Donnerstag, 18. April 2013

In 10 Fragen – Die Verhandlungen über die kurdische Frage und der Nahe Osten

Von Ercan Geçgin
Der neuerliche Verhandlungsprozess zwischen der türkischen Regierung und der PKK ist vor dem Hintergrund des Kriegs in Syrien zu interpretieren. Expansionsinteressen des türkischen Kapitals und die relative Eigendynamik des neo-osmanischen Regionalmachtstrebens der AKP bilden einen Aspekt einer vielseitigen politischen Gleichung. Wie ist die kurdische Bewegung aufgestellt und was hat sie dem neo-osmanischen Expansionsstreben entgegenzusetzen?
Mit der Aufnahme von Verhandlungen zwischen der AKP-Regierung (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und dem inhaftierten Vorsitzenden der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), Abdullah Öcalan, hat ein neuer Abschnitt in der kurdischen Frage begonnen. Diese enthält Dimensionen, die über die Frage der Anerkennung der kurdischen Identität und kollektiver Rechte hinausgehen. Offenkundig gewinnen parallel zum Versuch der AKP, im Nahen und Mittleren Osten hegemonial zu werden, die kurdische Frage und die kurdische Bewegung eine regionale und internationale Bedeutung. Da hierbei mehrere Gleichungen ineinander verwoben sind, ist es notwendig, die kurdische Frage und die Akteure des Prozesses im Rahmen der komplexen regionalen und globalen Dynamiken zu beleuchten. Anhand von 10 zusammenhängenden Fragen werden im Folgenden einige Problematiken thematisiert:
1.       Warum wurden die Verhandlungen jetzt aufgenommen und nicht zu einem anderen Zeitpunkt?
Es gibt viele Gründe dafür. Im Vordergrund stehen das Bestreben der Türkei, die syrische Regierung möglichst schnell zu stürzen, sowie die damit verbundenen Entwicklungen im Nahen Osten. Die türkischen Medien sind einhellig der Meinung, dass die AKP ihre Energie nicht auf die Bekämpfung der PKK, sondern auf Syrien zu konzentrieren beabsichtigt. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Außerdem muss die AKP, die Syrien eine Lehre in Demokratie und Friedenspolitik erteilen will, die inneren Konflikte – wenn auch nur vorübergehend – beilegen oder zumindest so tun als ob, um ihrer Politik die notwendige Glaubwürdigkeit zu verleihen.
2.       Was ist der politisch-ökonomische Hintergrund der Entwicklungen?
Der gesamte Verhandlungsprozess steht im Zusammenhang mit einer neuen Phase der Kapitalakkumulation in der Türkei und im Nahen Osten. Vom Standpunkt der Türkei aus betrachtet gilt es, zwei Aspekte der Kapitalakkumulation in Anatolien hervorzuheben. Erstens: Die zunehmend in die ehemaligen inneren Peripherien verlagerte Produktion schöpft aus den Massen der verarmten Kurden und Kurdinnen billige Arbeitskräfte. Zweitens sind da die Bestrebungen des türkischen Kapitals, neue Märkte im Nahen Osten und Afrika zu erschließen. Der Irak bzw. die Autonomiebehörde Kurdistan nimmt in der Liste der Exportländer der Türkei inzwischen den zweiten Platz ein. Sowohl die Suche nach neuen Produktionsstandorten mit billigen und wenig organisierten Arbeitskräften als auch das Expansionsinteresse des Kapitals über die Grenzen der Türkei hinaus umfassen Gebiete, auf denen die kurdische Bewegung zwar politisch präsent und stark ist, allerdings kein alternatives ökonomisches Programm aufweist. Die Frage der Anerkennung oder der kollektiven Rechte steht somit von vornherein unter der Einschränkung, ökonomische Aspekte auszuklammern. Die Initiative auf diesem Gebiet wird den Unternehmerverbänden überlassen.
3.       Wie ist die Wirkung der imperialistischen Politiken im Nahen und Mittleren Osten auf den Dialogprozess zu bewerten?
Es besteht kein Zweifel, dass die USA in den mit Öcalan begonnenen Dialog und den folgenden Verhandlungsprozess involviert sind oder sein werden. Die Kontrolle über die Erdölfelder in der Region sowie deren Vertrieb und der Transport in den Westen sind ein Projekt der imperialistischen Staaten, allen voran der USA. Ebenfalls von Bedeutung sind der Konkurrenzkampf zwischen der Türkei und dem Iran um die regionale Vormachtstellung sowie die aktive Rolle Russlands in diesem Kampf. Für die imperialistischen Kräfte ist die kurdische Frage regional und global derart bedeutsam geworden, dass sie sie den Kurden und Kurdinnen alleine nicht überlassen werden. Weil die Haltung und die Rolle kurdischer Akteure in Bezug auf Syrien, den Iran und den Irak in engem Zusammenhang mit den Absichten der Imperialisten in der Region stehen, ist dieser Prozess komplex und verwebt viele Variablen miteinander (siehe Artikel von Murat Cakir in diesem Infobrief).
4.       Wie groß ist die Wirkungskraft der regionalimperialistischen AKP-Politik (Neo-Osmanismus) auf die kurdische Bewegung?
Eines der Grundattribute eines Landes, dessen politische Entwicklung und Kapitalakkumulation in eine imperialistische Phase übergehen, ist der Export der inneren Widersprüche ins Ausland und der Aufbau einer diesem imperialistischen Bestreben entsprechenden Einheit im Innern – manchmal im Namen der Demokratie, manchmal im Namen der Moderne oder der Gleichheit. Der Umfang des Regionalimperialismus der AKP, der räumlich-sozial-ideologische Wirkungskreis ihres Bestrebens, eine »Regionalmacht zu werden«, legt sie auf den Neo-Osmanismus fest. Sie verwirklicht dies durch eine integrierte Bewegung, welche politische Visionen, die räumliche Ausdehnung des Kapitals und kulturellen Imperialismus (Verbreitung über Medien, Lebensweise etc.) miteinander verbindet.
Die kurdische Bewegung in der Türkei und die PKK im Besonderen stehen vor der Frage, wie sie sich zu diesem politisch, kulturell und ökonomisch entwickelten Expansionsstreben verhalten sollen. Werden sie ihr Bestreben nach politischer Autonomie, für die es keinen Platz im regionalimperialistischen Modell gibt, aufgeben, oder sich dieser Entwicklung entgegenstellen, was in einer weiteren Eskalation münden würde? Letzteres bringt sie in Konflikt mit der kurdischen Autonomiebehörde im Irak, die von der kurdischen Bewegung die Beilegung des Konflikts mit der türkischen Regierung fordert, und selbst vor der Frage der Ablösung vom Irak steht, um sich möglicherweise stärker an die Türkei anzuschließen. Gegebenenfalls könnte ein Krieg mit der irakischen Zentralregierung wiederum zu einer Annäherung zwischen der PKK und der kurdischen Autonomiebehörde führen.
Andererseits wird durch das neo-osmanische Modell, das ideologisch auf der Grundlage des sunnitischen Islam vereint werden soll, die alevitische Frage virulent. Wie werden sich die alevitischen Kurden und Kurdinnen verhalten, die fester Bestandteil der kurdischen Bewegung und der PKK sind?
5.       Lässt sich bei Betrachtung des gesamten Verhandlungsprozesses, inklusive der Gespräche mit Öcalan, erkennen, dass die AKP die kurdische Frage tatsächlich zu lösen versucht?
Alle bisherigen Regierungen haben so getan, als ob sie diese Frage lösen wollten. Auch die AKP hat insbesondere im Vorfeld von Wahlen bewiesen, dass sie diese Kunst beherrscht. Das Bestreben der AKP, die Gespräche mit Öcalan nicht zu verheimlichen, sondern alles zu tun, um diese Gespräche in die Öffentlichkeit zu tragen, hat mehrere Bedeutungen. Die AKP zeigt hierdurch, dass sie die Fäden in der Hand hält und die staatlichen Apparate beherrscht. Heute wegen verschiedenen Beschuldigungen inhaftierte nationalistische Offiziere führten früher auch Gespräche mit Öcalan, die jedoch nicht erfolgreich verliefen, weil der zur Lösung dieser Frage notwendige einheitliche politische Willen nicht vorhanden war. Die AKP, die mittlerweile sozial, wirtschaftlich und auf allen politischen Ebenen eine hegemoniale Kraft ist, verfügt nun über dieses Potential. Allerdings ist ihr Bestreben nicht das Ergebnis einer Suche nach Lösungsansätzen für die kurdische Frage auf Grundlage der Gewährung von kollektiven Rechten, sondern basiert auf dem Expansionsinteresse im Nahen Osten. Folglich ist bereits ein dauerhafter Waffenstillstand, selbst wenn die kurdische Frage in der Zwischenzeit ungelöst bleibt, diesem Ziel der AKP zuträglich. Die im Jahr 2014 anstehenden Kommunalwahlen und erstmalig Präsidentschaftswahlen bestärken das Interesse der AKP an einem Waffenstillstand. Die Frage wird sein, welches Entgegenkommen die AKP angesichts dieses vermutlich für einen längeren Zeitraum geplanten Waffenstillstands im Gegenzug zeigen wird und ob sie mit der bisherigen Hinhaltetaktik durchkommen wird.
6.       Kann es mit der öffentlichen Anerkennung Öcalans als direktem Verhandlungspartner gelingen, die PKK zu passivieren?
In der tradierten Weltanschauung der kurdischen Bevölkerung weist der Anführer- und Heldenkult gesellschaftliche Fundamente auf – die wichtigsten sind die traditionellen Führungsinstitutionen der Clanchefs und der religiösen Oberhäupter. Mit seinen vielfältigen Bezügen auf historische kurdische Persönlichkeiten situiert sich der heutige kurdische Nationalismus innerhalb einer imaginierten nationalen Kontinuität, die reale Vorläufer hat. Öcalan erscheint als der letzte Vertreter in der Linie gesellschaftlicher und politischer Heldenfiguren. Zugleich symbolisiert er die politische Union der Kurden und Kurdinnen. Das ist einerseits ein Ergebnis seiner Durchsetzungskraft im Führungsstreit innerhalb der PKK, andererseits kommt seine Stellung dem Bedürfnis großen Teilen der kurdischen Bevölkerung nach einer historischen und mystischen Führung nach. Die Übertragung der politischen Repräsentation der kurdischen Bevölkerung auf Öcalan hat daher ihre Entsprechung in diesem tradierten Anführerkult, durch den die kurdische Bevölkerung sich mit dem Willen einer einzigen Person identifiziert. Dass Öcalan trotz 14-jähriger Haft weiterhin diese Funktion inne hat, ist für den Staat bzw. für die AKP von besonderem Wert. Auf der einen Seite begreift die kurdische Bevölkerung den Kampf um die Freilassung Öcalans als Teil der eigenen Befreiung. Auf der anderen Seite wird die AKP mit dem Trumpf der selbstbestimmten Delegation der ‚kurdischen‘ Interessen an Öcalan in ihrer Hand versuchen, den Verhandlungsprozess unter ihrer Kontrolle zu führen. Schließlich bestimmt sie allein über den Kontakt Öcalans zur Außenwelt. Ob sich die PKK auf Dauer diesem Umstand fügen wird, wird sich zeigen.
7.       Wie wirkt sich die Kraft kurdischer Akteure aktive politische Subjekte im Nahen Osten zu sein, auf die Verhandlungen aus?
Die AKP, die außer mit der kurdischen Autonomiebehörde unter der Führung von Masud Barzani mit allen anderen Nachbarstaaten Konflikte hat, hat sich der Überzeugung angenähert, die kurdische Frage über Abdullah Öcalan lösen zu wollen. Trotz tatkräftiger Unterstützung diverser aufständischer bewaffneter Gruppen durch die Türkei ist es immer noch nicht gelungen, die syrische Regierung zu stürzen. Gleichzeitig hat die der PKK nahestehende kurdische PYD (Partei der demokratischen Union) die von der Türkei aus operierende islamistische Nusra Front besiegt und in den kurdischen Gebieten Syriens ihre Vorherrschaft etabliert. Diese Entwicklungen können als ein weiterer konkreter Grund für die Aufnahme von Gespräche mit Öcalan angesehen werden.
Desweiteren spricht vieles dafür, dass sowohl die Sicherheitspolitik und die Erdölpolitiken der USA und Israels als auch die Suche Zyperns und Griechenlands nach Erdgas im östlichen Mittelmeer die AKP zur Aufnahme von Gesprächen mit Öcalan und zur Suche nach Lösungen drängten, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. In dieser Situation, in der mehrere Gleichungen in einander verwoben sind, die die Grenzen der Türkei sprengen, wird die Position der kurdischen Bewegung durch die Errungenschaften in Syrien objektiv gestärkt. Es entstehen neue Optionen für sie.
8.       Welche sichtbaren Folgen könnten die Morde von Paris haben? Kann daraus eine Annäherung zwischen alevitischer und kurdischer Identität erwachsen?
Spekulationen darüber, von wem und warum die kurdischen revolutionären Frauen in Paris ermordet wurden, reißen nicht ab. Verschwörungstheorien, wie ein angeblicher Sabotageversuch der Gespräche mit Öcalan, angebliche Verhinderungsversuche einer iranisch-syrisch-irakischen Front, des tiefen Staats / der tiefen PKK / des grünen (also islamistischen) Ergenekons oder einer Kollaboration unterschiedlicher Akteure, sind nur einige davon. Der Umstand, dass zwei der ermordeten drei Frauen kurdische Alevitinnen waren, hat mehr als nur symbolische Bedeutung. Dies wurde in den Gedenkfeiern in Paris und verschiedenen Städten in der Türkei sichtbar. Die unter massenhafter Beteiligung durchgeführten Gedenkfeiern waren vom Wunsch nach Frieden geprägt. Das wichtigste vorläufige Ergebnis scheint zu sein, dass einerseits eine weitere Annäherung zwischen alevitischer und kurdischer Identität stattgefunden hat, während gleichzeitig das Vertrauen in den Verhandlungsprozess zwischen Öcalan und der türkischen Regierung gestärkt wurde.
9.       Welche Rolle spielt der Cliquenkampf zwischen der Gülen-Gemeinde und der AKP in diesem Prozess?
Des Öfteren wird darauf hingewiesen, dass es aus unterschiedlichen Gründen zwischen der AKP und der Gülen-Gemeinde Spannungen gäbe. Doch die sogenannte »Win-Win-Politik« der AKP ist nicht nur für die kurdische Bewegung Grund für einen vorläufigen Friedensschluss. Sie legt auch der Gülen-Gemeinde die Einhaltung eines Burgfriedens nahe. Während die AKP im Nahen Osten sowohl ideologisch (als sunnitische Hegemonie) als auch über den marktförmigen politischen Islam attraktiver ist als die Gülen-Bewegung, hat letztere innerhalb der kurdischen Bevölkerung einen größeren Einfluss erringen können. Insbesondere mit ihren Investitionen im irakischen Kurdistan, ihren Schulen, kurdischen Fernseh- und Rundfunksendern kann die Bewegung das, was die AKP mit staatlichen Mitteln schafft, über ein integrales Netzwerk auf zivilgesellschaftlicher Ebene wirkungsvoller bewerkstelligen. Aus diesem Grund ist die Reichweite der Gülen-Gemeinde größer als die der AKP. Die kurdische Bewegung wird insbesondere in den urbanen Gebieten ihren Kampf um gesellschaftliche Mehrheiten weniger mit der AKP als mit der Gülen-Gemeinde führen.
10.   Wie sollte die Position der politischen Opposition in der Türkei bewertet werden?
Offenbar hat die AKP die Reaktion der nationalistischen Kreise auf die Aufnahme von Verhandlungen mit Öcalan mit einberechnet, weshalb sie vor Bekanntwerden der Gespräche mit Nachdruck die Aufhebung der Immunität von kurdischen Abgeordneten und die Wiedereinführung der Todesstrafe (für Öcalan) auf die Tagesordnung setzte. Die türkisch-islamischen Befindlichkeiten sollen einerseits mit solchen maximalen aber offensichtlich leeren Phrasen bedient werden, andererseits rechnet die AKP damit, die türkisch-nationalistische Basis mit der Aussicht auf Beendigung des Blutvergießens und einen höheren wirtschaftlichen Wohlstand zufrieden stellen zu können.
Auf der einen Seite schließen sich diejenigen Bevölkerungsteile, die auf den Verhandlungsprozess radikal ablehnend reagieren, dem türkistischen Nationalismus (der Nationalistischen Bewegungspartei MHP und einer bestimmten Fraktion innerhalb der Republikanischen Volkspartei CHP) an. Auf der anderen Seite befinden sich jene linken Kräfte, die den Prozess zwar grundsätzlich begrüßen, aber nach seinen Aussichten für die ausgebeuteten Massen befragen, also den Klassencharakter der verhandelten Lösung für die ‚nationale Frage‘ hervorheben. Von den linken Kräften wird erwartet, dass sie sich der kurdischen Bewegung und ihrer Lösungsperspektive anschließen oder sich raushalten.
Während des gesamten Verhandlungsprozesses wird immer wieder zu hören sein, welch großes Potential an wirtschaftlichem Wohlstand in ihm steckt, welch unwiderstehliches Selbstbewusstsein als Regionalmacht aus ihm zu schöpfen ist und wie das auf Eroberung ausgerichtete ökonomische Bestreben eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten schaffen wird. Demgegenüber wird die Situation der Millionen Werktätigen, die mit dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit umgerechnet 328 Euro auskommen müssen, sowie der kurdischen Wanderarbeiter*innen, die in verschiedenen Regionen des Landes unter miserablen Bedingungen ein Auskommen suchen müssen, kaum thematisiert werden. Solange die linke Bewegung in diesem Verhandlungsprozess keine eigenständige Position entwickelt, steht nicht zu erwarten, dass die Ausbeutung der Werktätigen als ein übergreifendes Problem aller Werktätigen mit der spezifischen Problematik der kurdischen Frage zusammengebracht wird.

Ercan Geçgin ist Mitarbeiter des Fachbereichs Soziologie an der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geografie der Universität Ankara.