Mittwoch, 5. Dezember 2012

»Islamisch-Konservativer Nationalismus - Wiederauflage von Neoliberalismus durch eine neue hegemoniale Strategie«


Ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Cenk Saraçoğlu
Von Errol Babacan

Die ideologischen Konturen der AKP-Hegemonie schälten sich in Auseinandersetzung mit zwei politischen Herausforderungen heraus. Der radikale Islamismus ist befriedet und kooptiert. Die kurdische Bewegung dagegen bleibt die ernsthafteste Krisendynamik, die das gesamte Hegemonieprojekt gefährdet.

Beginnen wir mit einer allgemeinen Frage zum Verhältnis zwischen politischem Islam und Nationalismus. Wir sind des Öfteren mit der These konfrontiert, der politische Islam formuliere eine Alternative zum Nationalismus. Trifft es denn zu, dass dieser einen Bruch mit dem Nationalismus darstellt?
Cenk Saraçoğlu: Um eine plausible Antwort auf diese Frage zu geben, müssen wir zunächst eine Besonderheit von Nationalismus betonen. Im Gegensatz zu diversen anderen Ideologien liegt seine Stärke in der Artikulationsfähigkeit mit anderen ideologischen Projekten. Ich verwende den Begriff Artikulation im Sinne Ernesto Laclaus, der ihn als »jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird«, definiert. Deutlicher gefasst: Nationalismus kann dank seines flexiblen ideellen Rahmens in andere Ideologien eingegliedert werden, in Abhängigkeit von hegemonialen Kämpfen in einer Gesellschaft. Mit jeder Artikulation kann er Bestandteil verschiedener ideologischer oder sozialer Projekte werden bzw. diesen dienlich sein. Seine Bedeutung kann sich dementsprechend verändern, »seine Identität wird modifiziert«.
Kurzum, ich sehe keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen irgendeiner allgemeinen Ideologie und Nationalismus. Das gilt besonders für die politische Praxis, wo es reichlich historische Beispiele für die Eingliederung von Nationalismus in Konservatismus, Liberalismus, Rassismus usw. gibt. In bestimmten historischen Kontexten haben wir sogar die Eingliederung von Nationalismus in Sozialismus gesehen, obwohl die klassen-basierte Konzeption des Letzteren doch eine theoretische Verbannung einer solch »homogenen« Konstruktion wie der Nation, die ja die Überbrückung von Klassenwidersprüchen bezweckt, mit sich bringt.
Dies vorausgeschickt, lässt sich sagen, dass es irreleitend wäre, den politischen Islam oder den Islamismus als trans-historische Rivalen von Nationalismus per se aufzufassen. Abhängig von den historischen Umständen, dem Verlauf von ideologischen Kämpfen und den Beziehungen zwischen den Klassen in einer bestimmten Gesellschaft können Nationalismus und Islamismus ineinander gefügt werden. Immer vorausgesetzt, dass eine solche Zusammenfügung (Inkorporation) der Umsetzung und Konsolidierung eines politischen oder hegemonialen Projekts zuträglich ist.
Beziehen wir das nun auf die Türkei. Der politische Islam in Gestalt der AKP erschien dort als historisch einmalige Chance zur Überwindung des türkischen Nationalismus. Wenn wir uns heute die ideologische Ausrichtung der seit 10 Jahren alleine regierenden AKP anschauen: was hat sich von dieser Erwartung bewahrheitet? Für welches ideologische Projekt steht sie?
Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, sich die Umstände von 2002 zu vergegenwärtigen, als die AKP die Parlamentswahlen gewann und an die Macht kam. Die Wahlen wurden in einer Periode gehalten, als die neoliberale ökonomische Transformation in einer tiefen Hegemonie-Krise steckte. Die Krise manifestierte sich politisch und ideologisch wie auch ökonomisch. Die endlosen ökonomischen Krisen, der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die ökonomische Instabilität, verursachten tiefen Unmut. Sowohl auf der Seite der arbeitenden Klasse als auch bei manchen Teilen der Bourgeoisie, die von abrupten Währungsabwertungen negativ betroffen waren. Es gab eine wachsende Unzufriedenheit mit der Marktwirtschaft und neoliberalen Institutionen. Und es gab ein zunehmendes Misstrauen gegenüber den traditionellen politischen Akteuren.
Es wurde schwierig, den Konsens der arbeitenden Bevölkerung für die bestehende politische Ordnung zu gewinnen. Die offizielle Ideologie - der Kemalismus – war nicht mehr in der Lage, eine konstruktive Lösung für diese Hegemonie-Krise zu entwickeln; insbesondere in Konfrontation mit den langjährigen Herausforderungen, die sich durch den radikalen Islamismus und die Kurdische Bewegung stellten.
In einer solchen Konjunktur gewann die AKP nun die Wahlen. Sie trat als eine brandneue Partei auf, die ihren WählerInnen gleichzeitig Wandel und Stabilität versprach. Es war klar, dass ein solches Versprechen nur durch eine groß angelegte Transformation bestehender politischer und ideologischer Strukturen gehalten werden konnte. Dies bedeutete, ein neues hegemoniales Projekt zu schaffen, das in der Lage sein würde, die zerrüttete Verbindung zwischen der Bevölkerung und dem System wiederherzustellen. Die Konturen dieses Projekts schälten sich im Prozess heraus. Inzwischen sind sie klar genug, um charakteristische Merkmale zu identifizieren.
Worin besteht das Neue dieses hegemonialen Projekts?
Es ist die Wiederauflage von Neoliberalismus durch eine neue hegemoniale Strategie.
Cihan Tuğal bezeichnet diesen Prozess als eine passive Revolution[1]. Dieses Konzept ist ganz geeignet, um die Eigenart der Transformation zu erfassen. Die von der AKP unternommene Transformation ist einerseits radikal, da sie einschneidende Veränderungen auf der politischen und ideologischen Ebene vornimmt, andererseits ist es eben eine passive Revolution, da sie nicht etwa darauf abzielt, die neoliberale Ökonomie zu überwinden oder zu modifizieren, sondern deren Rekonstruktion und Revitalisierung in einem neuen politischen und ideologischen Kontext anpeilt.
Zur Beantwortung der Frage nach dem Neuartigen könnten verschiedene Dimensionen des Wandels hervorgehoben werden. Ich möchte primär die ideologische Restrukturierung fokussieren. Damit meine ich die Transformation in den Ideen, Symbolen und Gefühlen, die zur Erzeugung des Konsenses der Bevölkerung zum Fortbestehen des neoliberalen ökonomischen Systems eingesetzt werden. Bezogen auf die ideologische Restrukturierung können wir feststellen, dass die AKP eine Artikulation von Islamismus und Nationalismus vornimmt, woraus in meinen Augen eine historisch-spezifische ideologische Formation entstanden ist, die ich »Islamisch-Konservativen Nationalismus« nenne.
Ist der Begriff Nationalismus für diese Formation denn noch adäquat, sofern sie auf Religion und nicht auf Ethnizität zu beruhen scheint?
Es hört sich widersprüchlich an, aber genau darin besteht die Besonderheit. Es ist eine Form des Nationalismus und infolgedessen sind grundlegende Merkmale eines jeden »typischen« Nationalismus enthalten. Wie alle Nationalismen beruht der Islamisch-Konservative Nationalismus der AKP auf folgenden Prämissen: die Imagination oder Konstruktion einer Bevölkerung in den Grenzen eines bestimmten Territoriums, die als »Nation« bezeichnet wird; eine »nationale Identität« basierend auf einer erfundenen oder tatsächlichen Gemeinsamkeit; eine »nationale Geschichte«, die eine gemeinsame Vergangenheit konstruiert; und schließlich die Vorstellung von einem »nationalen Interesse«, das heißt, die Bevölkerung, die die Nation darstellt, teilt gemeinsame Interessen, die individuelle oder sektiererische Interessen übersteigen.
Das Besondere am Islamisch-Konservativen Nationalismus ist, dass Islamismus und Konservatismus in der Herausbildung der gemeinsamen Elemente überwiegen. Mit anderen Worten, Islamismus und Konservatismus stellen die symbolischen Inhalte zur Verfügung und bestimmen größtenteils über den Referenzrahmen. Der Islamisch-Konservative Nationalismus unterscheidet sich hierdurch vom kemalistischen Nationalismus, der lange Zeit die offizielle Ideologie des Staates war.
Bevor wir auf den Unterschied zum kemalistischen Nationalismus eingehen: Wodurch unterscheidet sich der Islamisch-Konservative Nationalismus von der Türkisch-Islamischen Synthese, deren Etablierung insbesondere nach dem Militärputsch von 1980 zur Staatspolitik erhoben wurde?
Das vorrangige Ziel der Türkisch-Islamischen Synthese bestand darin, das Türkentum mit einigen verbreiteten Elementen der Muslimschaft (Muslimhood) zu verbinden. Die Diskussion drehte sich hauptsächlich darum, wie die Idee des Türkismus mit muslimischer Identität kompatibel gemacht werden könnte. Das Wort Synthese deutet schon darauf hin, dass Türkentum und Muslimschaft als zwei separate Entwürfe aufgefasst wurden. Sie sollten auf eine Weise integriert werden, die dem türkischen Nationalismus mehr gesellschaftliche Attraktivität verlieh. Was wir beim Islamisch-Konservativen Nationalismus sehen, ist nicht die Synthese zweier historisch unterschiedlicher Identitäten oder Empfindungen (sentiments). Vielmehr sind wir Zeugen einer Re-Definition der Nation entlang überwiegend islamistischer und konservativer Elemente.
»Türkentum« oder »Türkismus« werden nicht als unabhängige und dominante Elemente in der Formierung nationaler Identität gesehen. Da Islamismus und Konservatismus größtenteils über die Bedeutung der »Nation« bestimmen, wird Türkentum zu einer demographischen Komponente der Nation. In jüngerer Zeit sind zwar einige Vorstöße zur Betonung des Türkentums, insbesondere vom Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, unternommen worden. Dies geschieht jedoch, um nicht die Unterstützung derjenigen zu verlieren, deren Hauptsorge der Bedeutungsgewinn der PKK ist, und um die traditionellen MHP-WählerInnen zu binden. Es ist ein pragmatisches Manöver, um die Unterstützung der türkischen Nationalisten für die näher rückenden Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Es ändert nicht die Tatsache, dass der Kern des hegemonialen Projekts der AKP und ihrer Ideologie nicht aus einer Türkisch-Islamischen Synthese sondern aus einem Islamisch-Konservativen Nationalismus besteht.
Um eine genauere Vorstellung in Abgrenzung zum kemalistischen Nationalismus zu bekommen: Könntest du die Elemente des Islamisch-Konservativen Nationalismus einzeln benennen?
Der offizielle kemalistische Nationalismus definierte die Nation in durchaus unterschiedlichen Formen, über Territorium und Staatsbürgerschaft oder Rasse und Ethnizität. Doch in allen Formen war die Nation eine säkulare Entität bestehend aus einer einzigen organisch-kulturellen Einheit. Die nationale Identität wurde mit Bezug auf das Türkentum definiert, das einen Schmelztiegel bilden sollte, um nicht-türkische muslimische Gruppen zu assimilieren und in eine homogene »türkische Nation« zu integrieren.
Im Islamisch-Konservativen Nationalismus bezieht sich Nation auf eine Bevölkerung, die in den Grenzen der Türkei lebt und einige verbreitete kulturelle und religiöse Ansichten sowie Praktiken teilt. Die gemeinsamen kulturellen Werte beziehen sich typischerweise auf eine sunnitische Interpretation des Islam: islamischer Konservatismus. Türkentum wurde re-definiert, so dass es sich nun auf eine ethnische Identität neben anderen bezieht, wie KurdInnen, TscherkessInnen, GeorgierInnen usw. Das Gewicht des Türkentums bei der Definition der nationalen Identität wurde runter gespielt und durch eine gemeinsame Kultur entlang der Linien des sunnitischen Islam ersetzt.
In Bezug auf die nationale Geschichte verweist der kemalistische Nationalismus auf die Gründung der Republik als Ursprung der Nation oder er verfolgt diesen Ursprung zurück bis hin zu antiken anatolischen Zivilisationen. Doch in keiner Definition erscheint die osmanische Vergangenheit als primäres Kennzeichen der Nation. Das Gegenteil ist für den Islamisch-Konservativen Nationalismus der Fall. Hier nimmt die Nation ihre Form in der osmanischen Zeit an, und die gegenwärtige Gesellschaft in den Grenzen der Türkei wird als Nachfolgerin der anatolischen Muslime aus der osmanischen Periode aufgefasst.
Kurzum, meiner Meinung nach ist der politische Islam als eine neue Grundlage für Nationalismus aufgekommen, um ihn wiederzubeleben, allerdings im Kontext eines neuen hegemonialen Projekts. Der politische Islam trug zur Revitalisierung von Nationalismus und nationalistischer Gefühle in der Form des islamischen Konservatismus bei, zu einer Zeit, in der die kemalistische Form sich in einer Krise befand und keine Alternative zur Überwindung der Hegemoniekrise aufbieten konnte, die in den frühen 2000er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Das führt uns zu Deiner anfangs aufgestellten These zurück, wonach der Islamisch-Konservative Nationalismus als Antwort auf zwei politisch-ideologische Herausforderungen, die radikal-islamische und die kurdisch-nationale, aufkam. Ich möchte auf die kurdische Frage zu sprechen kommen, die einen Schwerpunkt deiner Arbeiten bildet. Welche Rolle spielte die kurdische Frage in der Herausbildung dieses neuen Hegemonieprojekts?
Übergreifend zielte das Hegemonieprojekt darauf ab, die zerrüttete Verbindung zwischen dem Staat und der Bevölkerung mittels einer neuen Ideologie zu reparieren. Insbesondere die Betonung der osmanischen Glorie war wichtig, um das Selbstbewusstsein der Bevölkerung anzuheben, das zwischen den 1990er und frühen 2000er Jahren in Folge der ökonomischen Krisen beschädigt war. Die Betonung sunnitisch-islamischer Werte und die Kritik an kemalistischen Institutionen, am rigiden Säkularismus, bändigten den radikalen Islamismus. Radikale IslamistInnen wurden befriedet und kooptiert, zu einem Teil des hegemonialen Projekts gemacht. Das entspricht ungefähr dem Begriff »passive Revolution«, den Cihan Tuğal hierfür verwendet.
Bezogen auf die kurdische Frage kann etwas Ähnliches identifiziert werden: der Islamisch-Konservative Nationalismus stellt dem türkischen Staat eine neue Strategie zur Bewältigung der kurdischen Herausforderung zur Verfügung. Die Loslösung der Definition von Nation vom Türkentum und von Ethnizität ermöglicht es der AKP, die Anwesenheit einer kurdischen Ethnie anzuerkennen und die KurdInnen einzuladen, Teil des islamisch-konservativen Hegemonieprojekts zu werden.
Doch anders als die radikal-islamische Herausforderung, die befriedet scheint, sieht es doch so aus, als ob die Anerkennung der kurdischen Ethnie nicht zu einer Beendigung des Konflikts führen würde. Im Gegenteil, wir erleben derzeit eine massive Militarisierung, die an die 1990er Jahre erinnert. Wir haben auch gesehen, wie die AKP polizei-staatliche Maßnahmen ergreift, um demokratisch gewählte kurdische PolitikerInnen einzuschüchtern und gemeinsam mit vielen Tausend AktivistInnen zu inhaftieren. Viele KurdInnen scheinen die Einladung nicht annehmen zu wollen, woraufhin autoritär-kemalistische Maßnahmen ein Revival erleben. Wie bewertest Du diese Entwicklungen, als ein Scheitern und einen Rückschritt?
Viele Leute sehen die derzeitige Politik der AKP in der kurdischen Frage als eine Verschiebung ihres Ansatzes, der – in ihren ersten Jahren – demokratischer und reform-orientierter war und eher dazu neigte, die kurdische Identität anzuerkennen. So betrachtet verfolgte die AKP einen libertären Ansatz, der durch das sogenannte »kurdische Öffnungsprojekt« versinnbildlicht wurde. Demzufolge tendierte sie zur Anerkennung der kurdischen Identität und war bereit, der kurdischen Bevölkerung einige Rechte und Freiheiten zu gewähren. Doch dann, so die verbreitete Auffassung, verließ sie diesen »mutigen und bahnbrechenden« Ansatz und übernahm die autoritäre Tradition des türkischen Staates, was sich in der derzeitigen Militarisierung manifestiert.
Meiner Ansicht nach ist es trotz der Kontinuitäten in den Taktiken und Methoden zur Unterdrückung der Kurdischen Bewegung irreleitend, die gegenwärtige »kurdische« Perspektive der AKP als eine simple Manifestation der traditionellen Mentalität des kemalistischen Staates anzusehen. Vor dem Hintergrund des beschriebenen radikalen ideologischen Wandels denke ich, dass der Einsatz militärischer Mittel durch die AKP einen qualitativ verschiedenen Charakter aufweist als zuvor.
Ich würde sogar argumentieren, dass es erhellender wäre, eine Kontinuität nicht zwischen dem kemalistischen Staat und der derzeitigen Politik der AKP zu suchen, sondern zwischen den scheinbar demokratischen Mitteln der AKP aus der Anfangsperiode und ihrem derzeitigen autoritären Gesicht. Noch konkreter heißt das: Das vor 4-5 Jahren initiierte Projekt der demokratischen Öffnung steht nicht im Widerspruch, sondern im Einklang mit den militärischen Methoden. Der Einsatz militärischer Mittel ist weniger eine Abweichung von der Anerkennungspolitik und der „demokratischen Öffnung“, sondern eine Ergänzung, vielmehr ein notwendig gewordenes Element ein und derselben »Öffnungspolitik«.
Es hört sich ziemlich bizarr und widersprüchlich an, weiterhin von einem Anerkennungs- und Öffnungsprojekt einer Partei zu reden, die wir als rechts und nationalistisch bezeichnen und die Tausende zivile kurdische AktivistInnen willkürlich verhaften lässt.
Der Nationalismus der AKP und ihre Stellung im rechten politischen Lager repräsentieren eine neuartige ideologische Position in der Türkei. Der Islamisch-Konservative Nationalismus und die daraus resultierende nationale Vision lassen die Anerkennung von KurdInnen als eine separate ethnische Gruppe und dementsprechend die Gewährung bestimmter kultureller Rechte zu. Zumindest auf der diskursiven oder propagandistischen Ebene kritisiert die AKP radikal die kemalistische Assimilations- und Leugnungspolitik und erkennt unverblümt die Anwesenheit des Kurdischen als separate ethnische Gruppe an. Das schlägt sich auch in bestimmten politischen Reformen nieder, wie die Eröffnung eines staatlichen kurdischen Fernsehsenders oder die Einführung von kurdischen Sprachkursen als Wahlfach an staatlichen Schulen. So etwas war unter der kemalistischen Hegemonie undenkbar.
Diese »bahn-brechenden« Maßnahmen haben der AKP zunächst einige Unterstützung aus der kurdischen Bevölkerung gebracht, die sie jetzt wieder zu verlieren scheint…
Ich möchte daran erinnern, dass die Anerkennung mit einer pauschalen Kritik des Kemalismus einhergeht. Die Undifferenziertheit dieser Kritik verbindet die religiösen Empfindungen einer sunnitisch-türkischen Bevölkerung mit kurdischen Forderungen nach Anerkennung. Ziel ist es, einen sunnitischen Block gegen die kemalistische Vergangenheit zu formen. Das heißt, indem sie die Anerkennung von KurdInnen in einen anti-kemalistischen Diskurs einbindet, versucht die AKP, eine Verbindung oder ein gemeinsames Motiv aufzubauen, um sowohl türkische als auch kurdische sunnitisch-religiöse Bevölkerungsgruppen in ihre Hegemonie einzugliedern. Das hat bis zu einem gewissen Punkt auch funktioniert, konnte allerdings den Einfluss der Kurdischen Bewegung auf lange Sicht nicht brechen. Entgegen den Erwartungen der AKP ging die Kurdische Bewegung sowohl aus den Kommunalwahlen 2009 als auch aus den Parlamentswahlen 2011 gestärkt hervor. Es sagt viel aus, dass Funktionäre der AKP die Mitglieder der BDP als die KemalistInnen der KurdInnen identifizieren![2]
Wie auch immer, die Reformen der AKP als unzulänglich oder irrelevant zu kritisieren, ist eine Sache. Doch kann niemand leugnen, dass diese Praktiken auf eine Verschiebung der Strategie im Umgang mit dem kurdischen Problem hindeuten. Dies zu leisten, war für die kemalistische Konzeption des türkischen Nationalismus und der türkischen Nation unmöglich.
Sind solche Versuche der Anerkennung tatsächlich so einmalig? Der aus dem rechten politischen Lager stammende damalige Ministerpräsident Süleyman Demirel beispielweise rief in den frühen 1990er Jahren auch schon zur Anerkennung der kurdischen Realität auf. Zur selben Zeit bildete die sozial-demokratische Partei SHP ein Wahlbündnis mit kurdischen PolitikerInnen.
Solche scheinbar »historischen« Schritte gingen nicht über sporadische Manöver in kritischen Phasen im Kampf zwischen der Kurdischen Bewegung und dem türkischen Staat hinaus. Sie wurden nicht zu einer konstitutiven Komponente einer Neubestimmung der Nation und des Nationalismus. Sie waren nicht Resultat eines Bestrebens zur radikalen Transformation der offiziellen Ideologie.
Was die AKP von anderen Parteien des rechten Lagers unterscheidet, ist ihr Bestreben, die offizielle Ideologie auf der Basis der Parteiideologie zu transformieren, und folglich die Lücke zwischen der Ideologie der Partei und des Staates zu verkleinern. Das ist der Punkt, warum die ideologische Transformation unter der AKP so wichtig für das Verständnis ihrer neuen Konzeption in Bezug auf die kurdische Frage ist.
Da Türkentum seine zentrale Bedeutung für die Konstruktion der Nation verliert, auf einen sekundären Status hinter die sunnitisch-islamischen Werte verwiesen wird, kann die AKP die kurdische Identität anerkennen; nicht als eine nationale Identität, aber als eine kulturelle Subgruppe der Nation, die entlang sunnitisch-islamischer Werte entworfen wird, die sowohl von TürkInnen als auch von KurdInnen geteilt werden. Die Verstetigung und Nachhaltigkeit des Islamisch-Konservativen Nationalismus ist sogar auf die Anerkennung der KurdInnen angewiesen. Im folgenden Sinne: Nur wenn die Mehrheit der KurdInnen sich dem Projekt anschließt - dank der verlockenden Anerkennung - kann dieser Entwurf einer Nation in der gesamten Türkei konsolidiert werden. Jede »separatistische« oder »nationalistische« Strömung mit einer Massenbasis unter den KurdInnen untergräbt die Überzeugungskraft und Vertrauenswürdigkeit des islamisch-konservativen Entwurfs. Insofern könnte das erneute Erstarken einer kurdisch-nationalen Identität auch wieder einen stärker reaktionären und ethnisch-basierten türkischen Nationalismus antreiben, eine implizite Gefahr für den Islamisch-Konservativen Nationalismus. Nachdem das »kurdische Öffnungsprojekt« den Einfluss der kurdischen Bewegung nicht brechen konnte, ist die AKP exakt mit diesem Problem konfrontiert.
Um es nochmal ganz deutlich zu sagen: Es handelt sich nicht um die Anerkennung von KurdInnen als eine Nation mit einem Recht auf Selbstbestimmung. Es ist die Anerkennung ihrer kulturellen und ethnischen Andersartigkeit. Insoweit widersprechen sich auch die Anerkennung der kurdischen Identität und das nationalistische Motto der AKP - »eine Nation, eine Fahne, ein Staat« - nicht. Denn, ich wiederhole es, Nation wird als eine sunnitisch-islamische Gemeinschaft aufgefasst, die verschiedene ethnische Subgruppen umfasst. Aus diesem Grund fügte Recep Tayyip Erdoğan bei verschiedenen Anlässen ein weiteres Element an: »eine Religion«. Eine Religion garantiert »eine Nation, die verschiedene ethnische Identitäten umfasst«, und macht die Anerkennung des Kurdischen als kulturelle Ethnie somit unproblematisch.
Der Erfolg der islamisch-konservativen Lösung der kurdischen Frage, die Integration der KurdInnen in die Nation der AKP, kann also nur dann zufriedenstellend erreicht werden, wenn der Einfluss der Kurdischen Bewegung eingedämmt wird?
Ja, da eine starke Kurdische Bewegung in der Region die ideologische Durchdringung der kurdischen Bevölkerung durch die AKP beeinträchtigt.
Zwei historische Merkmale der Kurdischen Bewegung stellen eine große Herausforderung für das kurdische Projekt der AKP dar. Die Kurdische Bewegung verfügt über eine säkulare und linke Orientierung, die insbesondere der kurdischen Jugend eine säkulare Weltanschauung und eine säkulare Auffassung des Kurdischen verleiht. Das begrenzt den Einfluss des Islam. Und die Kurdische Bewegung entwirft das Kurdentum nicht bloß als eine Ethnie, sondern als eine Nation mit bestimmten Interessen und Rechten, ein Anspruch, der mit der Anerkennung von KurdInnen als ethnische Variante kollidiert.
Heute stehen sich zwei unversöhnliche Konzeptionen des Kurdischen wie auch der Nation gegenüber. Die AKP strebt nach einer Nation, die KurdInnen und TürkInnen als verschiedene ethnische Gruppen einschließt. Hier kann das Kurdische keine politische Aktionskategorie sein, sondern muss eine folkloristische Komponente der Nation bleiben. Für die Kurdische Bewegung ist es dagegen klar, dass das Kurdische eine politische und nationale Kategorie ist. Deshalb denke ich, dass eine starke Kurdische Bewegung und die AKP, mit einer solch ehrgeizigen Agenda, nicht friedvoll nebeneinander existieren können. Die gewaltsame Beseitigung der Kurdischen Bewegung erscheint der AKP als einziger Weg, ihr hegemoniales Projekt erfolgreich umzusetzen.
Die Fortdauer des Konflikts in der Region ist heute die ernsthafteste Krisendynamik, die die Überzeugungskraft des Islamisch-Konservativen Nationalismus in der gesamten Türkei in Frage stellt. Zu diesem Zeitpunkt ist es sehr naheliegend, dass die AKP ideologische Schwäche durch mehr Autoritarismus in der gesamten Türkei kompensieren wird.
Eine klare Schlussfolgerung aus deiner Analyse ist demzufolge, dass unter den gegebenen Kräfteverhältnissen die Aussicht auf eine politische und friedliche Lösung des Konflikts innerhalb der Grenzen der Türkei rapide dahin schwindet. Vielmehr, durch die kompromisslose Haltung der regierenden Partei und die endlosen gewalttätigen Angriffe auf KurdInnen in vielen Teilen des Landes wird die Spaltung in TürkInnen und KurdInnen ja unvermeidbar gemacht, oder?
Trotz der zunehmenden Militarisierung des Konflikts und der Polarisierung zwischen KurdInnen und TürkInnen denke ich, dass wir als SozialistInnen weiterhin auf der Idee eines freien und gleichen Landes bestehen sollten, das KurdInnen und TürkInnen wie auch alle anderen Gruppen als gleiche BürgerInnen anerkennt. Kurdische wie türkische SozialistInnen haben meiner Meinung nach eine historische Verantwortung, eine Alternative zum Islamisch-Konservativen Nationalismus zu entwickeln und sich für diese einzusetzen. Solch eine überfällige und dem Anschein nach obsolete Aufgabe ist zum jetzigen Zeitpunkt mehr denn je notwendig. Dass das unrealistisch klingt, liegt daran, dass die türkische Linke schwächer denn je in ihrer gesamten Geschichte ist, über unzureichend Stärke verfügt, um einen nennenswerten ideologischen und politischen Einfluss auf die türkische Gesellschaft auszuüben. Ganz zu schweigen von einem Anspruch auf politische Macht.
Die Kurdische Bewegung ist hingegen mächtig genug, um ihre eigene politische Vision und ihr Projekt im Nahen Osten zu behaupten. Da eine solche Stärke aber nicht für die sozialistische Linke gilt, entsteht eine Situation, die die Entwicklung einer landesweiten sozialistischen Alternative für kurdische und türkische ArbeiterInnen hemmt. Das erklärt auch teilweise das Schwanken der Kurdischen Bewegung zwischen einer unabhängigen nationalen Bewegung im Nahen Osten mit eigener Agenda und einer auf die Türkei bezogenen linken Dynamik, die zur emanzipatorischen Transformation der Türkei beitragen könnte.
Cenk Saraçoğlu ist Sozialwissenschaftler und arbeitet an der Başkent Universität in Ankara. Er ist Redaktionsmitglied der türkischen Zeitschrift für Sozialwissenschaften Praksis. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Migration, Nationalismus, urbane Transformation und ethnische Beziehungen mit besonderem Fokus auf die Türkei.




[1] Cihan Tuğal: Passive Revolution. Absorbing the Islamic Challenge to Capitalism, 2009. Siehe auch Rezension in diesem Infobrief.
[2] Der Vorwurf des Kemalismus an die Partei für Frieden und Demokratie BDP, deren Basis hauptsächlich von der kurdischen Bevölkerung gebildet wird, impliziert u.a. Elitismus, Laizismus, Autoritarismus.