Von Axel Gehring
Ali Ekber
Doğan nannte es einen "Wandel in der Raumimagination von Konya zu
Kayseri". Wie vollzieht sich der Prozess der Professionalisierung und
ökonomischen Durchrationalisierung auf kommunaler Ebene? Mit welchen nationalen
und internationalen Dynamiken ist er verschränkt?
Der Wallfahrtsort Konya
steht in der Türkei synonym für eine Stadt klassisch islamistischer Prägung,
deren politische Kultur orientalistische Klischees zu bestätigen scheint.
Kayseri indes wird insbesondere in der internationalen Öffentlichkeit als
Paradebeispiel »moderner islamisch konservativer« AKP-Politik wahrgenommen. Ökonomisch
leistungsfähig und räumlich durchrationalisiert bietet sie eine umfangreiche
kommunale Infrastruktur, die moderne Konsummuster ermöglicht. Nicht alle
türkischen Städte gehen den Weg von Kayseri, und auch nicht alle AKP-regierten
Städte können ihn gehen. Ein Wandel in der Raumimagination von Konya zu Kayseri
ist aber dennoch kennzeichnend für das neue hegemoniale Projekt der AKP, wie
Ali Ekber Doğan von der Mersin
Universität auf unserer Tagung betonte. Wie vollzog sich dieser Wandel? Was ist
das Typische an ihm? Dazu werden ausgewählte, aber zentrale Entwicklungen der
letzten zwei Dekaden nachgezeichnet.
Als die islamistische Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) in den
frühen neunziger Jahren in zahlreichen Klein- und Mittelstädten, aber auch
Großstädten wie Istanbul oder Ankara, die Stadtverwaltungen stellte und sogar
kurz auf nationaler Ebene eine Koalitionsregierung anführte, war der Neoliberalisierungsprozess
in der Türkei bereits weit fortgeschritten. Obgleich ihre Rhetorik
radikal und zuweilen antikapitalistisch klang, hatte sie weder die türkische
Klassengesellschaft noch das ab 1980 etablierte neoliberale Regime im Fokus
ihrer Kritik, wenn sie von der Gerechten Ordnung (Adil Düzen) sprach. Die ökonomische
Dimension von Adil Düzen bezog sich
auf den seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt zwischen landesweit operierenden
westtürkischen Großkonglomeraten einerseits und auf lokaler Basis wirtschaftenden
„anatolischen“ Unternehmen andererseits. In seiner kulturell symbolischen Dimension umfasste der Begriff den
Widerstreit islamisch-religiöser mit säkularen Ordnungsprinzipien. Die
ökonomische Dominanz der Konglomerate und die säkulare Ordnung des Staates
schienen aus dieser Sicht einen monolithischen Block zu bilden. Die
klassenübergreifende Mobilisierung
der von der Teilhabe „ausgeschlossenen“ Peripherie gegen einen solchen Block
bildete ein Ziel klassisch islamistischer Refah-Politik.
Für eine grundsätzliche Kritik der ökonomischen Ordnung, die ab 1980 durch
einen gewaltförmigen Neoliberalisierungsprozess etabliert worden war, fehlten
der der Milli Görüş nahestehenden Refah die Voraussetzungen, denn sie
organisierte eine Klassenallianz, die innerhalb
dieser Ordnung agierte. Und die führenden Fraktionen dieser Allianz, die auf
lokaler Basis wirtschaftenden Unternehmen, wollten vor allem ihre Stellung
darin verbessern.
Refah-geführte Stadtverwaltungen nahmen aktiv
am Neoliberalisierungsprozess teil, indem sie Dienstleistungen in bislang
kommunaler Trägerschaft privatisierten und damit Beschäftigungsverhältnisse
informalisierten. Dies schuf neue Geschäftsfelder für die ortsansässigen
Unternehmen, die zwar nicht im nationalen Maßstab mit den großen Konglomeraten
konkurrierten, aber so auf lokaler Ebene nach neuen Chancen innerhalb der
neoliberalen Ordnung suchten. Zugleich schwächten die Privatisierungen die
Organisationsmacht der kommunal Beschäftigten, die sich Anfang der neunziger
Jahre neuformiert und Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen erkämpft hatten,
was wiederum die öffentlichen Haushalte belastete und andere Gewerkschaften
inspirierte. Die pragmatische Gestaltung der Neoliberalisierung auf kommunaler
Ebene bildete, so Ali Ekber Doğan, eine wichtige Grundlage der guten
Beziehungen zwischen islamistischen Stadtverwaltungen und lokalen Unternehmen.
Gerade auch deshalb und nicht nur aufgrund zahlreicher Spenden von »einfachen«
Gläubigen konnte die Refah Partisi
rasch Mittel mobilisieren, wenn es galt, die sozialen Folgen des
Neoliberalisierungsprozesses mit Ad-hoc-Maßnahmen wie kostenlosen
Armenspeisungen und Brennstoffverteilungen unbürokratisch abzufedern. Eben
dieser Klientelismus der Refah wurde
von ihren KlientInnen als Ausdruck sozialer Empathie und gelebter Verantwortung
wahrgenommen. Ihr Begriff von Gerechtigkeit verfügte über eine Autonomie
gegenüber unmittelbar-egoistischen Klasseninteressen,
insofern er die heterogene Einheit der Klassenallianz nicht zuletzt durch einen
starken Rekurs auf sunnitisch-religiöse Ordnungsprinzipien herstellte. Er
spielte so eine wichtige Rolle (islamistischer) politischer Identität – nicht
zuletzt diese generierte eine ausgeprägte soziokulturelle Distanz gegenüber
PlanungsexpertInnen, die als Angehörige eines säkularen Establishments
wahrgenommen wurden. Gleichwohl sind die Ursachen für die Nicht-Realisierung
umfassender Stadtentwicklungsprojekte nicht allein in derartigen Ressentiments islamistischer
Stadtverwaltungen zu suchen. In den neunziger Jahren fehlten ihnen darüber
hinaus die monetären Ressourcen und die gesetzlichen Grundlagen. Einen weiteren
wichtigen Faktor bildete das Ende der Refah-geführten
Regierung nach dem Memorandum der Streitkräfte 1997.
2002 löste die
AKP als (mittelbare) Nachfolgerin der 1998 verbotenen Refah die seit 1999 regierende Koalition aus kemalistischer DSP,
konservativer ANAP und ultranationalistischer MHP ab. Diese Regierung war 2001
mit der schwersten Wirtschaftskrise seit 1980 konfrontiert worden. Gemeinsam
mit den internationalen Finanzinstitutionen legte sie der Bevölkerung ein
typisches Strukturanpassungsprogramm auf. Es beinhaltete nicht nur Einsparungen
im Haushalt, sondern band die türkische Wirtschaft stärker in globale Waren und
Finanzkreisläufe ein. Im Grunde stellte es eine neue Welle der
Neoliberalisierung dar. Obgleich als politische Alternative zur mit dem
Programm assoziierten Regierungskoalition gewählt, behielt die AKP die
Selbstverpflichtung gegenüber dem Strukturanpassungsprogramm bei.
Somit übernahm sie ab 2002 die Rolle der Organisatorin des Restrukturierungs- und
Internationalisierungsprozesses der türkischen Ökonomie. In der Tat hatte
diese neue Welle der Neoliberalisierung geholfen, den internationalen
Kreditzugang der türkischen Ökonomie zu stabilisieren und die öffentlichen
Haushalte zu konsolidieren. Eine bis dahin nicht gekannte Privatisierungswelle
hatte großen wie kleinen Kapitalgruppen neue, einträgliche Geschäftsfelder
erschlossen. Die AKP konnte nun sowohl auf die Unterstützung der großen
konglomeratsförmigen Kapitalgruppen als auch der kleineren Konkurrenten zählen.
Dies war auch für die
kommunalpolitische Ebene bedeutsam, auf der seit den 2000er Jahren die meisten
Stadtverwaltungen von der AKP gestellt werden und durch die AKP-Regierung eine
Rückendeckung erfuhren, wie sie für die Refah-geführten
Administrationen der neunziger Jahre undenkbar gewesen wäre. Während sie schon
zu Beginn ihrer Reformen den Kommunalverwaltungen mehr Kompetenzen gab und eine
Verwaltungsebene zwischen Stadt und Provinz einführte, hatten sich auch die
finanziellen Spielräume dieser Institutionen infolge des fortgesetzten
Neoliberalisierungsprozesses erheblich erweitert. AKP-geführte Verwaltungen
waren nun in die Lage, im großen Umfang Projekte zur Neuordnung des städtischen
Raumes zu initiieren und dabei sowohl in Kooperation mit der staatlichen
Wohnungsbaugesellschaft TOKİ
als auch mit privaten Unternehmen zu agieren. Ihre Politik der
Durchrationalisierung des städtischen Raumes nach Kriterien ökonomischer
Effizienz und die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Expansion in Gestalt
neuer Wohnformen anstelle von informell errichteten Siedlungen (Gecekondu) markieren den Eingangs
erwähnten Wandel der Raumimagination von Konya zu Kayseri. Dieser Wandel
vollzog sich analog zu einem Professionalisierungsprozess innerhalb des
politischen Islam, Vorbehalte gegenüber einer Zusammenarbeit mit etablierten
PlanerInnen erodierten. Die AKP bildete einerseits das Ergebnis eines solchen
Prozesses und setzte sich andererseits – wie die Herausbildung eigener administrativer
ExpertInnen zeigt – an dessen Spitze. Dies bildet einen wesentlichen Kern des
sozialen Aufstiegs ihrer AnhängerInnen hinein in neue Mittelschichten; denn die
Organisation des auf allen räumlichen Ebenen laufenden
Internationalisierungsprozesses der türkischen Ökonomie kreiert einen fortwährenden
Bedarf an Führungs- und Fachkräften – im privaten wie im öffentlichen Sektor.
Und das soziale Monopol auf deren Rekrutierung haben die traditionell-säkularen
Mittelschichten längst verloren, während religiöse Netzwerke und Sekten auf
diesem Gebiet eine immer stärkere Rolle spielen. So geht es Gruppen wie der
Gülen-Bewegung nicht primär um eine islamische Revolution oder eine (wie auch
immer geartete) »gerechte Ordnung«, sondern vielmehr darum, selbst an der
Reorganisation der türkischen Ökonomie teilzuhaben. Vergleichsweise weiche
personelle Überscheidungen zwischen dem Feld der Religion sowie dem der
beruflichen Profession und fachlichen Expertise bilden nicht nur auf lokaler
Ebene wichtige Handlungsressourcen. Dabei ist nicht mal den Beteiligten selbst
ganz klar, ob sie die VertreterInnen einer neutralen kapitalistischen
Rationalität, eines Klasseninteresses oder aber ihres jeweiligen (religiösen)
Netzwerkes sind. Unter anderem das markiert heute das Typische der Artikulation
von Kapitalismus und sunnitischem Islam unter der organisatorischen Ägide der
AKP.
Nicht alle Teile der
Gesellschaft und WählerInnen der AKP nahmen daran in gleicher Weise teil. Es
gibt Gruppen, die unter dem von der AKP forcierten Neoliberalisierungsprozesses
sozial aufsteigen konnten und aktive Subjekte der gesellschaftlichen
Rationalisierung, Professionalisierung und forcierten Kommodifizierung wurden.
Ihnen stehen Menschen gegenüber, die ihre gesellschaftliche Stellung als
TagelöhnerInnen oder städtisches Proletariat beibehalten haben oder gerade erst
jüngst durch Migration in die Städte proletarisiert wurden. Obwohl sich die AKP
nach wie vor als Vertreterin einer klassenübergreifenden Allianz versteht und
insbesondere Kommunalverwaltungen und lokale Gliederungen der Partei weiterhin
versuchen, die sozialen Folgen der Neoliberalisierung durch religiös
konnotierte Ad-hoc-Maßnahmen abzumildern, treiben sie mit ihrer Kommunalpolitik
die städtische Segregation voran. Sie entsprechen damit dem Wunsch der neuen
Mittelschichten nach räumlicher Trennung von denen, die keinen vergleichbaren
sozialen Aufstieg geschafft haben, aber ihnen in ihrer Herkunft doch ähnlich
sind. Selbst öffentliche Wohnungsbaugesellschaften wie TOKI errichten nicht nur
bezahlbare Sozialwohnungen, sondern sind an der Erstellung oft umzäunter
Wohnkomplexe für die neuen Mittelschichten beteiligt. Obwohl sich zahlreiche
Angehörige der neuen Mittelschichten nach wie vor als religiös definieren,
möchten sie sich von Formen einer vermeintlich ungebildeten Unterschichten-Religiosität
abgrenzen. Zugleich ist dieses Bestreben nicht ausschließlich von Klassismus
getrieben, sondern richtet sich ebenso gegen als »unmoralisch« wahrgenommene
säkulare Mittelschichtsangehörige. Diese Praxis der doppelten Abgrenzung bringt
u. a. Trabantenstädte hervor, die ein Leben nach islamisch-religiösen Geboten »ermöglichen«
sollen. Der politische Islam hat damit das Gecekondu
verlassen und findet neue Refugien – auch und gerade dort, wo auf »höherem
Niveau« gewohnt oder konsumiert wird. Auch diese Dynamik begünstigt eine
Islamisierung bislang als säkular erlebter Stadtviertel. Selbst auf der Istanbuler
İstiklal Caddesi (der berühmten
Ausgehmeile in Beyoğlu) und am Taksim
Platz wird diese Tendenz sichtbar, jedoch in Form einer Islamisierung für
Mittelklassen – nicht aber für alle (sunnitischen) Muslime. Diese Entwicklung
begann nicht erst mit der AKP, wird aber konsequent vorangetrieben. So entstehen neue Formen der Distanz
zwischen den BewohnerInnen der Gecekondu und der neuen Mittelschicht innerhalb
der AKP-Wahlbasis. Davon bleiben weder die Partei, noch AKP-geführte
Stadtverwaltungen unberührt. Das trägt nicht zur Säkularisierung der
AKP-Politik bei, sondern treibt den Bezug auf die gemeinsame Identität an, die
soziale Differenzen überbrücken soll: Trotz offenkundiger Differenzen zwischen
»Mittelschichten-« und »Unterschichten-Islam« bleibt der Rekurs auf die
gemeinsame Religion identitätspolitisch bedeutsam. Dies gilt zumindest für die
Wahlbasis der AKP – beziehungsweise für die Praxis der Partei gegenüber ihrer
Basis.