Präsidialsystem
versus De-Zentralisierung der politischen Verwaltung, Islamisierung versus
säkulare Gleichstellungspolitik. So könnten die Gegenpole, für die die
Kandidaten der anstehenden Wahlen stehen, umschrieben werden.
Am 10. August findet die erste Runde der
Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Drei Kandidaten treten zur Wahl an.
Wenn keiner der Kandidaten die absolute Stimmenmehrheit erringt, kommt es zu
einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmanteilen. Der
Vorsitzende der AKP und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hat die besten
Aussichten, erneut als Gewinner aus einer Wahl hervorzugehen. Ihm steht Ekmeleddin
Ihsanoğlu gegenüber, der gemeinsame Kandidat der Oppositionsparteien MHP/CHP
und der von der AKP abgespaltenen Gülen-Bewegung[1]. Der ehemalige Generalsekretär
der internationalen Organisation für Islamische Zusammenarbeit, damals von der
AKP-Regierung für dieses Amt vorgeschlagen, war bis zu seiner Kandidatur in der
Türkei weitgehend unbekannt. Der dritte Kandidat heißt Selahattin Demirtaş,
ehemaliger Vorsitzender der inzwischen aufgelösten kurdischen Partei BDP und
neuer Vorsitzender der kurdisch-links-liberalen HDP.
Die
„neue“ Türkei – ein gemeinsames Werk
Erdoğan verspricht den Übergang in ein
Präsidialsystem. Dieses Langzeitprojekt konnte angesichts interner Grabenkämpfe
in der AKP und fehlender Mehrheiten im Parlament für die notwendige Verfassungsänderung
bisher nicht umgesetzt werden. Nun soll es angeblich durch Ausschöpfung der
vorhandenen Machtbefugnisse des Präsidentenamts faktisch vollzogen werden. Unter
Beibehaltung des jetzigen Systems kann der Präsident hohe Beamte wie Verfassungsrichter,
Universitätsrektoren und Personal für diverse Kontroll- und Beratungsgremien ernennen.
Er sitzt dem Nationalen Sicherheitsrat vor und kann den Ministerrat zu
Sitzungen unter seiner Leitung einberufen. Außerdem kann er Gesetze blockieren,
eine fast vergessene Maßnahme, da sie der amtierende Präsident Abdullah Gül nicht
einsetzte. Trotz dieser potentiellen Machtfülle ist der Übergang in ein
Präsidialsystem ohne konstitutionelle Veränderungen ein heikles Projekt. Es
setzt voraus, dass der Nachfolger Erdoğans im Amt des Ministerpräsidenten seine
Befugnisse nicht ausschöpft. Der Ministerpräsident steht der Regierung vor, ihm
unterstehen der Geheimdienst, die aufgewertete Religionsbehörde und die
mächtige Behörde TOKİ, über die der boomende Bausektor gelenkt und Milliarden-Aufträge
vergeben werden. Auch unter Ausreizung aller Befugnisse würde der Präsident
Erdoğan die direkte Kontrolle über solche Machtmittel verlieren. Denkbar ist
dennoch, dass Erdoğan einen Teil seiner jetzigen Macht an einen Nachfolger
abgibt und eine neue Balance innerhalb der AKP gefunden wird, während zugleich das
Präsidentenamt unter Ausreizung der Verfassung aufgewertet wird. Außerdem wäre Erdoğan
für fünf Jahre gewählt und könnte die Parlamentswahlen im nächsten Jahr
abwarten, bei denen seine Partei einen neuen Anlauf für das Projekt
Präsidialsystem nehmen könnte.
Obwohl die gesamte Entwicklung auf die Person
Erdoğan zugeschnitten zu sein scheint, ist es nicht allein dessen persönliches
Schicksal, das zur Wahl steht. Erdoğan steht im Vordergrund, weil seine
Popularität der Partei Mehrheiten sichert und somit die Fortführung einer
Einparteienregierung ermöglicht. Im Hintergrund stehen die
Unternehmernetzwerke, die den Aufstieg des politischen Islam begleiten und die
Partei tragen. Bei seiner Rede vor dem Unternehmerverband MÜSİAD anlässlich des
Fastenbrechens am ersten Tag des Ramadan hob Erdoğan diesen
politisch-ökonomischen Zusammenhang kürzlich selbst hervor: „Die neue Türkei
wird nicht allein ein Werk der AKP, sondern ein Werk von Stiftungen und
Organisationen wie MÜSİAD sein“. Die AKP garantiert eine investorenfreundliche
Politik und vor allen Dingen den Erhalt des gesellschaftlichen Konsens in der
Arbeiterschaft. Extreme Arbeitsbedingungen, Vertreibung aus Wohnvierteln und massive
Umweltzerstörung durch riesige Infrastrukturprojekte und uferlosem Wohnungsbau
treten für viele hinter das Versprechen eines sozialen Aufstiegs zurück. So ist
der materielle Fortschritt der vergangenen Dekade nicht von der Hand zu weisen.
In der breiten Wahrnehmung ist dieser Fortschritt und damit die Aussicht auf
einen Aufstieg an die AKP gekoppelt. Selbst die Offenlegung individueller
Bereicherung durch Korruption oder solche Desaster wie das Grubenunglück in
Soma mit über 300 Toten, die die Kehrseite des Fortschritts aufzeigen, stören diese
Wahrnehmung kaum.
„Ein
Sack Kohle, eine Packung Nudeln“
Teile der CHP-Anhängerschaft werfen seit langem den Ärmsten
der Gesellschaft vor, sie verkauften ihre Stimmen für einen Sack Kohle und eine
Packung Nudeln an die AKP. Tatsächlich ist die Anzahl der Einzelpersonen und Haushalte,
die Hilfen aus öffentlichen Sozialfonds erhalten, stark gestiegen, nach
Schätzungen sind es jährlich 10 Millionen[2]. Da es keinen gesetzlich
geregelten Anspruch auf diese Hilfen gibt, empfinden viele Hilfsempfänger
Dankbarkeit gegenüber der regierenden Partei, deren indirekte Repräsentanten –
Provinzgouverneure oder Landräte (kaymakam) - den Fonds vorstehen. Da die CHP
es unterlässt, eine Alternative aufzuzeigen, wie die unter schwierigen Bedingungen
lebenden Familien sich ernähren und über den Winter kommen sollen, kann die
Beschuldigung des Stimmenverkaufs nur als zynisch bezeichnet werden. Eine zaghafte
und bei weitem nicht von der gesamten CHP verinnerlichte Alternative wurde während
der Kampagne zu den Kommunalwahlen 2009 vorgebracht. Damals machte die CHP den Vorschlag
für eine staatlich finanzierte Familienversicherung und hob die Bedeutung
gewerkschaftlicher Organisierung hervor, um prekären Beschäftigungsverhältnissen
entgegenzuwirken. Dieses sozial-demokratische Intermezzo ist
inzwischen gänzlich rechts-populistischen Hochglanzkampagnen gewichen. Die CHP
verspricht nur noch eins: so wie die AKP zu sein, nämlich investorenfreundliche
neoliberale Politik zu gestalten.
Einen Anpassungskurs vollzieht die CHP auch auf der
kultur-politischen Ebene. Der Kandidat Ihsanoğlu verkörpert diese Ausrichtung.
Sicherlich würde seine Wahl den Übergang in ein Präsidialsystem mittelfristig verhindern
und die AKP-Regierung empfindlich schwächen. Eine Rückkehr zur Konstellation
vor Güls Präsidentschaft, als dessen Vorgänger bestimmte Gesetze blockierte und
andere Kandidaten für hohe Staatsämter ernannte als der AKP genehm war, ist
offenkundig der Beweggrund, gemeinsam mit der nationalistischen MHP und der
Gülen-Bewegung anzutreten. Allerdings fällt Ihsanoğlu in manchen Belangen sogar
hinter die AKP zurück und es drängt sich der Eindruck auf, dass CHP und MHP die
türkisch-islamische Synthese zum gemeinsamen Nenner erkoren haben, um sie gegen
den islamischen Konservatismus der AKP ins Feld zu führen. Ihsanoğlu bedient
die türkisch-nationalistischen Erwartungen, wenn er Kurdisch als unreife
Sprache bezeichnet, die nicht gleichrangig mit der „Bildungssprache“ Türkisch
behandelt werden könne. Danach befragt, was er von der Kritik an der rasenden
Stadterneuerung, den aus dem Boden schießenden Einkaufszentren und dem Bau des
dritten Flughafens im Norden Istanbuls halte, antwortet er nicht etwa mit sozialen oder ökologischen
Bedenken, sondern mit der Sorge um das bauliche Erbe der osmanischen
Eroberungszeit Istanbuls im 15. Jahrhundert. Passend dazu definiert sich der
Kandidat an erster Stelle über seine Abstammung aus einem gläubigen Elternhaus
sowie konservative Werte, während Bürgerrechte ihm offenbar ein Fremdwort sind.
Im Strategiezentrum der CHP scheint jedenfalls die
Überzeugung herangereift, dass eine Mehrheit nur über konservativ-religiöse
Anrufung zu erreichen ist. Damit wird vor allen Dingen erreicht, dass die
Autorität der Religion gestärkt wird. Die Islamisierung der Gesellschaft wird
damit nicht mehr als eine politische Herausforderung angenommen sondern als
unumstößliche und unveränderliche Tatsache. In dieser religiösen Konjunktur
gilt Abtreibung dann als Mord, während Mord als Schicksal bezeichnet wird, wie
regelmäßig zur Rechtfertigung von Todesfällen bei Arbeitsunfällen zu vernehmen
ist. Während der Konformitätsdruck sich bei religiösen Ritualen wie dem Fasten
an Ramadan Bahn bricht - wehe dem, der nicht fastet -, bestimmt das religiöse
Bekenntnis immer stärker den Alltag. Schon so kleine Zeichen wie der gewöhnliche
Gruß „Merhaba“ (Hallo) anstelle des religiös konnotierten Pendants „Selamün
Aleyküm“ (etwa: Friede/Gott sei mit dir) können sich zu einem Nachteil bei der
Verfolgung alltäglicher Geschäfte entwickeln, sei es beim Einkaufen auf dem
Markt, der Suche nach einer Arbeitsstelle oder dem Gang aufs Amt, um bestimmte Gefälligkeiten
zu erwirken oder Hilfen zu erhalten. Es ist diese materielle Anbindung der
Religion, die sie so attraktiv und zugleich repressiv macht, indem sie zur
Anpassung zwingt. Diese Entwicklung wird nun auch von der CHP durch die
Festlegung auf einen Islamisten als Kandidaten befeuert.
Verprellte
Säkulare, verprellte Liberale
Die säkulare Basis der CHP fühlt sich verprellt. So
lange sie jedoch nicht von ihrem türkischen Nationalismus abrückt und das
Festhalten an republikanischen Errungenschaften nicht von einem dogmatischen
Bekenntnis zu Atatürk trennen kann, bleibt ihr der Weg zu einer Annäherung an
die einzig übrig gebliebene säkulare Bewegung in der Türkei versperrt. Für
diese Bewegung steht der Kandidat der HDP, Selahattin Demirtaş, der auch für
ein alternatives Regierungsmodell wirbt. Die kurdische Bewegung, mit deren
Unterstützung er antritt, streitet für eine De-Zentralisierung der politischen
Verwaltung, die verschiedene Regionen oder Bundesstaaten vorsieht. Bisweilen wird
sogar der Eindruck erweckt, es handele sich um ein basis-demokratisches Projekt.
Der Schritt zu einem solchen Vorhaben, das die Entscheidung über
gesellschaftliche Ressourcen kollektiviert bzw. der privaten Verfügung
entzieht, ist jedoch ein sehr großer. In den von der kurdischen Bewegung
regierten Kommunen findet er sich zumindest nicht wieder und ein
ausgearbeitetes Übergangsprogramm, das diese Absicht unterstreichen würde,
fehlt ebenfalls. Gleichwohl handelt es sich auch nicht um eine Vorstufe zu separatistischen
Bestrebungen, wie von nationalistischer Seite angenommen wird. Der
real-politische Horizont der Demokratisierung wird viel eher durch eine
Installierung parlamentarisch-liberaler Institutionen auf regionaler oder
bundesstaatlicher Ebene gebildet. Dieses im Kontrast zur radikal-demokratischen
Rhetorik ziemlich eingeschränkt demokratische Projekt würde nichtdestotrotz dem
Zentralisierungsprozess unter der AKP entgegenstehen, eine neue Machtbalance
zwischen den Regionen oder Bundesstaaten notwendig machen und damit autoritären
Tendenzen entgegenwirken können, zumal auch die Abschaffung zentralistischer
Institutionen wie des Hochschulrats YÖK gefordert wird.
Trotz der Enttäuschung, keine Frau zur Kandidatur
aufgestellt zu haben und zentraler Kritiken aufgrund mangelnder Transparenz bei
der Bestimmung des Kandidaten sowie des Fehlens öffentlicher Debatten über politische
Inhalte und Strategien unterstützen viele geschlechterpolitische/sozialistische
und links-liberale Gruppen die HDP von außen oder organisieren sich direkt
innerhalb der Partei. Aus ihrer Sicht vereint sie die fortschrittlichsten
sozialen Tendenzen des Landes und umfasst mit der kurdischen Bewegung die
einzige organisierte Kraft mit einer Offenheit für sozial-kritische Positionen.
Allerdings richtet sich, wie erwähnt, das Programm der HDP nicht auf eine
Umwälzung der Produktionsverhältnisse, wie die sozialistische Rhetorik manchmal
nahelegt. Formuliert werden sozial-demokratische Inhalte wie die Bekämpfung
prekärer Beschäftigungsverhältnisse und kostenloser Zugang zu Bildung. Im
Mittelpunkt stehen die Frage der Anerkennung und Gleichstellung unterschiedlicher
Glaubensbekenntnisse, ethnischer Identitäten sowie eine Geschlechterpolitik,
die ebenfalls an Gleichstellung orientiert ist. Forderungen wie die Abschaffung
der Religionsbehörde, über die die staatliche Kontrolle und Finanzierung des
sunnitischen Islam betrieben wird, gehören zum Programm. Die HDP positioniert
sich als liberale Kraft mit sozial-demokratischen Elementen. Nicht zufällig hat
auch eine größer werdende Gruppe liberaler Intellektueller, die vormals die AKP
unterstützten und von deren repressiv-islamistischen Kurs verprellt wurden,
inzwischen ihre Sympathien für Demirtaş bekundet.
Eine große Überraschung steht bei dieser Wahl nicht
an. Die Anhängerschaft der AKP scheint konsolidiert, während die von der
Gülen-Bewegung begleitete Koalition aus MHP und CHP den Schwenk zu einer
Islamisierung der Gesellschaft nachvollzieht. Allein die Frage, ob ein Teil der
verprellten Säkularen aus der CHP ihre nationalistischen Vorurteile gegenüber
dem Kurden Demirtaş überwinden und für den einzigen säkularen und liberalen Kandidaten
stimmen werden, ist offen.
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[1] Zum Verhältnis AKP-Gülen Bewegung: www.infobrief-tuerkei.blogspot.de/2014/02/vom-juni-aufstand-zur-palastrevolution.html
[2] www.toplumsol.org/kidemle-alip-sadaka-ile-vermek-iktidarin-istihdam-nufus-stratejisi-nazir-kapusuz