Mittwoch, 5. Dezember 2012

»Raus aus den Hütten – Paläste für euch!«


Ein Interview mit der Stadtforscherin Ayşe Çavdar

Von Anne Steckner
Neo-islamistische Gesellschaftsvisionen im Kontext neoliberaler Urbanität am Beispiel der Gated Community von Başakşehir/Istanbul: Wie hängen Kommunalpolitik, Bausektor und politischer Islam zusammen? Baut sich die AKP ihre Wählerbasis im wörtlichen Sinne? Wie verändert der Neoliberalismus urbane Religiosität? Und warum kann Islam nicht antikapitalistisch sein?

Der politische Islam in der Türkei hat sich seit den 1990er Jahren besonders auf kommunaler Ebene etabliert. Hierbei spielen die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI und private Investoren eine tragende Rolle. Wie hängen Baufirmen, Kommunen und politischer Islam miteinander zusammen?
Die von mir untersuchte Gated Community Başakşehir ist ein gutes Beispiel. Der Bebauungsplan kam ursprünglich von der Stadtverwaltung – es war Recep Tayyip Erdoğans erstes Großprojekt als regierender Bürgermeister von Istanbul – und der Zuschlag ging an die politisch nahestehende Baufirma KIPTAS sowie deren Subunternehmer. Die Kommune wollte ihrerseits sichergehen, dass auch genügend kaufkräftiges Interesse an den neuen Wohnungen in mittlerer und gehobener Preisklasse bestand. Also lud sie die lokalen Führer der religiösen Orden und Gemeinschaften ein, die wiederum ihre Mitglieder informierten. So haben sich auf der Grundlage bereits bestehender religiöser Netzwerke ganze Viertel gebildet. Das sind verlässliche Kunden und einschätzbare Nachbarn. Hier geht es um Vertrauen als ein Prinzip des Marktes, nicht der Religion. Aber Religion ist ein willkommener Verstärker für die Absicherung der Kundenbeziehungen.

Könnte man also sagen, die AKP baute sich im ganz wörtlichen Sinne die Basis ihrer Anhängerschaft?
Ja, das ist gut ausgedrückt. TOKI ist institutionell dem Ministerium von Premier Erdoğan unterstellt, so dass die AKP die Vergabepolitik sehr direkt steuern kann. Seit 2004 hat es einige Gesetzesänderungen gegeben, die der Behörde viel Macht verliehen haben: TOKI kann jetzt z.B. Bebauungspläne auch gegen die Politik der Kommunen durchsetzen, sie kann öffentliches Staatsland für sich beanspruchen und mit Banken strategische Partnerschaften für Kredite und Marketing eingehen. Weißt du, ein beachtlicher Teil der türkischen Ökonomie realisiert sich gegenwärtig über den Bausektor.
Woran liegt das?
Enorme Summen öffentlicher Mittel werden in Wohnkomplexe und Infrastruktur investiert. Der Bausektor hängt natürlich auch mit anderen Sparten zusammen: Die Leute müssen ihre Wohnungen einrichten, Möbel und Haushaltsgeräte kaufen, aber auch die Automobilindustrie profitiert: Viele der neuen Siedlungen sind am Stadtrand gelegen. Die Wohneinheit, das apartman, bedeutet für viele den Aufstieg vom alten gecekondu (informell errichtete Siedlungen) bzw. mahalle (Viertel mit persönlichen Nachbarschaftsbeziehungen) in ein ‚modernes’ Leben. Das alles basiert auf explodierenden Verschuldungsraten der privaten Haushalte bei den Banken. Wenn die Kredite nicht mehr bezahlt werden können und der Bau-Boom ins Stocken gerät, werden auch die Banken in große Schwierigkeiten geraten.
Klingt nicht gerade nach einer stabilen Grundlage…
Noch funktioniert es. Başakşehir war in Istanbul das erste Experiment mit Massenbebauung auf großen Freiflächen, das Labor für einen neuen Typus Urbanität. Das vor 6 Monaten verabschiedete »Katastrophen-Gesetz« (Afet Yasası) beispielsweise liefert die juristische Basis für diese Art der städtischen Bebauung. Es ermöglicht der Regierung, im Namen aller möglichen »Gefahren für die nationale Sicherheit« – offiziell als Schutz vor Erdbeben deklariert – Freiflächen zu enteignen, alte Gebäude abzureißen oder bestehende Bausubstanz in ihrem Sinne umzufunktionieren. Um Profite zu machen, müssen die Bauunternehmer in große Areale investieren. Für deren Kredite garantiert übrigens die Regierung, weil sie ja der Hauptauftraggeber ist. Das ist ein ertragreiches Akkumulationsmodell, von dem dank der AKP vermehrt auch muslimische Unternehmen profitieren. Das haben die Marktschreier der säkularen Medien nicht kapiert: Başakşehir ist nicht einfach nur ein islamistisches Ghetto, es repräsentiert eben auch den erfolgreichen Aufstieg einer frommen urbanen Mittel- und Oberschicht, deren Religiosität sich – von abergläubischen Elementen gereinigt – mit säkularen Elementen vermischt.
Du sagst, ›Urban Transformation‹ und die Veränderung von Religion müsse man in ihrem gesellschaftlichen Verhältnis zueinander betrachten. Wie meinst du das?
Religion schwebt ja nicht im luftleeren Raum, sie ist eingebettet in den Kontext einer konkreten Gesellschaftsordnung. Kapitalismus braucht Vertrauen, um zu funktionieren. Dieses Vertrauen kann der Staat liefern. Wenn der allerdings den Menschen oder den Unternehmen bestimmte Sicherheiten nicht bietet, kann Religion das teilweise kompensieren. In der Türkei wurde eine bestimmte Form urbaner Religiosität zum Zentrum neuer Vertrauensbeziehungen, z.B. in den hochgradig individualisierten Wohnkomplexen. Im Zuge des neoliberalen Umbaus der türkischen Gesellschaft haben sich auch die religiösen Lebensformen stärker der Marktlogik angepasst.
Was heißt das?
Das kann ich anhand von exemplarischen Eindrücken aus dem Alltag in Başakşehir veranschaulichen: Eine als Eheberaterin arbeitende Frau erklärt, die in islamistischen Kreisen geforderte Vielehe sei mit zeitgemäßen Marktmechanismen vergleichbar und bringe die Frauen dazu, im Wettbewerb mit den Nebenbuhlerinnen ihre Weiblichkeit zu entwickeln. – Zum Opferfest organisieren religiöse Orden und Gemeinschaften in Başakşehir über anonyme Geldspenden die Verteilung von geschächtetem Fleisch an bedürftige Familien. So muss niemand mehr direkt in Berührung mit den Armen kommen. Eine professionalisierte Institution übernimmt das, was früher den zwischenmenschlichen Kontakt an den Feiertagen ausgemacht hat. – Und noch ein anderes Beispiel: Die Schulklasse eines privaten kolej soll im Ethikunterricht eigenständig ein Theaterstück entwickeln. Raus kommt eine Performance, in dem die SchülerInnen sich über Mittellose lustig machen...
Zeigen diese Beispiele die marktförmige Landnahme des Alltagslebens, des Sprechens und der Denkweisen?
Mit den veränderten Lebensweisen hat sich jedenfalls die Symbolik verändert. Im klassischen gecekondu oder mahalle war Wohlhabenheit nicht so gern gesehen. Das öffentliche Zurschaustellen von Reichtum galt als ayıp, als unanständig. Heute indes musst du in einer site (Gated Community) wie Başakşehir etwas vorweisen können, um dazuzugehören. Wohlstand legitimiert sich über den Diskurs, die Pracht Allahs spiegele sich in den Muslimen. Wir sollen uns schön kleiden, damit die Anderen Gottes Schönheit sehen. Die Frommen haben sich zu selbstbewussten Konsumenten gemausert, ihr gelebter Islam ist der einer materiell aufgestiegenen Klasse.
Aber nicht alle Muslime gehören dazu...
Nein, Arme bleiben draußen oder dürfen maximal zum Putzen oder Reparieren kommen. Zwar gibt es auch am Rand von Başakşehir ärmere Wohnviertel, doch schafft die ethnische oder klassenmäßige Segregation deutliche Trennungen. Wer nach Başakşehir zieht, flieht vor Armut, Lärm und Kriminalität in der ‚gefährlichen Stadt’ in die saubere, ruhige und sichere site, in der kein Alkohol verkauft wird und die Ehefrau bedenkenlos ihr Kopftuch tragen kann. Ein kulturelles Ghetto. Wobei ich auch beobachtet habe, dass Mädchen und junge Frauen aus Başakşehir, wenn sie in der Vergnügungsmeile von Beyoğlu ausgehen, das Kopftuch abnehmen und es erst wieder zu Hause anlegen.
Du sprachst auch von ethnischen Spaltungen...
Ja, zum Selbstverständnis dieser neuen Mittelschichten gehört auch, sich von den ›kulturlosen und ungebildeten‹ (cahil) KurdInnen abzugrenzen. Doch im Grunde ist das nur eine Ethnisierung der Klassenfrage. Reiche religiöse KurdInnen sind nämlich kein Problem in der Nachbarschaft.
Das zeigt jedenfalls: Neo-Islamismus als Ideologie (Yeni İslâmcılık) und als politisches Projekt (Siyasi İslâm) ist kein homogener Block.
Ja, es gibt nicht den Islam. Er ist ein von gesellschaftlichen Konflikten durchzogenes Feld der Auseinandersetzung um die ›richtige‹ religiöse Lebensweise und den ‚wahren’ Islam. Diese Kämpfe sind gesellschaftlicher Natur, werden aber häufig moralisch aufgeladen und über innermuslimische Abgrenzungen gegenüber dem ›Pöbel‹, dem ›niederen Volk‹ (avam) ausgetragen.
Wer es zu nichts gebracht hat, ist auch kein guter Muslim? Aber es gibt doch auch islamisch geprägte Diskurse zu Gerechtigkeit und Demokratie...
Gerechtigkeit ist ein gutes Beispiel. Als der politische Islam in der Türkei eine oppositionelle Bewegung war, wurde den Herrschenden gegenüber ständig an die Gerechtigkeit appelliert. Jetzt, da eben diese Gruppen an die Macht gelangt sind, werden bestimmte Werte anders artikuliert. Nun geht es primär um Entwicklung, schon das Wort kalkınma im Namen der AKP legt dies nahe. Dies soll der Weg sein, um Gerechtigkeit zu schaffen. Wie andere Religionen auch ist der Islam offen für unterschiedliche Auslegungen. Es geht mir jetzt nicht darum, einen ›ursprünglich guten Islam‹ zu verklären, doch wird deutlich, dass unter der AKP religiöse Bezüge auf Gerechtigkeit im Schatten von kalkınma stehen. Macht hat eben ihre eigene Moral.
Letztlich doch eine Frage von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und Kämpfen um die Deutungshoheit, oder? Wie schätzt du vor diesem Hintergrund die jüngst von viel Medienecho begleitete Gruppe der »Antikapitalistischen Muslimischen Jugend« ein?
Hm, das ist noch eine sehr kleine Gruppe. Bleibt abzuwarten, was daraus wird. Das Problem ist, dass der Islam nicht antikapitalistisch sein kann. Zum Beispiel ist der Diskurs, Prophet Mohammed sei ein erfolgreicher Händler gewesen, eine weit verbreitete ideologische Legitimation von Warenbeziehungen und Privateigentum. Aber es lassen sich im Islam ein paar Anknüpfungspunkte finden, um dem Kapitalismus wenigstens die Krallen zu stutzen.
Wo lässt sich die Feile denn ansetzen?
Wie schon gesagt, hier spielen unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit hinein. Der Koran verpflichtet die Muslime zur ›gerechten‹ Behandlung des Arbeiters. Prophet Mohammed mahnte die Arbeitgeber, den ArbeiterInnen ihren Lohn auszuzahlen, noch bevor der Schweiß auf ihrer Stirn getrocknet ist. Die Arbeit gehöre nicht dem Unternehmer, sondern sei ein Geschenk Gottes. Allerdings haben weder die AKP noch irgendwelche anderen islamischen Parteien wirklich eine Ahnung von den konkreten Arbeitsverhältnissen in der Türkei. Unter den gläubigen Lohnabhängigen findet sich oft eine Haltung, die auf tevekkül gründet, was so viel heißt wie: Dem Schicksal ergeben sein und geduldig auf das Gute in der Zukunft hoffen, das sich im Namen des Islam verwirklichen wird. In der Beziehung zu Allah das irdische Unrecht ertragen. Das Problem ist: Zwischen dir und Gott steht der Arbeitgeber.
Da wird es dann zuweilen schwierig mit der Gerechtigkeit... Warum wählen die ArbeiterInnen dann trotzdem AKP?
Seitdem der politische Islam in den Kommunen und in der Regierung am Ruder ist, hat Erdoğan den Leuten nicht einfach das Blaue vom Himmel versprochen, sondern Wohnungen bauen und die städtische Infrastruktur verbessern lassen. »Ich hole euch aus euren Hütten, ihr sollt Paläste haben!« ist sein dazugehöriger Diskurs. Nüchtern gesagt: Die AKP hat geliefert, was sie versprochen hat, auch Teilen der Lohnabhängigen. Die Leute wissen, warum sie für diese Partei stimmen.
Ist denn jetzt alles schön, sauber und modern?
Başakşehir ist eine künstliche Ghetto-Modernität. Der urbane politische Islam muss sein eigenes Gedächtnis löschen, die Erinnerung an eine schmerzvolle Vergangenheit. Dies geschieht, indem im neu gestalteten Istanbul monströse Prestige-Gebäude errichtet werden, die den Sieg der Gewinner über ihre Kritiker und Gegner symbolisieren.
Das musst du genauer erklären...
Das Selbstverständnis breiter Teile der Bevölkerung speist sich aus der Erfahrung des Ausschlusses: Insofern Gläubige lange Zeit als rückschrittlich und reaktionär galten, waren sie nicht Teil der Erzählung der türkischen Moderne und von ökonomischer Teilhabe größtenteils ausgeschlossen. Die Architektur in einer site wie Başakşehir überdeckt nicht nur die Erinnerung an diese Vergangenheit, sondern besiegelt die nun erreichte Zugehörigkeit. Zugleich verkörpert sie, was die Leute anstreben – nicht, was sie tatsächlich schon haben.
Der Sprung aus dem gecekondu in die site als Erfolgsstory einer religiösen Moderne?
Gewissermaßen ja. Die Menschen in Başakşehir sprechen aber nicht gern über ihre Vergangenheit. Manche werden sogar ärgerlich, wenn es zum Beispiel um den Verkauf ihrer früheren gecekondu-Wohnung geht, aus deren Erlös sie sich ein modernes apartman gekauft haben. Sie wollen sich groß repräsentiert sehen. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung aufzugreifen, darin ist die AKP leider sehr erfolgreich.
Ayşe Çavdar ist Journalistin und Redakteurin der Zeitschrift Express. Ihre Doktorarbeit schreibt sie zu neo-islamistischen Gesellschaftsvisionen im Kontext neoliberaler Urbanität am Beispiel der Gated Community von Başakşehir (Istanbul).