Von
Serdar Damar, Thomas Sablowski
Seit rund einem Jahr dauert ihr Kampf um
Wiedereinstellung an: Im westtürkischen Düzce hatten Arbeiter den Versuch unternommen,
sich gewerkschaftlich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Was als
Kampf um Lohnerhöhung begann, radikalisierte sich im Verlauf der Ereignisse.
Ein Ergebnis steht noch aus.
Seit
rund einem Jahr kämpfen die Beschäftigten der MAS-DAF AG für ihre
Wiedereinstellung. 120 Arbeiter campieren vor ihrem Betrieb in der anatolischen
Stadt Düzce. Zuvor marschierten einige ihrer KollegInnen als Delegationen
Hunderte Kilometer zu Fuß zur Unternehmenszentrale nach İstanbul und Ankara.
Sie waren gefeuert worden, nachdem sie sich gewerkschaftlich organisiert
hatten. Der Kampf um die gewerkschaftliche Organisierung bei MAS-DAF dauert nun
schon zwei Jahre. Die Arbeiter geben nicht auf, obwohl sie einen hohen Preis
für ihren Kampf bezahlen und obwohl sich in dieser Zeit auch die
Stadtverwaltung von Düzce, der Gouverneur der gleichnamigen Provinz, die
Gendarmerie, die Handelskammer und die Religionsbehörde als ihre Gegner
erwiesen.
Subventionen für das Kapital – Niedriglöhne für die Arbeiter
Die
Stadt Düzce, die in der westlichen Türkei auf halbem Weg zwischen dem
Industrie- und Finanzzentrum Istanbul und dem Verwaltungszentrum Ankara liegt,
wurde 1999 schwer von einem Erdbeben getroffen und weitgehend zerstört. Im Zuge
des Wiederaufbaus wurde in einer Sonderwirtschaftszone die Ansiedlung von
Unternehmen großzügig subventioniert: Die Unternehmen erhielten Grund und Boden
umsonst, bekamen Elektrizität zu verbilligten Preisen geliefert und kamen in
den Genuss von Steuervorteilen. Auch der Eigentümer des Pumpenherstellers
MAS-DAF, Özer Polatoğlu, nutzte die Gelegenheit, um 2006 in Düzce eine neue
Fabrik zu errichten. Inzwischen ist Düzce eine der am stärksten
industrialisierten Städte der Türkei. Die Erwerbsquote liegt deutlich über dem
nationalen Durchschnitt. Der Wohnungsbau hat mit dem Bevölkerungswachstum nicht
Schritt gehalten, so dass eine erhebliche Wohnungsnot herrscht.
MAS-DAF
ist nicht untypisch für die Industriestruktur in Düzce, die vor allem durch
kleine und mittlere Unternehmen der Metall verarbeitenden Industrie und der
Bekleidungsindustrie geprägt ist. Die Unternehmen zahlen häufig nur den Mindestlohn
von 638 türkischen Lira (ca. 300 Euro) pro Monat – zuweilen nicht einmal das.
In der Bekleidungsindustrie ist es üblich, dass Arbeiterinnen und Arbeiter offiziell
den Mindestlohn erhalten, aber dem Unternehmer unter der Hand wieder einen Teil
des Lohns zurückgeben müssen, wenn sie den Job behalten wollen. Auch bei
MAS-DAF erhielten viele Arbeiter, die schon seit Jahren dort beschäftigt waren,
nur den Mindestlohn. Nachdem es seit 2008 keine Lohnerhöhungen, aber erhebliche
Preissteigerungen gegeben hatte, wuchs der Unmut unter den ArbeiterInnen. Sie
beschwerten sich bei der Unternehmensleitung. »Wir hatten keine
Beschäftigungsgarantie, und unsere Löhne waren nicht angemessen«, so der
Arbeiter Ali Rıza Taşkıran gegenüber der Zeitung Evrensel[1]. Die
Werksleitung in Düzce erklärte den Arbeitern, dass der MAS-DAF-Vorstand in
Istanbul zwar vorhabe, demnächst eine Lohnerhöhung zu beschließen, dass diese
jedoch nicht besonders hoch ausfallen könne. Wenn die Arbeiter sich indes sechs
Monate gedulden würden, werde die Unternehmensleitung sie mit einer umso
größeren Lohnerhöhung belohnen. So wurde der Konflikt zunächst beigelegt, die
Beschäftigten nahmen das Angebot an. Nachdem sie sechs Monate gewartet hatten,
traten sie wieder vor das Management, das jedoch jegliches Versprechen
bestritt.
Nur kollektiv können die Arbeitsbedingungen verbessert werden
Aus
der Erkenntnis, nur in organisierter Form für die Verbesserung ihrer
Arbeitsbedingungen streiten zu können, traten daraufhin Anfang 2010 alle 120
Arbeiter der MAS-DAF AG in Düzce in die Vereinigte Metallgewerkschaft (Birleşik
Metal-İş) ein. Diese ist mit weiteren 16 Einzelgewerkschaften unterschiedlicher
Branchen Teil des Gewerkschaftsdachverbandes DISK (Konföderation der
Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei).
Unmittelbar
nach dem kollektiven Gewerkschaftseintritt schickte Birleşik Metal-İş die
Beitrittserklärungen an das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit –
eine Formalität, die in der Türkei notwendig ist, damit die Gewerkschaft auch
juristisch anerkannt wird. Das türkische Arbeitsgesetz errichtet hohe Hürden
für die gewerkschaftliche Organisierung: Eine Gewerkschaft ist nur dann
berechtigt, in einem Betrieb Tarifverhandlungen zu führen, wenn sie dort
mindestens 50 Prozent der Beschäftigten organisiert und zugleich landesweit
mindestens 10 Prozent der Beschäftigten der betreffenden Branche repräsentiert.
Das Ministerium bestätigte am 6. September 2010 die Zuständigkeit von Birleşik
Metal-İş. Doch die Unternehmensleitung der MAS-DAF AG legte formelle Beschwerde
ein und behauptete, Birleşik Metal-İş sei nicht zuständig, da MAS-DAF in einer
anderen Branche (Holzverarbeitung!) tätig sei. Der Eigentümer von MAS-DAF
machte damit deutlich, dass er nicht bereit war, das durch die Verfassung
gesicherte Recht der Arbeiter auf gewerkschaftliche Organisierung zu akzeptieren.
Vielmehr ging es darum, den Prozess so lange wie möglich aufzuschieben.
Kurz
danach wurden unter einem Vorwand 22 Arbeiter entlassen, die sich in der
betrieblichen Auseinandersetzung besonders hervorgetan hatten. Die übrige
Belegschaft zeigte sich solidarisch mit ihren Kollegen und organisierte
Proteste vor dem Betriebsgelände. Während der knapp vier Monate andauernden
Proteste erhielten manche Arbeiter von der Stadtverwaltung Ordnungsstrafen in
Höhe von 154 türkischen Lira (ca. 66 Euro) wegen angeblicher Blockade der
Bürgersteige. Außerdem wurden 16 Arbeiter verletzt, als ein MAS-DAF-Manager am
5. November 2010 mit seinem Auto in die Menge der Protestierenden hineinfuhr.
Zwar wurden die 22 Arbeiter nach diesem Vorfall wieder eingestellt, und es sah
zunächst so aus, als sei der Eigentümer verhandlungsbereit – was sich jedoch
schon bald wieder als Täuschung erwies.
Am
4. April 2011 wurde allen 120 organisierten Beschäftigten ohne Erklärung
gekündigt. Der Eigentümer nahm in Kauf, dass die Produktion des Unternehmens
damit vollständig zum Erliegen kam und er seine Facharbeiter mit langjähriger
Betriebserfahrung verlieren würde. Erhebliches fixes Kapital, das in modernen
CNC-Maschinen, Pressen usw. gebunden war, lag nun brach. Allerdings hatte das
Management die Beschäftigten in den Monaten zuvor angehalten, viele Überstunden
zu leisten und die Produktion zu steigern, so dass das Unternehmen bereits über
erhebliche Vorräte an fertigen Produkten verfügte. Als die Arbeiter von ihrer
Kündigung erfuhren, besetzten sie spontan die Fabrik. Das Management rief
daraufhin die Gendarmerie, die die Fabrik räumte und die BesetzerInnen
vorübergehend festnahm.
Seitdem
protestieren die Beschäftigten vor den Betriebstoren und fordern ihre
Wiedereinstellung. Um die Sympathie in der Bevölkerung für die Arbeiter von
MAS-DAF zu beeinflussen, wurde sogar beim Freitagsgebet vor dem 1. Mai 2011 in
allen Moscheen in Düzce eine Predigt gehalten, in der der Arbeitskampf als ein
Akt gegen die Religion dargestellt wurde. In der Erklärung, die von der
staatlichen Religionsbehörde abgesegnet worden war und von allen Imamen in den
verschiedenen Moscheen verlesen werden sollte, heißt es, dass »die
Verlangsamung der Arbeit, die Schädigung des Arbeitsplatzes und ein Verhalten
des arbeitenden Menschen, das den Profit verringert, religiös unverantwortlich
sind«.
Um
den Druck auf den Eigentümer von MAS-DAF zu erhöhen, marschierte eine
Delegation von 20 Arbeitern zu Fuß von Düzce zur Unternehmenszentrale im 220 km
entfernten İstanbul. Auf dem Weg nach İstanbul verteilten Gewerkschafter
Flugblätter und diskutierten mit den Passanten über ihr Anliegen. Sie berichten
über große Unterstützung in der Bevölkerung, z.B. wurden sie unterwegs von
AnwohnerInnen mit Essen und Trinken versorgt. Die MAS-DAF-Arbeiter
solidarisierten sich unterwegs mit den Beschäftigten des Unternehmens BEKAERT
in İzmit und denen des Elektronikunternehmens CASPER in İstanbul, die sich
ebenfalls im Arbeitskampf befanden. Nach neun Tagen Fußmarsch erreichten sie İstanbul
und schlugen vor der Zentrale der MAS-DAF AG ihre Zelte auf.
Schützt
das Recht die Beschäftigten?
Die
Arbeiter haben gute Chancen, in den anstehenden Kündigungsschutzprozessen
formal Recht zu bekommen. Doch die Regeln des Kündigungsschutzes schützen sie
nicht wirklich. Der Eigentümer von MAS-DAF muss die Arbeiter auch dann nicht
wieder einstellen, sollte das Gericht zu dem Schluss kommen, dass die
Kündigungen rechtswidrig waren: Er kann ihnen auch eine Abfindung zahlen, statt
sie wieder einzustellen. Für die Entlassenen dürfte es schwer werden, in ihrer
Heimatstadt, in der sie jetzt als GewerkschafterInnen bekannt sind, eine neue
Anstellung zu finden. Hinzu kommt, dass sie durch den Kampf viel Geld verloren
und Kreditkartenschulden aufgenommen haben und jetzt schon nicht wissen, wovon
sie leben sollen.
Der
in İstanbul ansässige Eigentümer von MAS-DAF ist nicht der einzige Unternehmer,
dem seine Beschäftigten und der Standort Düzce gleichgültig sind. Offenbar gibt
es eine Reihe von Unternehmern, die in Zukunft eher in Gebieten im Osten der
Türkei investieren wollen, in denen die Arbeitslosigkeit noch höher ist und
gewerkschaftliche Organisierung auf noch größere Schwierigkeiten stößt –
vorausgesetzt, der türkische Staat unterstützt diese Investitionen mit weiteren
Subventionen. Jedenfalls sagte der Vorsitzende der Industrie- und Handelskammer
von Düzce, Metin Büyük, schon im Jahr 2008: »Wir [in Düzce] sind nicht an neuen
Investitionsanreizen interessiert. Wir haben die Investitionen bekommen, die
wir brauchen. [...] Wir unterstützen Subventionen, aber sie sollten in die
östlichen Provinzen wie Erzurum oder Hakkari fließen«. Offenbar hoffen die
Herrschenden, durch Investitionen in den kurdischen Provinzen und die Schaffung
von Arbeitsplätzen nicht nur die Konflikte mit der kurdischen Bevölkerung zu
befrieden, sondern auch neue Märkte im Mittleren Osten und in Zentralasien zu
erschließen. Anders ist schwer erklärbar, warum der Vertreter einer lokalen
Industrie- und Handelskammer fordert, nicht in seiner eigenen, sondern in
anderen Regionen zu investieren.
Damit unsere Enkel einmal unter besseren Bedingungen leben können
Der
unter schwierigen Bedingungen geführte Arbeitskampf der MAS-DAF-Beschäftigten
hat sich in mancher Hinsicht bereits gelohnt. Durch ihre Beharrlichkeit ist es
ihnen gelungen, in den Medien ein positives Echo zu erzielen und Solidarität
seitens der Bevölkerung und verschiedener Gewerkschaften zu erhalten. In
Ankara, wohin sie fast 300 km marschierten, erhielten sie am 29. Juli 2011 die
Unterstützung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Auch das
Ministerium für Arbeit und Soziales sah sich daraufhin gezwungen, sich in den
Fall einzuschalten und versprach, sich für eine Lösung des Konfliktes
einzusetzen. Allerdings bedeutete dieses Versprechen faktisch eine erneute
Verschiebung der Lösung des Konflikts. Ähnlich wie bei anderen
gesellschaftspolitischen Themen lenkte die Regierung von Ministerpräsident
Erdogan die Aufmerksamkeit auf den Verfassungsentwurf, der Ende dieses Jahres
von einer Kommission verabschiedet werden und in den Vorschläge für die
Erleichterung gewerkschaftlicher Organisierung und den Abschluss von
Tarifverhandlungen einfließen sollen. Angesichts der entgegengesetzten
Positionen der in der Kommission vertretenen Parteien und der starken Stellung
der Bourgeoisie im Diskurs um eine neue Verfassung wird dies nicht automatisch
erfolgen. Folglich dauern die Aktionen der Arbeiter vor dem Betriebsgelände
immer noch an. Sie sind entschlossen, den Druck auf die Konzernleitung und die
Politik weiter aufrecht zu erhalten.
Der
Vorsitzende von Birleşik Metal-İş, Adnan Serdaroğlu, betonte bei einer
Pressekonferenz vor dem Ministerium für Arbeit und Soziales, es reiche nicht,
die Probleme nur in einzelnen Betrieben zu lösen. »Denn heute kann das Problem
bei MAS-DAF gelöst werden, aber woanders herrschen weiter Probleme. Für uns ist
wichtig, dass die Hürden für eine gewerkschaftliche Organisierung generell
beseitigt werden. Wir wollen gesetzliche Sicherheiten, um antidemokratisches
und gesetzeswidriges Verhalten der Arbeitgeber zu verhindern. Das ist unsere
Forderung, und dafür werden wir bis zum Ende kämpfen«.
Wie
Arbeiter von MAS-DAF im Gespräch mit Teilnehmenden eines vom DGB-Bildungswerk
Hessen organisierten Bildungsurlaubs im Juni 2011 in Istanbul deutlich machten,
geht es ihnen nicht mehr alleine um den Lohn oder um die Wiedereinstellung. In
diesem Kampf geht es auch um ihre Würde, um ihre grundlegenden Rechte. Einer
der Arbeiter, gerade Großvater geworden, äußerte, er wünsche sich, dass seine
Enkel einmal unter besseren Bedingungen leben können.
* * *
Spenden für die kämpfenden Arbeiter können unter Angabe des
Stichworts »MAS-DAF« an ihre Gewerkschaft überwiesen werden:
Kontoinhaber: Birleşik
Metal-İş (Konto in Euro)
Kreditinstitut: Yapı
Kredi Bankası
IBAN: Tr
480006701000000060824151
Bankleitzahl:682
SWIFT-Code:
YAPITRIS
Solidaritätsschreiben
können an die Adresse der türkischen Metallgewerkschaft gerichtet werden:
Birleşik
Metal İş
Tünel
Yolu Cad. No:2
Bostancı/İSTANBUL
Türkei
Protestschreiben
können an die Adresse von MAS-DAF gerichtet werden:
MAS-DAF
ATASEHİR BULVARI
ATA ÇARŞI K. 4 No: 59
ATAŞEHİR / ISTANBUL / TÜRKEI