Mit der Aufnahme von
Verhandlungen zwischen der AKP-Regierung (Partei für Gerechtigkeit und
Entwicklung) und dem inhaftierten Vorsitzenden der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans),
Abdullah Öcalan, hat ein neuer Abschnitt in der kurdischen Frage begonnen.
Diese enthält Dimensionen, die über die Frage der Anerkennung der kurdischen
Identität und kollektiver Rechte hinausgehen. Offenkundig gewinnen parallel zum
Versuch der AKP, im Nahen und Mittleren Osten hegemonial zu werden, die
kurdische Frage und die kurdische Bewegung eine regionale und internationale
Bedeutung. Da hierbei mehrere Gleichungen ineinander verwoben sind, ist es
notwendig, die kurdische Frage und die Akteure des Prozesses im Rahmen der
komplexen regionalen und globalen Dynamiken zu beleuchten. Anhand von 10
zusammenhängenden Fragen werden im Folgenden einige Problematiken thematisiert:
1.
Warum
wurden die Verhandlungen jetzt aufgenommen und nicht zu einem anderen
Zeitpunkt?
Es gibt viele Gründe dafür.
Im Vordergrund stehen das Bestreben der Türkei, die syrische Regierung möglichst
schnell zu stürzen, sowie die damit verbundenen Entwicklungen im Nahen Osten.
Die türkischen Medien sind einhellig der Meinung, dass die AKP ihre Energie
nicht auf die Bekämpfung der PKK, sondern auf Syrien zu konzentrieren
beabsichtigt. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Außerdem muss die AKP, die
Syrien eine Lehre in Demokratie und Friedenspolitik erteilen will, die inneren
Konflikte – wenn auch nur vorübergehend – beilegen oder zumindest so tun als
ob, um ihrer Politik die notwendige Glaubwürdigkeit zu verleihen.
2.
Was
ist der politisch-ökonomische Hintergrund der Entwicklungen?
Der gesamte
Verhandlungsprozess steht im Zusammenhang mit einer neuen Phase der
Kapitalakkumulation in der Türkei und im Nahen Osten. Vom Standpunkt der Türkei
aus betrachtet gilt es, zwei Aspekte der Kapitalakkumulation in Anatolien
hervorzuheben. Erstens: Die zunehmend in die ehemaligen inneren Peripherien verlagerte
Produktion schöpft aus den Massen der verarmten Kurden und Kurdinnen billige
Arbeitskräfte. Zweitens sind da die Bestrebungen des türkischen Kapitals, neue
Märkte im Nahen Osten und Afrika zu erschließen. Der Irak bzw. die
Autonomiebehörde Kurdistan nimmt in der Liste der Exportländer der Türkei
inzwischen den zweiten Platz ein. Sowohl die Suche nach neuen
Produktionsstandorten mit billigen und wenig organisierten Arbeitskräften als
auch das Expansionsinteresse des Kapitals über die Grenzen der Türkei hinaus
umfassen Gebiete, auf denen die kurdische Bewegung zwar politisch präsent und
stark ist, allerdings kein alternatives ökonomisches Programm aufweist. Die
Frage der Anerkennung oder der kollektiven Rechte steht somit von vornherein
unter der Einschränkung, ökonomische Aspekte auszuklammern. Die Initiative auf
diesem Gebiet wird den Unternehmerverbänden überlassen.
3.
Wie
ist die Wirkung der imperialistischen Politiken im Nahen und Mittleren Osten
auf den Dialogprozess zu bewerten?
Es besteht kein Zweifel, dass
die USA in den mit Öcalan begonnenen Dialog und den folgenden
Verhandlungsprozess involviert sind oder sein werden. Die Kontrolle über die
Erdölfelder in der Region sowie deren Vertrieb und der Transport in den Westen
sind ein Projekt der imperialistischen Staaten, allen voran der USA. Ebenfalls
von Bedeutung sind der Konkurrenzkampf zwischen der Türkei und dem Iran um die
regionale Vormachtstellung sowie die aktive Rolle Russlands in diesem Kampf.
Für die imperialistischen Kräfte ist die kurdische Frage regional und global
derart bedeutsam geworden, dass sie sie den Kurden und Kurdinnen alleine nicht
überlassen werden. Weil die Haltung und die Rolle kurdischer Akteure in Bezug
auf Syrien, den Iran und den Irak in engem Zusammenhang mit den Absichten der
Imperialisten in der Region stehen, ist dieser Prozess komplex und verwebt viele
Variablen miteinander (siehe Artikel von Murat Cakir in diesem Infobrief).
4.
Wie
groß ist die Wirkungskraft der regionalimperialistischen AKP-Politik
(Neo-Osmanismus) auf die kurdische Bewegung?
Eines der Grundattribute
eines Landes, dessen politische Entwicklung und Kapitalakkumulation in eine
imperialistische Phase übergehen, ist der Export der inneren Widersprüche ins
Ausland und der Aufbau einer diesem imperialistischen Bestreben entsprechenden
Einheit im Innern – manchmal im Namen der Demokratie, manchmal im Namen der
Moderne oder der Gleichheit. Der Umfang des Regionalimperialismus der AKP, der
räumlich-sozial-ideologische Wirkungskreis ihres Bestrebens, eine »Regionalmacht
zu werden«, legt sie auf den Neo-Osmanismus fest. Sie verwirklicht dies durch
eine integrierte Bewegung, welche politische Visionen, die räumliche Ausdehnung
des Kapitals und kulturellen Imperialismus (Verbreitung über Medien,
Lebensweise etc.) miteinander verbindet.
Die kurdische Bewegung in der
Türkei und die PKK im Besonderen stehen vor der Frage, wie sie sich zu diesem
politisch, kulturell und ökonomisch entwickelten Expansionsstreben verhalten
sollen. Werden sie ihr Bestreben nach politischer Autonomie, für die es keinen
Platz im regionalimperialistischen Modell gibt, aufgeben, oder sich dieser
Entwicklung entgegenstellen, was in einer weiteren Eskalation münden würde?
Letzteres bringt sie in Konflikt mit der kurdischen Autonomiebehörde im Irak,
die von der kurdischen Bewegung die Beilegung des Konflikts mit der türkischen
Regierung fordert, und selbst vor der Frage der Ablösung vom Irak steht, um
sich möglicherweise stärker an die Türkei anzuschließen. Gegebenenfalls könnte
ein Krieg mit der irakischen Zentralregierung wiederum zu einer Annäherung
zwischen der PKK und der kurdischen Autonomiebehörde führen.
Andererseits wird durch das
neo-osmanische Modell, das ideologisch auf der Grundlage des sunnitischen Islam
vereint werden soll, die alevitische Frage virulent. Wie werden sich die
alevitischen Kurden und Kurdinnen verhalten, die fester Bestandteil der
kurdischen Bewegung und der PKK sind?
5.
Lässt
sich bei Betrachtung des gesamten Verhandlungsprozesses, inklusive der
Gespräche mit Öcalan, erkennen, dass die AKP die kurdische Frage tatsächlich zu
lösen versucht?
Alle bisherigen Regierungen
haben so getan, als ob sie diese Frage lösen wollten. Auch die AKP hat
insbesondere im Vorfeld von Wahlen bewiesen, dass sie diese Kunst beherrscht.
Das Bestreben der AKP, die Gespräche mit Öcalan nicht zu verheimlichen, sondern
alles zu tun, um diese Gespräche in die Öffentlichkeit zu tragen, hat mehrere
Bedeutungen. Die AKP zeigt hierdurch, dass sie die Fäden in der Hand hält und
die staatlichen Apparate beherrscht. Heute wegen verschiedenen Beschuldigungen
inhaftierte nationalistische Offiziere führten früher auch Gespräche mit
Öcalan, die jedoch nicht erfolgreich verliefen, weil der zur Lösung dieser
Frage notwendige einheitliche politische Willen nicht vorhanden war. Die AKP,
die mittlerweile sozial, wirtschaftlich und auf allen politischen Ebenen eine
hegemoniale Kraft ist, verfügt nun über dieses Potential. Allerdings ist ihr
Bestreben nicht das Ergebnis einer Suche nach Lösungsansätzen für die kurdische
Frage auf Grundlage der Gewährung von kollektiven Rechten, sondern basiert auf
dem Expansionsinteresse im Nahen Osten. Folglich ist bereits ein dauerhafter
Waffenstillstand, selbst wenn die kurdische Frage in der Zwischenzeit ungelöst
bleibt, diesem Ziel der AKP zuträglich. Die im Jahr 2014 anstehenden
Kommunalwahlen und erstmalig Präsidentschaftswahlen bestärken das Interesse der
AKP an einem Waffenstillstand. Die Frage wird sein, welches Entgegenkommen die
AKP angesichts dieses vermutlich für einen längeren Zeitraum geplanten
Waffenstillstands im Gegenzug zeigen wird und ob sie mit der bisherigen
Hinhaltetaktik durchkommen wird.
6.
Kann
es mit der öffentlichen Anerkennung Öcalans als direktem Verhandlungspartner
gelingen, die PKK zu passivieren?
In der tradierten
Weltanschauung der kurdischen Bevölkerung weist der Anführer- und Heldenkult
gesellschaftliche Fundamente auf – die wichtigsten sind die traditionellen
Führungsinstitutionen der Clanchefs und der religiösen Oberhäupter. Mit seinen
vielfältigen Bezügen auf historische kurdische Persönlichkeiten situiert sich
der heutige kurdische Nationalismus innerhalb einer imaginierten nationalen
Kontinuität, die reale Vorläufer hat. Öcalan erscheint als der letzte Vertreter
in der Linie gesellschaftlicher und politischer Heldenfiguren. Zugleich
symbolisiert er die politische Union der Kurden und Kurdinnen. Das ist
einerseits ein Ergebnis seiner Durchsetzungskraft im Führungsstreit innerhalb
der PKK, andererseits kommt seine Stellung dem Bedürfnis großen Teilen der
kurdischen Bevölkerung nach einer historischen und mystischen Führung nach. Die
Übertragung der politischen Repräsentation der kurdischen Bevölkerung auf
Öcalan hat daher ihre Entsprechung in diesem tradierten Anführerkult, durch den
die kurdische Bevölkerung sich mit dem Willen einer einzigen Person
identifiziert. Dass Öcalan trotz 14-jähriger Haft weiterhin diese Funktion inne
hat, ist für den Staat bzw. für die AKP von besonderem Wert. Auf der einen
Seite begreift die kurdische Bevölkerung den Kampf um die Freilassung Öcalans
als Teil der eigenen Befreiung. Auf der anderen Seite wird die AKP mit dem
Trumpf der selbstbestimmten Delegation der ‚kurdischen‘ Interessen an Öcalan in
ihrer Hand versuchen, den Verhandlungsprozess unter ihrer Kontrolle zu führen.
Schließlich bestimmt sie allein über den Kontakt Öcalans zur Außenwelt. Ob sich
die PKK auf Dauer diesem Umstand fügen wird, wird sich zeigen.
7.
Wie
wirkt sich die Kraft kurdischer Akteure aktive politische Subjekte im Nahen
Osten zu sein, auf die Verhandlungen aus?
Die AKP, die außer mit der
kurdischen Autonomiebehörde unter der Führung von Masud Barzani mit allen
anderen Nachbarstaaten Konflikte hat, hat sich der Überzeugung angenähert, die
kurdische Frage über Abdullah Öcalan lösen zu wollen. Trotz tatkräftiger
Unterstützung diverser aufständischer bewaffneter Gruppen durch die Türkei ist
es immer noch nicht gelungen, die syrische Regierung zu stürzen. Gleichzeitig
hat die der PKK nahestehende kurdische PYD (Partei der demokratischen Union)
die von der Türkei aus operierende islamistische Nusra Front besiegt und in den
kurdischen Gebieten Syriens ihre Vorherrschaft etabliert. Diese Entwicklungen
können als ein weiterer konkreter Grund für die Aufnahme von Gespräche mit
Öcalan angesehen werden.
Desweiteren spricht vieles
dafür, dass sowohl die Sicherheitspolitik und die Erdölpolitiken der USA und
Israels als auch die Suche Zyperns und Griechenlands nach Erdgas im östlichen
Mittelmeer die AKP zur Aufnahme von Gesprächen mit Öcalan und zur Suche nach
Lösungen drängten, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. In dieser Situation,
in der mehrere Gleichungen in einander verwoben sind, die die Grenzen der
Türkei sprengen, wird die Position der kurdischen Bewegung durch die
Errungenschaften in Syrien objektiv gestärkt. Es entstehen neue Optionen für
sie.
8.
Welche
sichtbaren Folgen könnten die Morde von Paris haben? Kann daraus eine
Annäherung zwischen alevitischer und kurdischer Identität erwachsen?
Spekulationen darüber, von
wem und warum die kurdischen revolutionären Frauen in Paris ermordet wurden,
reißen nicht ab. Verschwörungstheorien, wie ein angeblicher Sabotageversuch der
Gespräche mit Öcalan, angebliche Verhinderungsversuche einer
iranisch-syrisch-irakischen Front, des tiefen Staats / der tiefen PKK / des
grünen (also islamistischen) Ergenekons oder einer Kollaboration unterschiedlicher
Akteure, sind nur einige davon. Der Umstand, dass zwei der ermordeten drei
Frauen kurdische Alevitinnen waren, hat mehr als nur symbolische Bedeutung.
Dies wurde in den Gedenkfeiern in Paris und verschiedenen Städten in der Türkei
sichtbar. Die unter massenhafter Beteiligung durchgeführten Gedenkfeiern waren
vom Wunsch nach Frieden geprägt. Das wichtigste vorläufige Ergebnis scheint zu
sein, dass einerseits eine weitere Annäherung zwischen alevitischer und
kurdischer Identität stattgefunden hat, während gleichzeitig das Vertrauen in
den Verhandlungsprozess zwischen Öcalan und der türkischen Regierung gestärkt
wurde.
9.
Welche
Rolle spielt der Cliquenkampf zwischen der Gülen-Gemeinde und der AKP in diesem
Prozess?
Des Öfteren wird darauf
hingewiesen, dass es aus unterschiedlichen Gründen zwischen der AKP und der
Gülen-Gemeinde Spannungen gäbe. Doch die sogenannte »Win-Win-Politik« der AKP
ist nicht nur für die kurdische Bewegung Grund für einen vorläufigen
Friedensschluss. Sie legt auch der Gülen-Gemeinde die Einhaltung eines
Burgfriedens nahe. Während die AKP im Nahen Osten sowohl ideologisch (als
sunnitische Hegemonie) als auch über den marktförmigen politischen Islam
attraktiver ist als die Gülen-Bewegung, hat letztere innerhalb der kurdischen
Bevölkerung einen größeren Einfluss erringen können. Insbesondere mit ihren
Investitionen im irakischen Kurdistan, ihren Schulen, kurdischen Fernseh- und
Rundfunksendern kann die Bewegung das, was die AKP mit staatlichen Mitteln
schafft, über ein integrales Netzwerk auf zivilgesellschaftlicher Ebene
wirkungsvoller bewerkstelligen. Aus diesem Grund ist die Reichweite der
Gülen-Gemeinde größer als die der AKP. Die kurdische Bewegung wird insbesondere
in den urbanen Gebieten ihren Kampf um gesellschaftliche Mehrheiten weniger mit
der AKP als mit der Gülen-Gemeinde führen.
10.
Wie
sollte die Position der politischen Opposition in der Türkei bewertet werden?
Offenbar hat die AKP die
Reaktion der nationalistischen Kreise auf die Aufnahme von Verhandlungen mit
Öcalan mit einberechnet, weshalb sie vor Bekanntwerden der Gespräche mit
Nachdruck die Aufhebung der Immunität von kurdischen Abgeordneten und die
Wiedereinführung der Todesstrafe (für Öcalan) auf die Tagesordnung setzte. Die
türkisch-islamischen Befindlichkeiten sollen einerseits mit solchen maximalen
aber offensichtlich leeren Phrasen bedient werden, andererseits rechnet die AKP
damit, die türkisch-nationalistische Basis mit der Aussicht auf Beendigung des
Blutvergießens und einen höheren wirtschaftlichen Wohlstand zufrieden stellen
zu können.
Auf der einen Seite schließen
sich diejenigen Bevölkerungsteile, die auf den Verhandlungsprozess radikal
ablehnend reagieren, dem türkistischen Nationalismus (der Nationalistischen
Bewegungspartei MHP und einer bestimmten Fraktion innerhalb der
Republikanischen Volkspartei CHP) an. Auf der anderen Seite befinden sich jene
linken Kräfte, die den Prozess zwar grundsätzlich begrüßen, aber nach seinen
Aussichten für die ausgebeuteten Massen befragen, also den Klassencharakter der
verhandelten Lösung für die ‚nationale Frage‘ hervorheben. Von den linken Kräften
wird erwartet, dass sie sich der kurdischen Bewegung und ihrer
Lösungsperspektive anschließen oder sich raushalten.
Während des gesamten
Verhandlungsprozesses wird immer wieder zu hören sein, welch großes Potential
an wirtschaftlichem Wohlstand in ihm steckt, welch unwiderstehliches
Selbstbewusstsein als Regionalmacht aus ihm zu schöpfen ist und wie das auf
Eroberung ausgerichtete ökonomische Bestreben eine Win-Win-Situation für alle
Beteiligten schaffen wird. Demgegenüber wird die Situation der Millionen
Werktätigen, die mit dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit umgerechnet 328
Euro auskommen müssen, sowie der kurdischen Wanderarbeiter*innen, die in
verschiedenen Regionen des Landes unter miserablen Bedingungen ein Auskommen
suchen müssen, kaum thematisiert werden. Solange die linke Bewegung in diesem
Verhandlungsprozess keine eigenständige Position entwickelt, steht nicht zu
erwarten, dass die Ausbeutung der Werktätigen als ein übergreifendes Problem
aller Werktätigen mit der spezifischen Problematik der kurdischen Frage
zusammengebracht wird.
Ercan Geçgin ist Mitarbeiter
des Fachbereichs Soziologie an der Fakultät für Sprache, Geschichte und
Geografie der Universität Ankara.