Ein
Interview mit dem Sozialwissenschaftler Cenk
Saraçoğlu
Von Errol Babacan
Von Errol Babacan
Die ideologischen Konturen der AKP-Hegemonie schälten sich in Auseinandersetzung mit zwei politischen Herausforderungen heraus. Der radikale Islamismus ist befriedet und kooptiert. Die kurdische Bewegung dagegen bleibt die ernsthafteste Krisendynamik, die das gesamte Hegemonieprojekt gefährdet.
Beginnen wir mit einer allgemeinen Frage zum
Verhältnis zwischen politischem Islam und Nationalismus. Wir sind des Öfteren
mit der These konfrontiert, der politische Islam formuliere eine Alternative
zum Nationalismus. Trifft es denn zu, dass dieser einen Bruch mit dem
Nationalismus darstellt?
Cenk Saraçoğlu: Um eine plausible
Antwort auf diese Frage zu geben, müssen wir zunächst eine Besonderheit von
Nationalismus betonen. Im Gegensatz zu diversen anderen Ideologien liegt seine
Stärke in der Artikulationsfähigkeit mit anderen ideologischen Projekten. Ich
verwende den Begriff Artikulation im Sinne Ernesto Laclaus, der ihn als »jede
Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Identität
als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird«, definiert.
Deutlicher gefasst: Nationalismus kann dank seines flexiblen ideellen Rahmens
in andere Ideologien eingegliedert werden, in Abhängigkeit von hegemonialen
Kämpfen in einer Gesellschaft. Mit jeder Artikulation kann er Bestandteil
verschiedener ideologischer oder sozialer Projekte werden bzw. diesen dienlich
sein. Seine Bedeutung kann sich dementsprechend verändern, »seine Identität
wird modifiziert«.
Kurzum,
ich sehe keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen irgendeiner allgemeinen
Ideologie und Nationalismus. Das gilt besonders für die politische Praxis, wo
es reichlich historische Beispiele für die Eingliederung von Nationalismus in
Konservatismus, Liberalismus, Rassismus usw. gibt. In bestimmten historischen
Kontexten haben wir sogar die Eingliederung von Nationalismus in Sozialismus
gesehen, obwohl die klassen-basierte Konzeption des Letzteren doch eine
theoretische Verbannung einer solch »homogenen« Konstruktion wie der Nation,
die ja die Überbrückung von Klassenwidersprüchen bezweckt, mit sich bringt.
Dies
vorausgeschickt, lässt sich sagen, dass es irreleitend wäre, den politischen
Islam oder den Islamismus als trans-historische Rivalen von Nationalismus per
se aufzufassen. Abhängig von den historischen Umständen, dem Verlauf von
ideologischen Kämpfen und den Beziehungen zwischen den Klassen in einer
bestimmten Gesellschaft können Nationalismus und Islamismus ineinander gefügt
werden. Immer vorausgesetzt, dass eine solche Zusammenfügung (Inkorporation)
der Umsetzung und Konsolidierung eines politischen oder hegemonialen Projekts
zuträglich ist.
Beziehen wir das nun auf die Türkei. Der politische
Islam in Gestalt der AKP erschien dort als historisch einmalige Chance zur
Überwindung des türkischen Nationalismus. Wenn wir uns heute die ideologische
Ausrichtung der seit 10 Jahren alleine regierenden AKP anschauen: was hat sich
von dieser Erwartung bewahrheitet? Für welches ideologische Projekt steht sie?
Um
diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, sich die Umstände von 2002 zu
vergegenwärtigen, als die AKP die Parlamentswahlen gewann und an die Macht kam.
Die Wahlen wurden in einer Periode gehalten, als die neoliberale ökonomische
Transformation in einer tiefen Hegemonie-Krise steckte. Die Krise manifestierte
sich politisch und ideologisch wie auch ökonomisch. Die endlosen ökonomischen
Krisen, der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die ökonomische Instabilität,
verursachten tiefen Unmut. Sowohl auf der Seite der arbeitenden Klasse als auch
bei manchen Teilen der Bourgeoisie, die von abrupten Währungsabwertungen
negativ betroffen waren. Es gab eine wachsende Unzufriedenheit mit der Marktwirtschaft
und neoliberalen Institutionen. Und es gab ein zunehmendes Misstrauen gegenüber
den traditionellen politischen Akteuren.
Es
wurde schwierig, den Konsens der arbeitenden Bevölkerung für die bestehende
politische Ordnung zu gewinnen. Die offizielle Ideologie - der Kemalismus – war
nicht mehr in der Lage, eine konstruktive Lösung für diese Hegemonie-Krise zu
entwickeln; insbesondere in Konfrontation mit den langjährigen
Herausforderungen, die sich durch den radikalen Islamismus und die Kurdische
Bewegung stellten.
In
einer solchen Konjunktur gewann die AKP nun die Wahlen. Sie trat als eine
brandneue Partei auf, die ihren WählerInnen gleichzeitig Wandel und Stabilität
versprach. Es war klar, dass ein solches Versprechen nur durch eine groß
angelegte Transformation bestehender politischer und ideologischer Strukturen
gehalten werden konnte. Dies bedeutete, ein neues hegemoniales Projekt zu
schaffen, das in der Lage sein würde, die zerrüttete Verbindung zwischen der
Bevölkerung und dem System wiederherzustellen. Die Konturen dieses Projekts
schälten sich im Prozess heraus. Inzwischen sind sie klar genug, um
charakteristische Merkmale zu identifizieren.
Worin besteht das Neue dieses hegemonialen
Projekts?
Es
ist die Wiederauflage von Neoliberalismus durch eine neue hegemoniale
Strategie.
Cihan
Tuğal bezeichnet diesen Prozess als eine passive Revolution[1].
Dieses Konzept ist ganz geeignet, um die Eigenart der Transformation zu
erfassen. Die von der AKP unternommene Transformation ist einerseits radikal,
da sie einschneidende Veränderungen auf der politischen und ideologischen Ebene
vornimmt, andererseits ist es eben eine passive
Revolution, da sie nicht etwa darauf abzielt, die neoliberale Ökonomie zu überwinden
oder zu modifizieren, sondern deren Rekonstruktion und Revitalisierung in einem
neuen politischen und ideologischen Kontext anpeilt.
Zur
Beantwortung der Frage nach dem Neuartigen könnten verschiedene Dimensionen des
Wandels hervorgehoben werden. Ich möchte primär die ideologische
Restrukturierung fokussieren. Damit meine ich die Transformation in den Ideen,
Symbolen und Gefühlen, die zur Erzeugung des Konsenses der Bevölkerung zum
Fortbestehen des neoliberalen ökonomischen
Systems eingesetzt werden. Bezogen auf die ideologische Restrukturierung können
wir feststellen, dass die AKP eine Artikulation von Islamismus und
Nationalismus vornimmt, woraus in meinen Augen eine historisch-spezifische
ideologische Formation entstanden ist, die ich »Islamisch-Konservativen
Nationalismus« nenne.
Ist der Begriff Nationalismus für diese
Formation denn noch adäquat, sofern sie auf Religion und nicht auf Ethnizität
zu beruhen scheint?
Es
hört sich widersprüchlich an, aber genau darin besteht die Besonderheit. Es ist
eine Form des Nationalismus und infolgedessen sind grundlegende Merkmale eines
jeden »typischen« Nationalismus enthalten. Wie alle Nationalismen beruht der
Islamisch-Konservative Nationalismus der AKP auf folgenden Prämissen: die
Imagination oder Konstruktion einer Bevölkerung in den Grenzen eines bestimmten
Territoriums, die als »Nation« bezeichnet wird; eine »nationale Identität«
basierend auf einer erfundenen oder tatsächlichen Gemeinsamkeit; eine »nationale
Geschichte«, die eine gemeinsame Vergangenheit konstruiert; und schließlich die
Vorstellung von einem »nationalen Interesse«, das heißt, die Bevölkerung, die
die Nation darstellt, teilt gemeinsame Interessen, die individuelle oder
sektiererische Interessen übersteigen.
Das
Besondere am Islamisch-Konservativen Nationalismus ist, dass Islamismus und
Konservatismus in der Herausbildung der gemeinsamen Elemente überwiegen. Mit
anderen Worten, Islamismus und Konservatismus stellen die symbolischen Inhalte
zur Verfügung und bestimmen größtenteils über den Referenzrahmen. Der
Islamisch-Konservative Nationalismus unterscheidet sich hierdurch vom
kemalistischen Nationalismus, der lange Zeit die offizielle Ideologie des
Staates war.
Bevor wir auf den Unterschied zum
kemalistischen Nationalismus eingehen: Wodurch unterscheidet sich der
Islamisch-Konservative Nationalismus von der Türkisch-Islamischen Synthese,
deren Etablierung insbesondere nach dem Militärputsch von 1980 zur
Staatspolitik erhoben wurde?
Das
vorrangige Ziel der Türkisch-Islamischen Synthese bestand darin, das Türkentum
mit einigen verbreiteten Elementen der Muslimschaft (Muslimhood) zu verbinden.
Die Diskussion drehte sich hauptsächlich darum, wie die Idee des Türkismus mit
muslimischer Identität kompatibel gemacht werden könnte. Das Wort Synthese
deutet schon darauf hin, dass Türkentum und Muslimschaft als zwei separate
Entwürfe aufgefasst wurden. Sie sollten auf eine Weise integriert werden, die
dem türkischen Nationalismus mehr gesellschaftliche Attraktivität verlieh. Was
wir beim Islamisch-Konservativen Nationalismus sehen, ist nicht die Synthese
zweier historisch unterschiedlicher Identitäten oder Empfindungen (sentiments).
Vielmehr sind wir Zeugen einer Re-Definition der Nation entlang überwiegend
islamistischer und konservativer Elemente.
»Türkentum«
oder »Türkismus« werden nicht als unabhängige und dominante Elemente in der
Formierung nationaler Identität gesehen. Da Islamismus und Konservatismus größtenteils
über die Bedeutung der »Nation« bestimmen, wird Türkentum zu einer
demographischen Komponente der Nation. In jüngerer Zeit sind zwar einige
Vorstöße zur Betonung des Türkentums, insbesondere vom Ministerpräsidenten Recep
Tayyip Erdoğan, unternommen worden. Dies geschieht jedoch, um nicht die
Unterstützung derjenigen zu verlieren, deren Hauptsorge der Bedeutungsgewinn
der PKK ist, und um die traditionellen MHP-WählerInnen zu binden. Es ist ein
pragmatisches Manöver, um die Unterstützung der türkischen Nationalisten für
die näher rückenden Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Es ändert nicht die
Tatsache, dass der Kern des hegemonialen Projekts der AKP und ihrer Ideologie
nicht aus einer Türkisch-Islamischen Synthese sondern aus einem Islamisch-Konservativen
Nationalismus besteht.
Um eine genauere Vorstellung in Abgrenzung
zum kemalistischen Nationalismus zu bekommen: Könntest du die Elemente des
Islamisch-Konservativen Nationalismus einzeln benennen?
Der
offizielle kemalistische Nationalismus definierte die Nation in durchaus
unterschiedlichen Formen, über Territorium und Staatsbürgerschaft oder Rasse
und Ethnizität. Doch in allen Formen war die Nation eine säkulare Entität
bestehend aus einer einzigen organisch-kulturellen Einheit. Die nationale
Identität wurde mit Bezug auf das Türkentum definiert, das einen Schmelztiegel
bilden sollte, um nicht-türkische muslimische Gruppen zu assimilieren und in
eine homogene »türkische Nation« zu integrieren.
Im
Islamisch-Konservativen Nationalismus bezieht sich Nation auf eine Bevölkerung,
die in den Grenzen der Türkei lebt und einige verbreitete kulturelle und
religiöse Ansichten sowie Praktiken teilt. Die gemeinsamen kulturellen Werte
beziehen sich typischerweise auf eine sunnitische Interpretation des Islam:
islamischer Konservatismus. Türkentum wurde re-definiert, so dass es sich nun
auf eine ethnische Identität neben anderen bezieht, wie KurdInnen, TscherkessInnen,
GeorgierInnen usw. Das Gewicht des Türkentums bei der Definition der nationalen
Identität wurde runter gespielt und durch eine gemeinsame Kultur entlang der
Linien des sunnitischen Islam ersetzt.
In
Bezug auf die nationale Geschichte verweist der kemalistische Nationalismus auf
die Gründung der Republik als Ursprung der Nation oder er verfolgt diesen
Ursprung zurück bis hin zu antiken anatolischen Zivilisationen. Doch in keiner
Definition erscheint die osmanische Vergangenheit als primäres Kennzeichen der
Nation. Das Gegenteil ist für den Islamisch-Konservativen Nationalismus der
Fall. Hier nimmt die Nation ihre Form in der osmanischen Zeit an, und die
gegenwärtige Gesellschaft in den Grenzen der Türkei wird als Nachfolgerin der
anatolischen Muslime aus der osmanischen Periode aufgefasst.
Kurzum,
meiner Meinung nach ist der politische Islam als eine neue Grundlage für
Nationalismus aufgekommen, um ihn wiederzubeleben, allerdings im Kontext eines
neuen hegemonialen Projekts. Der politische Islam trug zur Revitalisierung von
Nationalismus und nationalistischer Gefühle in der Form des islamischen
Konservatismus bei, zu einer Zeit, in der die kemalistische Form sich in einer
Krise befand und keine Alternative zur Überwindung der Hegemoniekrise aufbieten
konnte, die in den frühen 2000er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Das führt uns zu Deiner anfangs
aufgestellten These zurück, wonach der Islamisch-Konservative Nationalismus als
Antwort auf zwei politisch-ideologische Herausforderungen, die
radikal-islamische und die kurdisch-nationale, aufkam. Ich möchte auf die
kurdische Frage zu sprechen kommen, die einen Schwerpunkt deiner Arbeiten
bildet. Welche Rolle spielte die kurdische Frage in der Herausbildung dieses
neuen Hegemonieprojekts?
Übergreifend
zielte das Hegemonieprojekt darauf ab, die zerrüttete Verbindung zwischen dem
Staat und der Bevölkerung mittels einer neuen Ideologie zu reparieren.
Insbesondere die Betonung der osmanischen Glorie war wichtig, um das
Selbstbewusstsein der Bevölkerung anzuheben, das zwischen den 1990er und frühen
2000er Jahren in Folge der ökonomischen Krisen beschädigt war. Die Betonung
sunnitisch-islamischer Werte und die Kritik an kemalistischen Institutionen, am
rigiden Säkularismus, bändigten den radikalen Islamismus. Radikale
IslamistInnen wurden befriedet und kooptiert, zu einem Teil des hegemonialen
Projekts gemacht. Das entspricht ungefähr dem Begriff »passive Revolution«, den
Cihan Tuğal hierfür verwendet.
Bezogen
auf die kurdische Frage kann etwas Ähnliches identifiziert werden: der
Islamisch-Konservative Nationalismus stellt dem türkischen Staat eine neue
Strategie zur Bewältigung der kurdischen Herausforderung zur Verfügung. Die
Loslösung der Definition von Nation vom Türkentum und von Ethnizität ermöglicht
es der AKP, die Anwesenheit einer kurdischen Ethnie anzuerkennen und die
KurdInnen einzuladen, Teil des islamisch-konservativen Hegemonieprojekts zu
werden.
Doch anders als die radikal-islamische
Herausforderung, die befriedet scheint, sieht es doch so aus, als ob die
Anerkennung der kurdischen Ethnie nicht zu einer Beendigung des Konflikts
führen würde. Im Gegenteil, wir erleben derzeit eine massive Militarisierung, die
an die 1990er Jahre erinnert. Wir haben auch gesehen, wie die AKP
polizei-staatliche Maßnahmen ergreift, um demokratisch gewählte kurdische
PolitikerInnen einzuschüchtern und gemeinsam mit vielen Tausend AktivistInnen
zu inhaftieren. Viele KurdInnen scheinen die Einladung nicht annehmen zu
wollen, woraufhin autoritär-kemalistische Maßnahmen ein Revival erleben. Wie
bewertest Du diese Entwicklungen, als ein Scheitern und einen Rückschritt?
Viele
Leute sehen die derzeitige Politik der AKP in der kurdischen Frage als eine
Verschiebung ihres Ansatzes, der – in ihren ersten Jahren – demokratischer und
reform-orientierter war und eher dazu neigte, die kurdische Identität
anzuerkennen. So betrachtet verfolgte die AKP einen libertären Ansatz, der
durch das sogenannte »kurdische Öffnungsprojekt« versinnbildlicht wurde.
Demzufolge tendierte sie zur Anerkennung der kurdischen Identität und war
bereit, der kurdischen Bevölkerung einige Rechte und Freiheiten zu gewähren.
Doch dann, so die verbreitete Auffassung, verließ sie diesen »mutigen und
bahnbrechenden« Ansatz und übernahm die autoritäre Tradition des türkischen
Staates, was sich in der derzeitigen Militarisierung manifestiert.
Meiner
Ansicht nach ist es trotz der Kontinuitäten in den Taktiken und Methoden zur Unterdrückung
der Kurdischen Bewegung irreleitend, die gegenwärtige »kurdische« Perspektive
der AKP als eine simple Manifestation der traditionellen Mentalität des
kemalistischen Staates anzusehen. Vor dem Hintergrund des beschriebenen
radikalen ideologischen Wandels denke ich, dass der Einsatz militärischer
Mittel durch die AKP einen qualitativ verschiedenen Charakter aufweist als
zuvor.
Ich
würde sogar argumentieren, dass es erhellender wäre, eine Kontinuität nicht
zwischen dem kemalistischen Staat und der derzeitigen Politik der AKP zu
suchen, sondern zwischen den scheinbar demokratischen Mitteln der AKP aus der
Anfangsperiode und ihrem derzeitigen autoritären Gesicht. Noch konkreter heißt
das: Das vor 4-5 Jahren initiierte Projekt der demokratischen Öffnung steht
nicht im Widerspruch, sondern im Einklang mit den militärischen Methoden. Der
Einsatz militärischer Mittel ist weniger eine Abweichung von der
Anerkennungspolitik und der „demokratischen Öffnung“, sondern eine Ergänzung,
vielmehr ein notwendig gewordenes Element ein und derselben »Öffnungspolitik«.
Es hört sich ziemlich bizarr und
widersprüchlich an, weiterhin von einem Anerkennungs- und Öffnungsprojekt einer
Partei zu reden, die wir als rechts und nationalistisch bezeichnen und die
Tausende zivile kurdische AktivistInnen willkürlich verhaften lässt.
Der
Nationalismus der AKP und ihre Stellung im rechten politischen Lager
repräsentieren eine neuartige ideologische Position in der Türkei. Der
Islamisch-Konservative Nationalismus und die daraus resultierende nationale
Vision lassen die Anerkennung von KurdInnen als eine separate ethnische Gruppe
und dementsprechend die Gewährung bestimmter kultureller Rechte zu. Zumindest
auf der diskursiven oder propagandistischen Ebene kritisiert die AKP radikal
die kemalistische Assimilations- und Leugnungspolitik und erkennt unverblümt
die Anwesenheit des Kurdischen als separate ethnische Gruppe an. Das schlägt
sich auch in bestimmten politischen Reformen nieder, wie die Eröffnung eines
staatlichen kurdischen Fernsehsenders oder die Einführung von kurdischen
Sprachkursen als Wahlfach an staatlichen Schulen. So etwas war unter der kemalistischen
Hegemonie undenkbar.
Diese »bahn-brechenden« Maßnahmen haben der
AKP zunächst einige Unterstützung aus der kurdischen Bevölkerung gebracht, die
sie jetzt wieder zu verlieren scheint…
Ich
möchte daran erinnern, dass die Anerkennung mit einer pauschalen Kritik des
Kemalismus einhergeht. Die Undifferenziertheit dieser Kritik verbindet die
religiösen Empfindungen einer sunnitisch-türkischen Bevölkerung mit kurdischen
Forderungen nach Anerkennung. Ziel ist es, einen sunnitischen Block gegen die
kemalistische Vergangenheit zu formen. Das heißt, indem sie die Anerkennung von
KurdInnen in einen anti-kemalistischen Diskurs einbindet, versucht die AKP,
eine Verbindung oder ein gemeinsames Motiv aufzubauen, um sowohl türkische als
auch kurdische sunnitisch-religiöse Bevölkerungsgruppen in ihre Hegemonie
einzugliedern. Das hat bis zu einem gewissen Punkt auch funktioniert, konnte
allerdings den Einfluss der Kurdischen Bewegung auf lange Sicht nicht brechen.
Entgegen den Erwartungen der AKP ging die Kurdische Bewegung sowohl aus den
Kommunalwahlen 2009 als auch aus den Parlamentswahlen 2011 gestärkt hervor. Es
sagt viel aus, dass Funktionäre der AKP die Mitglieder der BDP als die
KemalistInnen der KurdInnen identifizieren![2]
Wie
auch immer, die Reformen der AKP als unzulänglich oder irrelevant zu
kritisieren, ist eine Sache. Doch kann niemand leugnen, dass diese Praktiken
auf eine Verschiebung der Strategie im Umgang mit dem kurdischen Problem
hindeuten. Dies zu leisten, war für die kemalistische Konzeption des türkischen
Nationalismus und der türkischen Nation unmöglich.
Sind solche Versuche der Anerkennung
tatsächlich so einmalig? Der aus dem rechten politischen Lager stammende
damalige Ministerpräsident Süleyman Demirel beispielweise rief in den frühen
1990er Jahren auch schon zur Anerkennung der kurdischen Realität auf. Zur
selben Zeit bildete die sozial-demokratische Partei SHP ein Wahlbündnis mit
kurdischen PolitikerInnen.
Solche
scheinbar »historischen« Schritte gingen nicht über sporadische Manöver in
kritischen Phasen im Kampf zwischen der Kurdischen Bewegung und dem türkischen
Staat hinaus. Sie wurden nicht zu einer konstitutiven Komponente einer
Neubestimmung der Nation und des Nationalismus. Sie waren nicht Resultat eines
Bestrebens zur radikalen Transformation der offiziellen Ideologie.
Was
die AKP von anderen Parteien des rechten Lagers unterscheidet, ist ihr
Bestreben, die offizielle Ideologie auf der Basis der Parteiideologie zu
transformieren, und folglich die Lücke zwischen der Ideologie der Partei und
des Staates zu verkleinern. Das ist der Punkt, warum die ideologische
Transformation unter der AKP so wichtig für das Verständnis ihrer neuen
Konzeption in Bezug auf die kurdische Frage ist.
Da
Türkentum seine zentrale Bedeutung für die Konstruktion der Nation verliert,
auf einen sekundären Status hinter die sunnitisch-islamischen Werte verwiesen
wird, kann die AKP die kurdische Identität anerkennen; nicht als eine nationale
Identität, aber als eine kulturelle Subgruppe der Nation, die entlang
sunnitisch-islamischer Werte entworfen wird, die sowohl von TürkInnen als auch
von KurdInnen geteilt werden. Die Verstetigung und Nachhaltigkeit des
Islamisch-Konservativen Nationalismus ist sogar auf die Anerkennung der
KurdInnen angewiesen. Im folgenden
Sinne: Nur wenn die Mehrheit der KurdInnen sich dem Projekt anschließt - dank
der verlockenden Anerkennung - kann dieser Entwurf einer Nation in der gesamten
Türkei konsolidiert werden. Jede »separatistische« oder »nationalistische«
Strömung mit einer Massenbasis unter den KurdInnen untergräbt die
Überzeugungskraft und Vertrauenswürdigkeit des islamisch-konservativen
Entwurfs. Insofern könnte das erneute Erstarken einer kurdisch-nationalen
Identität auch wieder einen stärker reaktionären und ethnisch-basierten
türkischen Nationalismus antreiben, eine implizite Gefahr für den
Islamisch-Konservativen Nationalismus. Nachdem das »kurdische Öffnungsprojekt«
den Einfluss der kurdischen Bewegung nicht brechen konnte, ist die AKP exakt
mit diesem Problem konfrontiert.
Um es
nochmal ganz deutlich zu sagen: Es handelt sich nicht um die Anerkennung von
KurdInnen als eine Nation mit einem Recht auf Selbstbestimmung. Es ist die
Anerkennung ihrer kulturellen und ethnischen Andersartigkeit. Insoweit
widersprechen sich auch die Anerkennung der kurdischen Identität und das nationalistische
Motto der AKP - »eine Nation, eine Fahne, ein Staat« - nicht. Denn, ich
wiederhole es, Nation wird als eine sunnitisch-islamische Gemeinschaft
aufgefasst, die verschiedene ethnische Subgruppen umfasst. Aus diesem Grund
fügte Recep Tayyip Erdoğan bei verschiedenen Anlässen ein weiteres Element an: »eine
Religion«. Eine Religion garantiert »eine Nation, die verschiedene ethnische
Identitäten umfasst«, und macht die Anerkennung des Kurdischen als kulturelle Ethnie somit
unproblematisch.
Der Erfolg der islamisch-konservativen
Lösung der kurdischen Frage, die Integration der KurdInnen in die Nation der
AKP, kann also nur dann zufriedenstellend erreicht werden, wenn der Einfluss
der Kurdischen Bewegung eingedämmt wird?
Ja,
da eine starke Kurdische Bewegung in der Region die ideologische Durchdringung
der kurdischen Bevölkerung durch die AKP beeinträchtigt.
Zwei
historische Merkmale der Kurdischen Bewegung stellen eine große Herausforderung
für das kurdische Projekt der AKP dar. Die Kurdische Bewegung verfügt über eine
säkulare und linke Orientierung, die insbesondere der kurdischen Jugend eine
säkulare Weltanschauung und eine säkulare Auffassung des Kurdischen verleiht.
Das begrenzt den Einfluss des Islam. Und die Kurdische Bewegung entwirft das
Kurdentum nicht bloß als eine Ethnie, sondern als eine Nation mit bestimmten
Interessen und Rechten, ein Anspruch, der mit der Anerkennung von KurdInnen als
ethnische Variante kollidiert.
Heute
stehen sich zwei unversöhnliche Konzeptionen des Kurdischen wie auch der Nation
gegenüber. Die AKP strebt nach einer Nation, die KurdInnen und TürkInnen als
verschiedene ethnische Gruppen einschließt. Hier kann das Kurdische keine
politische Aktionskategorie sein, sondern muss eine folkloristische Komponente
der Nation bleiben. Für die Kurdische Bewegung ist es dagegen klar, dass das
Kurdische eine politische und nationale Kategorie ist. Deshalb denke ich, dass
eine starke Kurdische Bewegung und die AKP, mit einer solch ehrgeizigen Agenda,
nicht friedvoll nebeneinander existieren können. Die gewaltsame Beseitigung der
Kurdischen Bewegung erscheint der AKP als einziger Weg, ihr hegemoniales
Projekt erfolgreich umzusetzen.
Die
Fortdauer des Konflikts in der Region ist heute die ernsthafteste
Krisendynamik, die die Überzeugungskraft des Islamisch-Konservativen
Nationalismus in der gesamten Türkei in Frage stellt. Zu diesem Zeitpunkt ist
es sehr naheliegend, dass die AKP ideologische Schwäche durch mehr
Autoritarismus in der gesamten Türkei kompensieren wird.
Eine klare Schlussfolgerung aus deiner
Analyse ist demzufolge, dass unter den gegebenen Kräfteverhältnissen die
Aussicht auf eine politische und friedliche Lösung des Konflikts innerhalb der
Grenzen der Türkei rapide dahin schwindet. Vielmehr, durch die kompromisslose
Haltung der regierenden Partei und die endlosen gewalttätigen Angriffe auf
KurdInnen in vielen Teilen des Landes wird die Spaltung in TürkInnen und
KurdInnen ja unvermeidbar gemacht, oder?
Trotz
der zunehmenden Militarisierung des Konflikts und der Polarisierung zwischen
KurdInnen und TürkInnen denke ich, dass wir als SozialistInnen weiterhin auf
der Idee eines freien und gleichen Landes bestehen sollten, das KurdInnen und
TürkInnen wie auch alle anderen Gruppen als gleiche BürgerInnen anerkennt. Kurdische
wie türkische SozialistInnen haben meiner Meinung nach eine historische
Verantwortung, eine Alternative zum Islamisch-Konservativen Nationalismus zu
entwickeln und sich für diese einzusetzen. Solch eine überfällige und dem
Anschein nach obsolete Aufgabe ist zum jetzigen Zeitpunkt mehr denn je
notwendig. Dass das unrealistisch klingt, liegt daran, dass die türkische Linke
schwächer denn je in ihrer gesamten Geschichte ist, über unzureichend Stärke
verfügt, um einen nennenswerten ideologischen und politischen Einfluss auf die
türkische Gesellschaft auszuüben. Ganz zu schweigen von einem Anspruch auf
politische Macht.
Die
Kurdische Bewegung ist hingegen mächtig genug, um ihre eigene politische Vision
und ihr Projekt im Nahen Osten zu behaupten. Da eine solche Stärke aber nicht
für die sozialistische Linke gilt, entsteht eine Situation, die die Entwicklung
einer landesweiten sozialistischen Alternative für kurdische und türkische
ArbeiterInnen hemmt. Das erklärt auch teilweise das Schwanken der Kurdischen
Bewegung zwischen einer unabhängigen nationalen Bewegung im Nahen Osten mit
eigener Agenda und einer auf die Türkei bezogenen linken Dynamik, die zur
emanzipatorischen Transformation der Türkei beitragen könnte.
Cenk
Saraçoğlu ist Sozialwissenschaftler
und arbeitet an der Başkent Universität in Ankara. Er ist
Redaktionsmitglied der türkischen Zeitschrift für Sozialwissenschaften Praksis.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Migration, Nationalismus, urbane Transformation
und ethnische Beziehungen mit besonderem Fokus auf die Türkei.
[1] Cihan Tuğal: Passive Revolution.
Absorbing the Islamic Challenge to Capitalism, 2009. Siehe auch Rezension in
diesem Infobrief.
[2]
Der Vorwurf des Kemalismus an die Partei für Frieden und Demokratie BDP, deren
Basis hauptsächlich von der kurdischen Bevölkerung gebildet wird, impliziert
u.a. Elitismus, Laizismus, Autoritarismus.