Montag, 30. April 2012

Die kurdische Proletarisierung


Von Murat Çakır
Nationale und soziale Frage bedingen einander nicht von allein. Kurdische Identität und damit verbundene Rechte in einem breiten Bündnis zu politisieren, zwingt zur Zusammenarbeit mit Kräften, deren Interesse nicht unbedingt die Politisierung der sozialen Frage ist. Derweil ist kurdische Armut durch Binnenmigration und Proletarisierung geographisch entgrenzt. Somit steht die kurdische Bewegung vor komplexen Aufgaben.

Der in Muş geborene Mehmet Yalçın war 31 Jahre alt, als er am 25. Februar 2011 in seinem Dorf elendig starb. Zuerst dachten die Ärzte, Mehmet leide an Tuberkulose. Doch es handelte sich um eine chronische Pneumokoniose, Silikose. Viel zu lange hatte er Staub eingeatmet – drei Jahre lang beim Bleichen von Jeans in einem der dunklen Hinterhofateliers in Istanbul-Güngören. Als Niedriglöhner und ohne Sozialversicherung.
Mehmet ist kein Einzelfall. Er gehörte zu den rund 600 an Silikose erkrankten kurdischen TextilarbeiterInnen, von denen in den letzten 5 Jahren über 50 starben. Mehmet war Nummer 49. Er starb just an dem Tag, an dem eine befristete Gesetzesänderung in Kraft trat, die für an Silikose erkrankte ArbeiterInnen auf Antrag eine monatliche Zahlung vorsah. Die Betroffenen hatten bis zum 24. Mai 2011 Zeit, ihren Antrag zu stellen. Abgeordnete der prokurdischen BDP hatten diese Gesetzesänderung initiiert. Für Mehmet kam sie zu spät.
Die Tragödie der kurdischen Niedriglöhner ist das Ergebnis einer unsäglichen Entwicklung in der Türkei, in deren Folge die kurdische Frage zu einem Synonym für Armut, Proletarisierung und Hunger geworden ist. Im Zuge des seit über 30 Jahren andauernden Krieges und des autoritären Neoliberalismus der AKP-Regierung haben sich in der Türkei die Klassengegensätze verschärft und eine Ethnisierung der sozialen Frage hervorgebracht.
»Die Armut ist kurdisch«
Zahlreiche Studien bestätigen diese Entwicklung. Das Zentrum für wirtschaftliche und gesellschaftliche Studien (BETAM) der Bahçeşehir Universität führte 2011 eine Untersuchung über die »Positionierung auf dem Arbeitsmarkt anhand muttersprachlicher Unterschiede« durch und stellte eine besondere Prekarisierung von KurdInnen fest [1]. Laut dieser Studie liegt der Anteil von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit kurdischer Muttersprache bei knapp 38 Prozent. 66,3 Prozent von ihnen sind prekär Beschäftigte. Bei Personen mit türkischer Muttersprache liegt der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bei 57 Prozent. Der Leiter der Studie, Prof. Dr. Seyfettin Gürsel, zieht das Fazit: »Die Armut ist kurdisch«. Wichtigste Ursache dieser Entwicklung ist die Binnenmigration der unqualifizierten Billigstkräften. Auch aus den offiziellen Statistiken kann das herausgelesen werden. Während die staatliche Statistikbehörde TUIK für das Jahr 2009 eine landesweite Arbeitslosenquote von 14 Prozent feststellt [2], bescheinigt sie den von der Binnenmigration besonders betroffenen Städten eine doppelt so hohe Quote: so z.B. Adana 26,5 Prozent. Die offiziellen Zahlen sind auch in den kurdischen Städten besonders hoch: so z.B. Diyarbakır 20,6 Prozent oder Hakkâri 19,7 Prozent.
Staatliche Armutsuntersuchungen belegen, dass sich zwischen den Regionen der Türkei immense Unterschiede verfestigt haben – laut einer Studie der staatlichen Planungsorganisation DPT zwischen der am weitesten entwickelten Region (Istanbul) und der am wenigsten entwickelten Region (Muş) am Beispiel des Arbeitsmarktes wie folgt [3]:
Beschäftigte in Prozent

Landwirtschaft
Industrie
Handel
Istanbul
8,13
32,15
18,73
Muş
84,00
1,56
1,86
Zwar wird in der DPT-Studie in den wenig entwickelten Regionen von hoher Beschäftigung in der Landwirtschaft gesprochen, aber eine andere Zahl macht deutlich, dass die Situation in den ländlichen Gebieten keinen Deut besser ist. So z.B. in Diyarbakır: Der Anteil von landlosen bzw. kleinste Flächen besitzenden Familien liegt bei 42 Prozent. Sie besitzen rund 4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen. Dem gegenüber kontrolliert eine Minderheit von 3 Prozent mehr als 41 Prozent der Nutzflächen. Ähnliche Zahlen sind auch aus Şanlıurfa bekannt: Während die Landlosen 26,4 Prozent und Familien mit Kleinbesitz rund 72 Prozent ausmachen, verfügt eine Minderheit von 1,5 Prozent über mehr als 30 Prozent der Nutzflächen. Zudem können Bauern auf rund 13.600 Hektar eigener Fläche keine Landwirtschaft betreiben, da diese Flächen vermint sind.
Auch in den Bereichen Bildung, Mobilität und Gesundheit existieren erhebliche Unterschiede: Während die Analphabetenquote in Istanbul mit knapp 7 Prozent angegeben wird, liegt diese Quote in Muş bei 29,5 Prozent. In Istanbul sind pro zehntausend EinwohnerInnen 20,58 Ärzte tätig, in Muş gerade mal 2,76. Die Zahl von Krankenhausbetten pro zehntausend EinwohnerInnen liegt in Istanbul bei 34,14, in Muş bei 7,94. In Istanbul wurden pro zehntausend EinwohnerInnen 1.000, in Muş 71 PKWs zugelassen.
Diese Unterschiede werden auch innerhalb der Regionen festgestellt. Insbesondere in den von der Binnenmigration betroffenen Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Adana und Mersin verschärfen sich die Ungleichheiten zwischen den Stadtteilen. Städtische Vororte und Slums werden zunehmend von kurdischen BinnenmigrantInnen bevölkert, die sich als Tagelöhner und unqualifizierte Billigstkräfte anbieten müssen.
Eine weitere Studie macht deutlich, dass Armut in der Türkei mittlerweile vorwiegend Kurdisch ist: In der Studie des renommierten Forschungsinstituts KONDA [4] wird festgestellt, dass von den KurdInnen, die über 15 Jahre alt sind, nur 39 Prozent einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung der Türkei liegt die kurdische Arbeitslosigkeit bei 29,6 Prozent. 27 Prozent der KurdInnen sind von den sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen. Von dieser Situation sind besonders kurdische Frauen betroffen. Der Ökonom Mustafa Sönmez weist darauf hin, dass in den kurdischen Gebieten rund 6,5 Millionen Frauen leben (2008) und 4,1 Millionen von ihnen über 15 Jahre alt sind. Allerdings liegt die Frauenbeschäftigung in den kurdischen Städten bei nur rund 3 Prozent.
Die staatlich anerkannte Bedürftigkeit ist bei KurdInnen überdurchschnittlich hoch. Laut Gesetz können Personen, die nachweisen, dass sie über ein Einkommen von höchstens einem Drittel des gesetzlichen Mindestlohns (rund 265 Euro in 2012) verfügen, auf Antrag die »Grüne Karte für kostenlose Gesundheitsversorgung« erhalten. Die Zahl der »Grüne-Karte«-InhaberInnen lag 2011 bei 9,5 Millionen – 46 Prozent von ihnen lebten in den kurdischen Gebieten.
In der KONDA-Studie, die auf TUIK-Zahlen basiert, wird ausgehend vom Familieneinkommen festgestellt, dass 23,4 Prozent der KurdInnen über ein monatliches Einkommen von 64 Lira oder weniger (1 Dollar oder weniger pro Tag) und 29,4 Prozent über ein monatliches Einkommen zwischen 65 und 138 Lira (2,15 Dollar pro Tag) verfügen. Ausgehend vom durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen lebten somit 23 Prozent der KurdInnen unterhalb der Hungergrenze und 53 Prozent unterhalb der Armutsgrenze. Laut KONDA sind KurdInnen die ärmste und unter schwierigsten materiellen Bedingungen lebende Bevölkerungsgruppe der Türkei. Dies gilt jedoch nicht nur für die kurdischen Gebiete. Zwar ist laut TUIK-Angaben der Anteil von armen Familien in den kurdischen Gebieten von 13,7 Prozent (2009) auf 11,5 Prozent (2010) zurückgegangen. Zugleich hat er sich in der östlichen Mittelmeerregion von 11,8 Prozent (2009) auf 12,6 Prozent (2010) erhöht. Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. İzzettin Önder interpretiert dies folgendermaßen: »Diese Zahlen, wenn sie denn zutreffen, belegen nicht einen Rückgang der kurdischen Armut, sondern dessen Verschiebung durch die Binnenmigration in die westlichen Regionen«. Laut KONDA wohnen 22,3 Prozent der in Istanbul lebenden KurdInnen in einem Slumgebiet der Stadt. In der östlichen Mittelmeerregion, z.B. in Mersin und Antalya, sind es dagegen 72 Prozent, in Izmir 59,3 Prozent.
Die soziale Frage und die kurdische Bewegung
Die forcierte Binnenmigration und die kurdische Proletarisierung, vor allem im informellen Sektor, haben nach 2000 dazu geführt, dass die kurdische Bewegung eine städtische Bewegung wurde, deren soziale Basis hochpolitisierte Prekäre, Niedriglöhner und Frauen sind. Die durch den Krieg, durch Zwangsumsiedlungen und massive Umstrukturierungen in der Landwirtschaft ausgelöste Binnenmigration steht auch mit den kommunalen Wahlerfolgen der prokurdischen BDP und ihrem Einzug ins türkische Parlament in engem Zusammenhang.
Diese Entwicklung bringt die kurdische Bewegung in ein Dilemma. Zum einen muss sie auf die soziale Frage reagieren, zum anderen Bündnisse für die parlamentarische Arbeit schmieden. In den kurdischen Gebieten konnten breitere Bündnisse, da eine gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnenbewegung fehlt, bislang nur über die nationale Frage begründet werden. So änderten sich die politischen Prioritäten: Während die kurdische Bewegung sich lange Jahre gegen die feudalen Großgrundbesitzer positionierte, verkümmerte die Forderung nach einer Landreform zu einer programmatischen Floskel im Programm der BDP. Obwohl Teile der kurdischen Bewegung antikapitalistische Positionen vertreten und im Westen des Landes weiterhin der Schulterschluss mit türkischen Linken gesucht wird, findet die nationale Frage innerhalb der BDP zunehmend mehr Beachtung.
Die Polarisierung der Gesellschaft entlang sozialer, ethnischer und religiöser Spaltungen, die besonderen Bedingungen in den kurdischen Gebieten und gesetzliche Hindernisse wie die 10-Prozent-Hürde für die parlamentarische Vertretung erfordern ein pragmatisches Vorgehen der BDP. Sie ist die einzige legale, im Parlament vertretene und kommunal stark verankerte prokurdische Partei – eine ebenso vielfältige wie prekäre Koalition unterschiedlicher kurdischer Kräfte. Der Kitt, der diese Koalition zusammenhält, ist der gemeinsame Bezug auf eine kurdische Identität. Das heißt nicht, dass die BDP die soziale Frage ignoriert. Es gibt bemerkenswerte Bemühungen, besonders in den von der BDP geführten Kommunalverwaltungen, chronische Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen. Ohne die vielen NGOs und sozialen Hilfseinrichtungen wäre die Situation in den kurdischen Städten um ein vielfaches schlimmer.
In der Tarifpolitik verhalten sich die BDP-Kommunen beispielhaft für die Türkei. So hat z.B. die Stadt Diyarbakır mit der Gewerkschaft Genel-İş (Dachverband DİSK) einen Tarifvertrag für kommunale Angestellte und ArbeiterInnen geschlossen, die vor Symbolik strotzt. Für 960 Angestellte und ArbeiterInnen sind der 1. Mai und das kurdische Newroz-Fest offizielle Urlaubstage. Zudem haben beschäftigte Frauen am 8. März und 25. November jeweils einen zusätzlichen bezahlten Urlaubstag. Auch die kommunal Beschäftigten zeigen Flagge für gesellschaftliche Solidarität: Sie spenden aus ihren Löhnen monatlich 15 Lira (etwas mehr als 7 Euro) an den Sarmaşık-Verein, der aus diesen Beiträgen Lebensmittel kauft und kostenlos an bedürftige Familien verteilt.
Doch reicht diese Symbolpolitik aus, um angemessen auf die kurdische Proletarisierung zu reagieren? Haben die Erfahrungen der »nationalen Befreiungsbewegungen« des letzten Jahrhunderts nicht gelehrt, dass die Fokussierung auf die nationale Frage kaum zu einer Lösung der sozialen Frage führen kann? Die kurdische Bewegung steht vor der gewaltigen Herausforderung, die nationale Frage – die sich in der Türkei in der Forderung nach Anerkennung der kurdischen Identität erschöpft – und die soziale Frage mit einer ökologisch-feministisch-emanzipatorischen Perspektive zu verbinden. Eine solche Verbindung befreit aus dem engen Korsett des Regionalpartei-Profils, wodurch die Forderungen nach demokratischer Autonomie und Anerkennung der kurdischen Identität die notwendige Kraft für historische Veränderungen im Land entfalten können. Wenngleich dies den Kitt in der BDP brüchig werden ließe und Bündnisse mit bürgerlichen, feudalen und islamischen Kräften in den kurdischen Gebieten erschweren würde, machen der alltägliche Hunger, die Armut, Ausgegrenztheit und Entrechtung großer Teile der kurdischen Bevölkerung eine konsequente Parteinahme zugunsten der Schwächsten notwendig.
Die toten »Silikose-Arbeiter« mahnen: Die dringlichste Aufgabe der kurdischen Bewegung besteht darin, ihre Politik entsprechend der unzertrennbaren Einheit von politischen Freiheiten und sozialen Rechten auszurichten. Ohne das Selbstbestimmungsrecht in Abrede stellen zu wollen: Die sozialen Rechte, die notwendige Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der kurdischen Bevölkerung dürfen einer wie auch immer gearteten Nationalstaatswerdung nicht geopfert werden.
[2] Siehe offizielle Website der TUIK: http://www.tuik.gov.tr/PreTablo.do?tb_id=25&ust_id=8
[4] Siehe Bericht der Tageszeitung Radikal: http://www.radikal.com.tr/Radikal.aspx?aType=RadikalDetayV3&CategoryID=77&ArticleID=1031209 und die offizielle Website von KONDA: http://www.konda.com.tr/tr/raporlar.php (Die Studie kann auf Anforderung heruntergeladen werden).