Ein Interview mit der Stadtforscherin Ayşe Çavdar
Von Anne Steckner
Von Anne Steckner
Neo-islamistische
Gesellschaftsvisionen im Kontext neoliberaler Urbanität am Beispiel der Gated
Community von Başakşehir/Istanbul: Wie hängen Kommunalpolitik, Bausektor und
politischer Islam zusammen? Baut sich die AKP ihre Wählerbasis im wörtlichen
Sinne? Wie verändert der Neoliberalismus urbane Religiosität? Und warum kann
Islam nicht antikapitalistisch sein?
Der politische Islam in der Türkei hat sich seit den 1990er Jahren
besonders auf kommunaler Ebene etabliert. Hierbei spielen die staatliche
Wohnungsbaubehörde TOKI und private Investoren eine tragende Rolle. Wie hängen
Baufirmen, Kommunen und politischer Islam miteinander zusammen?
Die von mir untersuchte Gated
Community Başakşehir ist ein gutes Beispiel. Der Bebauungsplan kam
ursprünglich von der Stadtverwaltung – es war Recep Tayyip Erdoğans erstes Großprojekt als
regierender Bürgermeister von Istanbul – und der Zuschlag ging an die politisch
nahestehende Baufirma KIPTAS sowie deren Subunternehmer. Die Kommune wollte
ihrerseits sichergehen, dass auch genügend kaufkräftiges Interesse an den neuen
Wohnungen in mittlerer und gehobener Preisklasse bestand. Also lud sie die
lokalen Führer der religiösen Orden und Gemeinschaften ein, die wiederum ihre
Mitglieder informierten. So haben sich auf der Grundlage bereits bestehender
religiöser Netzwerke ganze Viertel gebildet. Das sind verlässliche Kunden und
einschätzbare Nachbarn. Hier geht es um Vertrauen als ein Prinzip des Marktes,
nicht der Religion. Aber Religion ist ein willkommener Verstärker für die
Absicherung der Kundenbeziehungen.
Könnte man also sagen, die AKP baute sich im ganz wörtlichen Sinne die
Basis ihrer Anhängerschaft?
Ja, das ist gut ausgedrückt. TOKI
ist institutionell dem Ministerium von Premier Erdoğan unterstellt, so dass die AKP
die Vergabepolitik sehr direkt steuern kann. Seit 2004 hat es einige
Gesetzesänderungen gegeben, die der Behörde viel Macht verliehen haben: TOKI
kann jetzt z.B. Bebauungspläne auch gegen die Politik der Kommunen durchsetzen,
sie kann öffentliches Staatsland für sich beanspruchen und mit Banken
strategische Partnerschaften für Kredite und Marketing eingehen. Weißt du, ein
beachtlicher Teil der türkischen Ökonomie realisiert sich gegenwärtig über den
Bausektor.
Woran liegt das?
Enorme Summen öffentlicher Mittel
werden in Wohnkomplexe und Infrastruktur investiert. Der Bausektor hängt
natürlich auch mit anderen Sparten zusammen: Die Leute müssen ihre Wohnungen
einrichten, Möbel und Haushaltsgeräte kaufen, aber auch die Automobilindustrie
profitiert: Viele der neuen Siedlungen sind am Stadtrand gelegen. Die
Wohneinheit, das apartman, bedeutet für viele den Aufstieg vom alten gecekondu
(informell
errichtete Siedlungen)
bzw. mahalle (Viertel mit persönlichen Nachbarschaftsbeziehungen) in ein
‚modernes’ Leben. Das alles basiert auf explodierenden Verschuldungsraten der
privaten Haushalte bei den Banken. Wenn die Kredite nicht mehr bezahlt werden
können und der Bau-Boom ins Stocken gerät, werden auch die Banken in große
Schwierigkeiten geraten.
Klingt nicht gerade nach einer stabilen Grundlage…
Noch funktioniert es. Başakşehir war in Istanbul das erste Experiment mit
Massenbebauung auf großen Freiflächen, das Labor für einen neuen Typus
Urbanität. Das vor 6 Monaten verabschiedete »Katastrophen-Gesetz« (Afet Yasası)
beispielsweise liefert die juristische Basis für diese Art der städtischen
Bebauung. Es ermöglicht der Regierung, im Namen aller möglichen »Gefahren für
die nationale Sicherheit« – offiziell als Schutz vor Erdbeben deklariert –
Freiflächen zu enteignen, alte Gebäude abzureißen oder bestehende Bausubstanz
in ihrem Sinne umzufunktionieren. Um Profite zu machen, müssen die
Bauunternehmer in große Areale investieren. Für deren Kredite garantiert übrigens
die Regierung, weil sie ja der Hauptauftraggeber ist. Das ist ein ertragreiches
Akkumulationsmodell, von dem dank der AKP vermehrt auch muslimische Unternehmen
profitieren. Das haben die Marktschreier der säkularen Medien nicht kapiert: Başakşehir ist nicht einfach nur ein islamistisches Ghetto, es
repräsentiert eben auch den erfolgreichen Aufstieg einer frommen urbanen
Mittel- und Oberschicht, deren Religiosität sich – von abergläubischen
Elementen gereinigt – mit säkularen Elementen vermischt.
Du sagst, ›Urban Transformation‹ und die Veränderung von Religion
müsse man in ihrem gesellschaftlichen Verhältnis zueinander betrachten. Wie
meinst du das?
Religion schwebt ja nicht im
luftleeren Raum, sie ist eingebettet in den Kontext einer konkreten
Gesellschaftsordnung. Kapitalismus braucht Vertrauen, um zu funktionieren.
Dieses Vertrauen kann der Staat liefern. Wenn der allerdings den Menschen oder
den Unternehmen bestimmte Sicherheiten nicht bietet, kann Religion das teilweise
kompensieren. In der Türkei wurde eine bestimmte Form urbaner Religiosität zum
Zentrum neuer Vertrauensbeziehungen, z.B. in den hochgradig individualisierten
Wohnkomplexen. Im Zuge des neoliberalen Umbaus der türkischen Gesellschaft
haben sich auch die religiösen Lebensformen stärker der Marktlogik angepasst.
Was heißt das?
Das kann ich anhand von
exemplarischen Eindrücken aus dem Alltag in Başakşehir veranschaulichen: Eine als
Eheberaterin arbeitende Frau erklärt, die in islamistischen Kreisen geforderte
Vielehe sei mit zeitgemäßen Marktmechanismen vergleichbar und bringe die Frauen
dazu, im Wettbewerb mit den Nebenbuhlerinnen ihre Weiblichkeit zu entwickeln. –
Zum Opferfest organisieren religiöse Orden und Gemeinschaften in Başakşehir über anonyme Geldspenden die Verteilung von
geschächtetem Fleisch an bedürftige Familien. So muss niemand mehr direkt in
Berührung mit den Armen kommen. Eine professionalisierte Institution übernimmt
das, was früher den zwischenmenschlichen Kontakt an den Feiertagen ausgemacht
hat. – Und noch ein anderes Beispiel: Die Schulklasse eines privaten kolej soll
im Ethikunterricht eigenständig ein Theaterstück entwickeln. Raus kommt eine
Performance, in dem die SchülerInnen sich über Mittellose lustig machen...
Zeigen diese Beispiele die marktförmige Landnahme des Alltagslebens,
des Sprechens und der Denkweisen?
Mit den veränderten Lebensweisen
hat sich jedenfalls die Symbolik verändert. Im klassischen gecekondu oder
mahalle war Wohlhabenheit nicht so gern gesehen. Das öffentliche
Zurschaustellen von Reichtum galt als ayıp, als unanständig. Heute indes musst
du in einer site (Gated Community) wie Başakşehir etwas vorweisen können, um
dazuzugehören. Wohlstand legitimiert sich über den Diskurs, die Pracht Allahs
spiegele sich in den Muslimen. Wir sollen uns schön kleiden, damit die Anderen
Gottes Schönheit sehen. Die Frommen haben sich zu selbstbewussten Konsumenten
gemausert, ihr gelebter Islam ist der einer materiell aufgestiegenen Klasse.
Aber nicht alle Muslime gehören dazu...
Nein, Arme bleiben draußen oder
dürfen maximal zum Putzen oder Reparieren kommen. Zwar gibt es auch am Rand von
Başakşehir ärmere Wohnviertel, doch schafft die ethnische oder
klassenmäßige Segregation deutliche Trennungen. Wer nach Başakşehir zieht, flieht vor Armut, Lärm und Kriminalität in der
‚gefährlichen Stadt’ in die saubere, ruhige und sichere site, in der kein
Alkohol verkauft wird und die Ehefrau bedenkenlos ihr Kopftuch tragen kann. Ein
kulturelles Ghetto. Wobei ich auch beobachtet habe, dass Mädchen und junge
Frauen aus Başakşehir, wenn sie in der Vergnügungsmeile von Beyoğlu ausgehen, das Kopftuch abnehmen
und es erst wieder zu Hause anlegen.
Du sprachst auch von ethnischen Spaltungen...
Ja, zum Selbstverständnis dieser
neuen Mittelschichten gehört auch, sich von den ›kulturlosen und ungebildeten‹
(cahil) KurdInnen abzugrenzen. Doch im Grunde ist das nur eine Ethnisierung der
Klassenfrage. Reiche religiöse KurdInnen sind nämlich kein Problem in der
Nachbarschaft.
Das zeigt jedenfalls: Neo-Islamismus als Ideologie (Yeni İslâmcılık)
und als politisches Projekt (Siyasi İslâm) ist kein homogener Block.
Ja, es gibt nicht den Islam. Er
ist ein von gesellschaftlichen Konflikten durchzogenes Feld der
Auseinandersetzung um die ›richtige‹ religiöse Lebensweise und den ‚wahren’
Islam. Diese Kämpfe sind gesellschaftlicher Natur, werden aber häufig moralisch
aufgeladen und über innermuslimische Abgrenzungen gegenüber dem ›Pöbel‹, dem ›niederen
Volk‹ (avam) ausgetragen.
Wer es zu nichts gebracht hat, ist auch kein guter Muslim? Aber es
gibt doch auch islamisch geprägte Diskurse zu Gerechtigkeit und Demokratie...
Gerechtigkeit ist ein gutes
Beispiel. Als der politische Islam in der Türkei eine oppositionelle Bewegung
war, wurde den Herrschenden gegenüber ständig an die Gerechtigkeit appelliert.
Jetzt, da eben diese Gruppen an die Macht gelangt sind, werden bestimmte Werte
anders artikuliert. Nun geht es primär um Entwicklung, schon das Wort kalkınma
im Namen der AKP legt dies nahe. Dies soll der Weg sein, um Gerechtigkeit zu
schaffen. Wie andere Religionen auch ist der Islam offen für unterschiedliche
Auslegungen. Es geht mir jetzt nicht darum, einen ›ursprünglich guten Islam‹ zu
verklären, doch wird deutlich, dass unter der AKP religiöse Bezüge auf
Gerechtigkeit im Schatten von kalkınma stehen. Macht hat eben ihre eigene
Moral.
Letztlich doch eine Frage von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen
und Kämpfen um die Deutungshoheit, oder? Wie schätzt du vor diesem Hintergrund
die jüngst von viel Medienecho begleitete Gruppe der »Antikapitalistischen
Muslimischen Jugend« ein?
Hm, das ist noch eine sehr kleine
Gruppe. Bleibt abzuwarten, was daraus wird. Das Problem ist, dass der Islam
nicht antikapitalistisch sein kann. Zum Beispiel ist der Diskurs, Prophet
Mohammed sei ein erfolgreicher Händler gewesen, eine weit verbreitete
ideologische Legitimation von Warenbeziehungen und Privateigentum. Aber es
lassen sich im Islam ein paar Anknüpfungspunkte finden, um dem Kapitalismus
wenigstens die Krallen zu stutzen.
Wo lässt sich die Feile denn ansetzen?
Wie schon gesagt, hier spielen
unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit hinein. Der Koran verpflichtet
die Muslime zur ›gerechten‹ Behandlung des Arbeiters. Prophet Mohammed mahnte
die Arbeitgeber, den ArbeiterInnen ihren Lohn auszuzahlen, noch bevor der
Schweiß auf ihrer Stirn getrocknet ist. Die Arbeit gehöre nicht dem
Unternehmer, sondern sei ein Geschenk Gottes. Allerdings haben weder die AKP noch
irgendwelche anderen islamischen Parteien wirklich eine Ahnung von den
konkreten Arbeitsverhältnissen in der Türkei. Unter den gläubigen
Lohnabhängigen findet sich oft eine Haltung, die auf tevekkül gründet, was so
viel heißt wie: Dem Schicksal ergeben sein und geduldig auf das Gute in der
Zukunft hoffen, das sich im Namen des Islam verwirklichen wird. In der
Beziehung zu Allah das irdische Unrecht ertragen. Das Problem ist: Zwischen dir
und Gott steht der Arbeitgeber.
Da wird es dann zuweilen schwierig mit der Gerechtigkeit... Warum
wählen die ArbeiterInnen dann trotzdem AKP?
Seitdem der politische Islam in
den Kommunen und in der Regierung am Ruder ist, hat Erdoğan den Leuten nicht einfach das
Blaue vom Himmel versprochen, sondern Wohnungen bauen und die städtische Infrastruktur
verbessern lassen. »Ich hole euch aus euren Hütten, ihr sollt Paläste haben!«
ist sein dazugehöriger Diskurs. Nüchtern gesagt: Die AKP hat geliefert, was sie
versprochen hat, auch Teilen der Lohnabhängigen. Die Leute wissen, warum sie
für diese Partei stimmen.
Ist denn jetzt alles schön, sauber und modern?
Başakşehir ist eine künstliche
Ghetto-Modernität. Der urbane politische Islam muss sein eigenes Gedächtnis
löschen, die Erinnerung an eine schmerzvolle Vergangenheit. Dies geschieht,
indem im neu gestalteten Istanbul monströse Prestige-Gebäude errichtet werden,
die den Sieg der Gewinner über ihre Kritiker und Gegner symbolisieren.
Das musst du genauer erklären...
Das Selbstverständnis breiter
Teile der Bevölkerung speist sich aus der Erfahrung des Ausschlusses: Insofern
Gläubige lange Zeit als rückschrittlich und reaktionär galten, waren sie nicht
Teil der Erzählung der türkischen Moderne und von ökonomischer Teilhabe
größtenteils ausgeschlossen. Die Architektur in einer site wie Başakşehir überdeckt nicht nur die Erinnerung an diese
Vergangenheit, sondern besiegelt die nun erreichte Zugehörigkeit. Zugleich
verkörpert sie, was die Leute anstreben – nicht, was sie tatsächlich schon
haben.
Der Sprung aus dem gecekondu in die site als Erfolgsstory einer
religiösen Moderne?
Gewissermaßen ja. Die Menschen in
Başakşehir sprechen aber nicht gern über ihre Vergangenheit.
Manche werden sogar ärgerlich, wenn es zum Beispiel um den Verkauf ihrer
früheren gecekondu-Wohnung geht, aus deren Erlös sie sich ein modernes apartman
gekauft haben. Sie wollen sich groß repräsentiert sehen. Dieses Bedürfnis nach
Anerkennung aufzugreifen, darin ist die AKP leider sehr erfolgreich.
Ayşe Çavdar
ist Journalistin und Redakteurin der Zeitschrift Express. Ihre Doktorarbeit
schreibt sie zu neo-islamistischen Gesellschaftsvisionen im Kontext
neoliberaler Urbanität am Beispiel der Gated Community von Başakşehir (Istanbul).