Rezension von Cihan
Tuğals Studie über den Wandel des politischen Islam in der Türkei von einer
anti-säkularen, anti-westlichen und anti-kapitalistischen Bewegung zu einem
stabilisierenden und vitalisierenden Element säkularer Ordnung mit
pro-westlicher und neoliberaler Politik.
In den 1990er Jahren stand das politische System der Türkei vor einer islamistischen Herausforderung. Säkulare Kräfte bekämpften den wachsenden Einfluss von Islamisten auf die im Zuge neoliberaler Politik verarmten und in informelle Beschäftigungsformen gedrängten Bevölkerungsschichten. Ökonomische Krisen und Korruptionsskandale erschütterten die Glaubwürdigkeit etablierter Parteien. Versuche, unter Ausschluss des politischen Islam langfristig regierungsfähige Koalitionen zu schmieden, scheiterten. Erst mit der Bildung der Gerechtigkeits‑ und Entwicklungspartei AKP gelang eine politische Stabilisierung und die islamistische Mobilisierung nahm ein Ende. Erstaunlich, denn – so der Soziologe Cihan Tuğal – unter der seit 2002 regierenden AKP erreichten »Arbeitslosigkeit und Armut neue Ausmaße« (7), während informelle Beschäftigungsformen zunahmen. Die von »islamistischen Aktivisten wie auch rigiden Säkularisten angenommene Kontinuität von der islamistischen Partei zur AKP« (7) stelle sich überdies bei näherer Betrachtung als Bruch dar. Weshalb sie dennoch die Zustimmung der Subalternen für die Fortführung der unpopulären Politik erhielt und einen islamistischen Appeal bewahrte, ist Ausgangsfrage seiner Untersuchung.
Die in einem Randbezirk Istanbuls durchgeführte ethnographische Studie zeichnet den Wandel der anti-säkularen, anti-westlichen und anti-kapitalistischen islamistischen Bewegung zu einem stabilisierenden und vitalisierenden Element säkularer Ordnung mit prowestlicher und neoliberaler Politik nach. Zwei Feldforschungsphasen im Abstand von vier Jahren, bei denen Tuğal am Alltagsleben der Subalternen teilnahm, bilden die empirische Grundlage für die Rekonstruktion von Prozessen, die zu diesem Wandel führten. In Anlehnung an Antonio Gramscis Konzept der passiven Revolution entwickelt der Autor einen hegemonie-theoretischen Rahmen, ergänzt durch Theorien des Alltags, des Raums und der Autorität.
Als Ausgangslage konstatiert Tuğal eine nach dem Militärputsch 1980 einsetzende
umfassende Krise der »säkularen Hegemonie«, die auf »einem spezifischen
Parteien-System, der Etablierung bürokratischer Autorität, der Konstruktion
einer türkischen Nation, der Säkularisierung des Islam, der Kreation einer
urbanen Identität und der Entwicklung von Korporatismus« (36) beruhte. Aus
Erzählungen von Bewohnern des Bezirks rekonstruiert er, wie die Krise dieser
Elemente im alltäglichen Zusammenleben erfahren wurde und islamistische
Mobilisierung sich als Antwort entfalten konnte. Durch enorme Migration aus
allen Landesteilen, informelle Besiedlung und Arbeitsformen gekennzeichnet, sei
ein viel beachteter Gegenentwurf zum existierenden Staat entstanden. Islamistische
Assoziationen und Netzwerke begannen, das Leben zu regulieren, entwarfen
alternative Visionen, Lebensstile, Räume und ökonomische Beziehungen. Mit dem
strategischen Konzept der »integralen Religion«, einem allumfassenden Islam, versuchten
radikale Islamisten, die die Legitimität des Nationalstaates und die Autorität
der islamistischen Partei ablehnten, die zivilgesellschaftliche Transformation
mit einer politischen – »Konstruktion alternativer Autoritätsmuster und
politischer Führung« (60) – zu verknüpfen. Die islamistische Wohlfahrtspartei habe
indessen in ihrer Funktion als Kommunalregierung »Doppelmacht« institutionalisiert
– »eine Situation, in der Keime eines zweiten Staats neben dem bestehenden
gelegt wurden« (14). Tuğal legt dar, wie die Partei als Schnittstelle und
Puffer zwischen säkularem System und radikalen Islamisten fungierte, indem sie
einerseits innerhalb der Grenzen des Systems operierte, andererseits im Sog der
Radikalen die schrittweise Islamisierung aller Lebensbereiche mit vollzog, bis
schließlich 1997 das Militär die aufkeimende neue Gesellschaft gewaltsam zerschlug.
Die anschließende mehrjährige Phase der Repression, in der auch die Partei verboten
wurde, sei durch Frustration und Desorientierung unter den Aktivisten geprägt,
während die Bewohner zwar gegen Staat und neoliberale Politik protestierten,
politisch jedoch führungslos geworden waren. Eine überraschende Kehrtwende habe
die Phase der Konfusion mit der Bildung der AKP genommen. Anhand von detaillierten
Schilderungen des Alltagslebens und Interviews rekonstruiert Tuğal, wie es
gelang, radikale Islamisten, ihre Diskurse und Praktiken in die AKP zu
integrieren und dadurch kapitalistische Markt‑ und Arbeitsbeziehungen –
begünstigt durch eine ökonomische Aufschwungphase – unter den Subalternen zu naturalisieren.
Obwohl die Integrierten auf die staatstreue, konservativ-neoliberale Linie der
AKP, identisch mit der des anatolischen Unternehmerverbands, eingeschwenkt waren,
hielt sich in der Bevölkerung der Glaube an ihren Radikalismus. Diesen Vorgang
bezeichnet Tuğal als Rekonstitution von Hegemonie durch »Absorption einer
radikalen Herausforderung des Systems« (5), als passive Revolution. Zwei Entwicklungen gefährdeten den Fortgang: Erstens
werde mit der Rekonstitution des Nationalismus durch die AKP die kurzfristig
aufscheinende Überwindung der türkisch-kurdischen Spaltung durch Vereinigung in
einer islamischen Gemeinschaft hinfällig; zweitens nutzten neue Radikale die
Gestaltungsräume, um die »integrale Religion« wiederherzustellen.
* Gekürzte Rezension, die zuerst in PERIPHERIE - Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt
(Nr. 118/119) erschien.