Von İsmail D. Karatepe
Eingeführt infolge des Militärputsches von
1980 hatte der Hochschulrat YÖK vor allem zwei Funktionen: den Hochschulen
ihren Charakter als Orte gesellschaftlichen Widerstandes zu nehmen und über
zentralistische Kaderpolitik Kontinuität in die Hochschulpolitik zu bringen.
Gegen beides kämpfen Studierende noch heute und sind dabei zunehmender
Kriminalisierung durch die AKP-Regierung ausgesetzt, die nicht daran denkt, den
YÖK aufzugeben.
In
den vergangenen 20 Jahren haben sich die dominanten Akteure an den türkischen
Hochschulen rapide gewandelt. Die in den 1990er Jahren im Umfeld des
Hochschulrats YÖK als »Kemalisten« bekannten Kader sind nach den Wahlsiegen der
AKP durch Kader, die ihrer ideologischen Linie nahestehen, ersetzt worden.
Einstmals wichtige und die Hochschulpolitik bestimmende Personen wie der ehemalige
Rektor der Istanbul Universität Kemal Alemdaroğlu verloren ihre Ämter. Die
Neubesetzung von Ämtern ist allerdings nicht mit einem grundsätzlichen Wandel
in der Hochschulpolitik verbunden. Die neoliberale Transformation der
Hochschulen wurde unter der AKP allenfalls beschleunigt. Die seit den 1990ern
ununterbrochen anhaltende Vermarktlichung und die sie begleitenden
anti-demokratischen Maßnahmen stoßen seither auf den Widerstand und den Protest
der Studierendenbewegung.
Transformation
der Hochschulen
Das Jahr
1980 markiert einen radikalen Wandel in der Hochschulpolitik der Türkei. Der
Militärputsch am 12. September 1980 hat erhebliche Veränderungen in der
Eingliederung der Universitäten in das politische System und in die
Wirtschaftspolitik erwirkt. Der von Uniformträgern initiierte Wandel hat die
wissenschaftliche Autonomie in großem Maße zerstört. Die militärische
Bürokratie hat die Verwaltung der Hochschulen am 6. November 1983 an zivile
Machthaber übergeben, die der Junta nahe standen. Unter dem Dach des
Hochschulrats YÖK (Abk. von Yüksek Öğretim Kurulu) versammelt, wachen vom
Staatspräsidenten ernannte Bürokraten seitdem über die Hochschulen in der
Türkei.
Die
Debatten über die Hochschulen drehen sich sowohl um ihre Funktionsweise als
auch um ihr Verhältnis zur Autonomie von Forschung und Lehre. In die Debatten
über die Restrukturierung der Hochschulen in der Türkei waren jedoch nicht nur
der Hochschulrat und die Regierungen involviert. Insbesondere TÜSIAD (Verband
der Industriellen und Unternehmer der Türkei) aber auch andere
Unternehmerorganisationen haben sich aktiv in die Auseinandersetzung
eingebracht und eine bestimmende Rolle gespielt. Eine knappe Betrachtung des
Beitrags, den TÜSIAD zu den Debatten über den Wandel der Hochschulen geleistet
hat, ist hilfreich, um den aktuellen Status der Hochschulen und darüberhinaus
die ideologischen Grundlagen zu verstehen, mit denen der Wandel legitimiert
wurde.
Während
der Militärputsch den institutionellen Rahmen für den Wandel schuf, formuliert
der 1994 für TÜSIAD angefertigte Bericht »Hochschule, Wissenschaft und
Technologie in der Türkei und der Welt« die inhaltliche Stoßrichtung des
angestrebten Wandels der Hochschulen. Der Bericht wurde zu einer bestimmenden
Referenzquelle für spätere Berichte. Er definiert das bestehende
Hochschulsystem als eine »an die staatliche Autorität angelehnte bürokratische
Konstruktion« und als Hort einer »akademischen Oligarchie« und stellt ihm das
Modell einer stärker marktkonformen Hochschule entgegen. TÜSIAD veröffentlichte
nach diesem Bericht viele weitere Berichte und organisierte zahlreiche Seminare
und Sitzungen zur marktkonformen Hochschule.
Kemal
Gürüz, der Leiter des Teams, das den Bericht für TÜSIAD verfasst hat, wurde
1995 zum Vorsitzenden von YÖK ernannt und führte dieses Amt bis in die
Regierungszeit der AKP hinein fort. Die von TÜSIAD vorgeschlagene Linie wurde
unmittelbar zur Politik von YÖK. Seine Nachfolger im Amt verfolgten die Linie
unhinterfragt weiter. Zuletzt hat der Hochschulrat
im Juli 2006 einen Bericht mit dem Titel »Die Hochschulstrategie der Türkei«
veröffentlicht. Die inhaltliche Übereinstimmung zum 1994er Bericht ist
frappierend. Neben der neoliberalen Kritik an verkrusteten bürokratischen
Strukturen werden Normen wie Hochschulautonomie, Vermarktlichung oder
Leistungsfähigkeit zu Maßstäben erhoben.
Für
die dominanten Klassen in der Türkei, vertreten durch ihre Verbände, ist der
neoliberale Wandel zu einer Notwendigkeit geworden. Sowohl während der
Herrschaft der »Kemalisten« als auch der »Islamisten« waren sie die treibende
Kraft für ein marktkonformes Hochschulmodell. Unterschiedliche oder gar als
einander feindlich gesinnt definierte politische Kräfte (die Kemalisten versus die Islamisten) haben
gleichermaßen das Projekt eines marktkonformen Hochschulmodells akzeptiert.
Zugleich sorgt das Projekt sorgt für eine fortgesetzt volle Tagesordnung der
Studierendenbewegung. Der anti-demokratische Aufbau des YÖK und seine Maßnahmen
bewirkten eine permanente Spannung zwischen dem YÖK-System und den Forderungen
nach mehr Demokratie und Autonomie der Studierenden. Die alljährlichen
Jubiläumsfeiern zur Gründung des YÖK waren Anlass für landesweite
Protestkundgebungen, bei denen hunderte Studierende zusammenkamen.
Die
Studierendenbewegung, die 1990er, die Islamisten…
In
der Türkei sind verschiedene Regierungen und Projekte mit der Opposition der
Studierendenbewegung konfrontiert gewesen. Dabei hat die Bewegung der AKP
zweifellos am meisten Kopfschmerzen bereitet. Bevor die AKP an die Regierung
gelangte, werteten islamistische Kräfte jede Initiative der Studierenden als
Protest gegen »die sich auf die kemalistische Staatsautorität stützende
Bürokratie« und gegen »die akademische Oligarchie«. Dies war gewissermaßen eine
naive und einseitige Wertung. Die Islamisten positionierten sich auch –
zumindest auf der diskursiven Ebene – gegen den Hochschulrat YÖK als ein
disziplinierendes Produkt des Militärregimes. Die führenden islamistischen
Medien hegten meistens Sympathien für die studentischen Proteste.
In
den 1990ern richtete sich die Studierendenbewegung nicht nur gegen unmittelbare
Erscheinungen des marktwirtschaftlichen Wandels wie die Erhöhung von
Studiengebühren, Privatisierung von Kantinen und Kommodifizierung von Wissen. Gleichzeitig
positionierte sie sich gegen die Träger dieser Politik und hinterfragte deren
ideologischen Standpunkt. Der neoliberale Wandel war in der Türkei mit über die
Maßen repressiven Mitteln durchgesetzt worden. Anti-demokratische Maßnahmen
waren an den Hochschulen ziemlich verbreitet. Die auf dem politischen Feld
autoritären und dem ökonomischen Feld liberale Politiken der als kemalistisch
geltenden Machthaber nach dem Putsch bildeten die Grundmotivation der
Studierendenbewegung. Zum Beispiel waren der Rektor Kemal Alemdaroğlu und seine
Stellvertreterin Nur Serter berüchtigt für ihre anti-demokratischen Maßnahmen
an der Hochschule und wurden häufig Gegenstand von Protesten der mehr
Demokratie fordernden Studierenden. In den Protesten gegen wichtige Figuren des
Kemalismus kamen somit zwei Anliegen der Studierendenbewegung zusammen, die
sich gegen Neoliberalismus und Autoritarismus richten. Da die islamistische
Bewegung und ihre Medien Neoliberalismus und Autoritarismus kurzerhand mit
»Kemalismus« gleichsetzten, interpretierten sie den Protest der
Studierendebewegung einseitig als Protest gegen »Kemalismus« und übersahen
geflissentlich die Kritik am neoliberalen Wandel.
Herrschaft
der AKP und die Studierendenbewegung
Doch
auch der Protest der islamistischen Bewegung gegen Autoritarismus richtete sich
nicht gegen Autoritarismus als solchen, sondern nur gegen dessen
Erscheinungsform im Kleide des Kemalismus. So haben die seit 2002 aufeinander
folgenden AKP-Regierungen nicht wie versprochen den anti-demokratischen Status
von YÖK verändert, der die Autonomie der Hochschulen beschneidet. Stattdessen
hat die AKP die Kader in den Schlüsselpositionen ausgetauscht. Während die als
Kemalisten bezeichneten Kader ersetzt wurden, wurden die Schlüsselpositionen in
der Regel mit Kadern oder Sympathisanten der islamistischen Bewegung besetzt.
Diese Kader haben nun die alte YÖK-Linie voll übernommen. Zum Beispiel haben
sie die (vor dem Machtantritt der AKP) auch von islamistischen Intellektuellen
viel kritisierten Disziplinarverordnungen der Hochschulen aus dem Jahr 1985
nicht verändert. Die existierenden Disziplinarverordnungen wurden mit der
Regierungsübernahme durch die AKP nicht nur gegen kemalistisch auftretende
Akteure, sondern auch gegen Opponenten der AKP angewandt.
Die
AKP hat den Neoliberalismus in der Türkei weiter vorangetrieben, so auch die
marktkonforme Transformation der Hochschulen. Die während der AKP-Periode
erneut aufgeflammte Studierendenbewegung hat wie auch die vorangegangenen
Generationen gegen diese Transformation protestiert. ›Wir widersetzen uns der
AKP‹ wurde ein populärer Slogan der Bewegung. Die als Protestmittel gegen die
AKP und ihre Bündnispartner symbolisch zum Einsatz gebrachten Eier wurden zum
Anlass, das Verhältnis zwischen Herrschaft und Gewalt in der Türkei zu
hinterfragen. Obwohl es nicht wie in den 1990ern gelang, große Massen zu
mobilisieren, war die Studierendenbewegung eines der lebendigsten und
schillerndsten Subjekte gesellschaftlicher Opposition. Mit ihren Protesten
konnte sie oftmals die öffentliche Aufmerksamkeit erregen.
Die
Haltung der AKP gegenüber diesen Protesten war sehr harsch. Heute sind an die
500 Studierende inhaftiert. Unter den Verhaftungsgründen befinden sich solche,
die das Strafrecht der Mussolini-Zeit in den Schatten stellen. Tausende
Studierende sind mit Disziplinarverfahren zur Entfernung von der Hochschule
konfrontiert, die aufgrund der Teilnahme an Protesten eingeleitet wurden. Die
kleinste Kundgebung von Studierenden, selbst der Protest gegen die
Privatisierung einer Kantine, kann zu einem Kriminalfall gemacht werden. Die
harsche Haltung der AKP gegenüber der Studierendenbewegung steht der Periode
militärischer Verwaltung nach 1980 in nichts nach. Es wird offenbar, dass die
sogenannte Normalisierung der Politik in der Türkei nicht für den politischen
Umgang mit der Studierendenbewegung gilt.
Wichtige
Figuren der AKP sowie islamistische Intellektuelle, die vor der
Regierungsübernahme durch die AKP noch Sympathien für die Studierendenbewegung
hegten, sind gegenwärtig damit befasst, letztere systematisch zu
kriminalisieren. Das Interessanteste hierbei ist, dass die islamistischen
Intellektuellen Proteste gegen die AKP als Machenschaften derer darstellen, die
angeblich das »bürokratisch-kemalistische Vormundschaftsregime« wollen. Mit
dieser Figur wird die massive Repression gegen die Studierenden gerechtfertigt,
Opfer werden zu Tätern gemacht.
Obwohl
die Studierendenbewegung kaum die mediale Präsenz erlangte wie diejenige aus
Chile, kann von konkreten Erfolgen gesprochen werden. Die hartnäckige und
militante Haltung gegen die Erhöhung von Studiengebühren stellt eine wichtige
Voraussetzung dafür dar, dass es bis heute zu keinen bedeutsamen Erhöhungen
gekommen ist. Die an vielen Hochschulen durchgeführten Proteste gegen die
Erhöhung von Preisen im öffentlichen Personennahverkehr sowie in Kantinen haben
von Zeit zu Zeit zur Rücknahme der Preiserhöhungen geführt. Manchmal
fokussierten die Kämpfe auf kostenlose Benutzung von Transportmitteln und gegen
die marktkonforme Transformation der Kantinen. Wie die Kolumnistin Pınar Öğünç
treffend bemerkte, haben die Studierenden aufgezeigt, dass »die Kantine niemals
nur die Kantine ist«[1]. Noch wichtiger ist, dass diese Proteste die
Hochschulen zu widerständigen Orten gegenüber der neoliberalen Transformation
machten.
[1] In ihrer Kolumne in der Tageszeitung Radikal vom 02.01.2012.