örtlichen Gebirge natürlich auftretenden Mineral steht, schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ich habe vergangenes Jahr hierzu eine Reportage geschrieben. Seit den 1960er Jahren wusste der türkische Staat von der Misere in Tuzköy: Mehr als 50% der Todesfälle waren krebsverursacht, oft bei Menschen Anfang Dreißig. Über vier Jahrzehnte wurde aus unterschiedlichen Gründen nichts dagegen unternommen: kommunalpolitische Verfehlungen, schwache Regierungskoalitionen, Militärputsche, dürftige staatliche Leistungsfähigkeit usw. Erst kurz nachdem Erdoğan sein Amt angetreten hatte und ein AKP-Bürgermeister gewählt wurde, siedelte die Regierung das gesamte Dorf um. Jetzt ist die Situation auch nicht perfekt, aber die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, waren glücklich über die Umsiedlung, und darüber, dass ihre Kinder nicht länger mit der Aussicht auf einen frühen, qualvollen Tod leben mussten. Natürlich mag dies den Gegnern der AKP als eine Belohnung für die treue Gefolgschaft des Bürgermeisters erscheinen. Ähnlich wird die Großzügigkeit der Regierung in von der Opposition regierten Gebieten als populistischer Versuch erklärt, Unterstützung zu gewinnen – so wie bei den Projekten des öffentlichen Nahverkehrs in Izmir. Mag sein. Aber diese Sichtweise verschleiert den wichtigeren Punkt, dass nämlich die AKP – anders als manch ihrer Vorgänger – die Grundfunktionen einer Regierung erfüllt. Ohne die Aufmerksamkeit von der Korruption, der fehlenden öffentlichen Konsultation sowie der mit dieser Entwicklung einhergehenden Umweltzerstörung ablenken zu wollen (wenngleich letztere in der Türkei bei den Massen wenig Mobilisierungskraft hat), sollte die Opposition den gewaltigen materiellen Fortschritt der letzten Dekade klar und deutlich zur Kenntnis nehmen, ebenso wie die Rolle der AKP darin. Absurderweise könnte dies der einzige Weg sein, damit diese Errungenschaften nicht mehr weitläufig als das Monopol der AKP wahrgenommen werden sowie ihre Fortführung nicht mehr in Abhängigkeit von denen gesehen wird, die an der Macht sind. Vielleicht würden dann der Ausbau und die Dienstleistungen in der Infrastruktur nicht mehr als eine Funktion politischer Patronage betrachtet werden.

„Schützt die Wahlurnen, schützt eure Stimme!“

Wie dem auch sei, Erdoğan trat auf die Bühne. Wie häufig begann er mit einer weitläufigen Grußreihe an die Menschen (Muslime) aus aller Welt. Er grüßte die geplagten Frauen Syriens, Somalias und aus Myanmar, „die trotz allem an ihrer Ehre festgehalten haben“. Er grüßte Frauen aller Berufe und sozialer Schichten. Nebenbei grüßte er sogar „die ausgebeuteten Frauen im Westen, die zu käuflichen Waren gemacht worden sind“. Es war ein klassisches Beispiel für die Art und Weise, in der Erdoğan scheinbar vereint, während er eigentlich spaltet. Für seine Anhänger erscheint er in diesen Grußbotschaften als der herausragende Staatsmann, der diejenigen, die er widerlich findet, bemitleidet und sogar verbal umarmt. Gleichzeitig ist es eine unterschwellige Verurteilung des großen Teils derjenigen türkischen Frauen, die „westliche“ kulturelle Werte übernommen haben. Für sein Publikum war es eine großartige Rede. Der Slogan des Events war Kadın varsa demokrasi var—“Wenn Frauen dabei sind, gibt es Demokratie“ – womit wahrscheinlich gemeint ist, dass die Partizipation von Frauen Demokratie ausmacht, jenseits ihrer schlichten Anwesenheit. Zu diesem Thema gab Erdoğan eine Anekdote über ein Dorf namens Arslanköy zum Besten, in dem, wie er sagte, die ansässigen Frauen sich 1947 erfolgreich gegen die Versuche der CHP, die Wahlergebnisse zu manipulieren, zur Wehr gesetzt hatten. Dies ließ ihn zur gegenwärtigen Stimmabgabe in den anstehenden Kommunalwahlen übergehen. Die CHP würde wieder versuchen, die Stimmen zu klauen, behauptete er: „Schützt die Wahlurnen, schützt eure Stimme!“ Die Demokratie, in Gestalt der Frauen von Arslanköy, die langmütigen konservativen Massen und Erdoğan himself wurden wieder mal von denselben Kräften attackiert wie in der Vergangenheit: dunkle ausländische Mächte, die CHP, die säkularen Eliten, die lange die Macht in ihren Händen gehalten und immer dann das Militär eingesetzt hätten, wenn ihr fester Griff sich zu lockern schien. Die gegenwärtigen Korruptionsvorwürfe passen perfekt in diese Erzählung. Anders als bei Gezi, als die „Putsch“-Behauptungen Außenstehenden schlicht lächerlich vorkamen, stellt nun niemand ernsthaft in Frage, dass Erdoğan recht hat, wenn er behauptet, die Ermittlungen zu den Bestechungsvorwürfen seien ein Versuch, ihn zu stürzen. In den Augen vieler Türkinnen und Türken ist es diese Tatsache, mehr als der Wahrheits- oder Unwahrheitsgehalt der Anschuldigungen selbst, die den stärksten Nachhall findet, und die die Bestechungsuntersuchungen mit einer seit langem etablierten und emotional tief sitzenden historisch-politischen Erzählung verknüpft. Dies spiegelt sich in den Aussagen der an der Kundgebung Beteiligten: „Das ist eine Falle, die uns von unseren Feinden gestellt wurde... Die Türkei befindet sich in ihrer glorreichsten Periode seit der Republiksgründung, und da gibt es Leute, die darauf neidisch sind und versuchen, Probleme zu machen“, sagte eine Frau. Andere stellten die ökonomischen Erfolge der Regierung positiv den Anschuldigungen gegenüber: „Korruption hat es immer schon gegeben, jeder in der Regierung bereichert sich... Aber zugleich hat er [Erdoğan] so hart für uns gearbeitet, selbst wenn das alles wahr wäre, würde ich ihn weiterhin unterstützen.“ Und ein anderer schlicht: „Ich werde ihn bis zum Ende unterstützen, bis zum Tod.“ 

Indem er daran festhält, er sei einem putsch-ähnlichen Angriff ausgesetzt, versucht Erdoğan immer wieder, den Geist von Premierminister Adnan Menderes wachzurufen, ein weiterer charismatischer Populist, der in seinen späteren Jahren auf eine autoritäre Linie umschwenkte, schließlich durch einen Militärputsch 1960 seines Amtes enthoben und nach einem Schauprozess gehenkt wurde. „Was sie Menderes angetan haben, wollen sie mir antun“, sagte er auf der Kundgebung in Bakırköy. Zu einer Zeit, in der Erdoğan um sein politisches Überleben kämpft, rahmt er diese Erzählung so, dass das von einem Teil der Bevölkerung geforderte Resultat – er möge zurücktreten und für die ihm zur Last gelegten Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden – für einen anderen großen Teil der Bevölkerung einem Putsch gleichkommt. Und sie haben nicht ganz Unrecht. Immerhin sind die erhobenen Korruptionsvorwürfe, was immer ihr Wahrheitsgehalt sein mag, zweifelsohne ein wohl kalkulierter Versuch, Erdoğan entweder aus dem Amt zu jagen oder ihn an den Wahlurnen so weit wie möglich zu schwächen. Innerhalb der Opposition haben die Bestechungsanschuldigungen und die Reaktion der Regierung – erfolgreich den Rechtsstaat außer Kraft zu setzen – die feste Überzeugung hervorgebracht, dass Erdoğan nun kein legitimer Premier mehr sei. Kemal Kılıçdaroğlu, der Kopf der führenden Oppositionspartei CHP, weigert sich nun, Erdoğan Başbakan (Premierminister) zu nennen. Stattdessen nennt der ihn einen Başçalan (Premierdieb).

Copyright auf den „nationalen Willen“? Die Hälfte stimmte nicht für Erdoğan 

Ebenso wie die Opposition in der Türkei die Stabilität der Unterstützung für die Regierung und die tiefe Resonanz von Erdoğans Botschaft missversteht, so missversteht sein eigenes Lager die Bedeutung der noch zersplitterten Opposition gegen ihn. Diese falsche Auffassung rührt von Erdoğans Erzählung selbst her (und von den spezifischen Spaltungen in der türkischen Politik), nämlich von der Behauptung, er und seine Unterstützer seien quasi identisch mit der Vorstellung von Demokratie. Durch diesen Glauben kann er ohne mit der Wimper zu zucken behaupten, dass die 49.9% der bei den letzten Parlamentswahlen gewonnenen Stimmen es ihm erlauben, das Copyright auf den „nationalen Willen“ für sich zu beanspruchen, obwohl mehr als die Hälfte der WählerInnen für jemand anderen gestimmt hatten. Die Unterstützer der AKP tendieren dazu, diese Gegner im besten Fall als verbitterte Verlierer zu betrachten, und im schlechtesten Fall als aktive Putsch-Verschwörer und Terroristen. Für diesen Teil der Bevölkerung ist die Fortsetzung und Verschanzung von Erdoğans Regierung gleichbedeutend mit der Verteidigung der Demokratie selbst. Aus dem Blick gerät dabei der Umstand, dass der Erfolg der AKP in ihren ersten zehn Jahren – und der Grund, weshalb die Türkei in jener Zeit bei vielen Beobachtern aus der restlichen Welt ein derart hohes Ansehen genoss – darin bestand, eine Demokratie zu sein, die mit der Zustimmung fast der gesamten Bevölkerung funktionierte. Sogar diejenigen, die die AKP geringschätzten, anerkannten ihr Recht zu regieren. Erdoğan hat natürlich immer noch ein starkes demokratisches Mandat im grundlegenden Sinne, und womöglich bestätigt sich dies in den kommenden Wahlen. Aber er wird nicht weiterhin in der Lage sein, stabile Verhältnisse zu haben, wenn er nicht bereit ist, drastische repressive Maßnahmen zu beschließen, was der Türkei die Demokratie kosten wird. Erdoğan redet, als zögen diese Kommunalwahlen einen Schlussstrich unter die gegenwärtige Krise. Doch sollte umgehend offensichtlich geworden sein, dass dies nicht der Fall ist. Sein Problem ist nicht die Legitimität durch Wahlen, sondern die gesetzliche Rechtmäßigkeit. Die Angriffe der Gülen-Bewegung werden wohl weitergehen, und ein beachtlicher Teil der Bevölkerung wird einem durch Wahlen erneuerten Mandat Erdoğans nicht trauen. Das liegt in der zunehmenden Wahrnehmung, dass angesichts des Umfangs der Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung und des hohen Preises, der zu zahlen wäre (Erdoğan könnte im Gefängnis landen, falls er schließlich die Macht verliert), die Wahlen gefälscht werden könnten.

Bevölkerungsgruppen auf Kollisionskurs

Letztlich mögen, so die abschließende Analyse, diese Kommunalwahlen gar nicht so bedeutsam sein, außer dass sie der Maßstab für Erdoğans Entscheidung sein werden, ob er a) im August als Präsidentschaftskandidat antritt, und b) ob die Parlamentswahlen vorgezogen werden. Nun da in der Türkei die Anti-Regierungsproteste erneut entflammt sind, warfen gestern [12. März 2014] zehntausende Trauernde auf einem Platz in Istanbul Nelken auf den Sarg eines getöteten Jungen, für dessen Tod sie Erdoğan verfluchten und seinen Rücktritt verlangten. Zugleich sprach Erdoğan in der ostanatolischen Stadt Mardin zu einer anderen großen Menschenmenge und warf ebenso Blumen – auf seine ihn anhimmelnden Unterstützer. Trotz der Wut, die in Istanbul hervorbrach, erwähnte er Berkin Elvan nicht einmal. Man unterliegt der Versuchung, bei der Betrachtung dieser Szene das einfache Klischee des Autokraten hervorzuholen, der jeglichen Realitätsbezug verloren hat und kurz vor seinem Sturz steht. Dennoch ist keine dieser beiden Szenen eine Täuschung. Erdoğan mag von der einen Hälfte der Bevölkerung zutiefst entfremdet sein, doch zugleich hat er den Finger genau am Puls der anderen Hälfte, und das weiß er. Das macht die Situation in der Türkei so beängstigend: Erdoğans politische Erzählung lenkt zwei wesentliche Teile der Bevölkerung auf einen Kollisionskurs. Mittelfristig fällt es mir zunehmend schwerer, eine Lösung der Situation auszumachen, ohne dass es zu einer noch ernsteren Periode sozialer Unruhen kommt, als wir sie bislang erlebt haben. Ob Erdoğan bleibt oder geht, in der Türkei stehen harte Zeiten an. Wir haben die Wut all derer auf der Straße gesehen, die sich von der autoritären Spaltungspolitik der Regierung marginalisiert fühlen, aber vielleicht muss der andere Fuß noch loslaufen: der Ärger eines ebenso großen oder gar größeren Anteils der Bevölkerung, die den Eindruck hat, dass just der Mann, der der Türkei augenscheinlich eine goldene Dekade verschafft hat, ihnen von ruchlosen Kräften entrissen wird.

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*Das englische Original des Artikels erschien am 13. März 2014 bei Jadaliyya:
www.jadaliyya.com/pages/index/16873/seni-bilen-hayran-bilmeyen-dusman-or-why-erdogan-r
Wir danken Jadaliyya sowie dem Autor für die freundliche Erlaubnis, eine deutsche Übersetzung auf unserem Blog veröffentlichen zu dürfen.