Montag, 20. August 2012

Neoliberalismus und politischer Islam in der Türkei unter Führung der AKP: ein neues hegemoniales Projekt?

Internationale Tagung mit Gästen aus der Türkei, 29. September 2012 in Berlin
Vor beinahe 10 Jahren löste die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) jene Koalitionsregierung ab, die in der Türkei die schwere Finanzkrise von 2001 gemanagt hatte. Obwohl offensichtlich in Kontinuität zu deren neoliberaler Politik, wurde die AKP von vielen ihrer Unterstützter als Alternative zu den „alten und korrupten Parteien“, als Ausdruck der „Subalternen Anatoliens gegen westtürkische Dominanz“ und eben deshalb als „konservativ-demokratische“ Antwort auf den „autoritären und elitären Laizismus“ wahrgenommen. Darüber hinaus schien eine „kulturell und religiös pluralistische“ AKP-Regierung dem EU-Beitrittsprozess verpflichtet. Obgleich Teil einer Strategie der Selbstdarstellung, fand diese Wahrnehmung der AKP breite Resonanz – insbesondere unter westlichen WissenschaftlerInnen. Nicht im Ausland, sondern in der Türkei selbst wurde diese Sichtweise pointiert kritisiert.

Heute erscheint das Bild eines Demokratisierungsprojektes unter Führung der AKP immer weniger plausibel. Während die Gewalt gegen Oppositionelle im Jahr 2011 einen neuen Höhepunkt erreichte, weckten neue Gesetzesinitiativen Zweifel am Verhältnis der AKP zu religiöser Pluralität und zu den sog. islamistischen Netzwerken. Wie zahlreiche kritische WissenschaftlerInnen in der Türkei betonen, kann die enge Beziehung zwischen politischem Islam und der regierenden AKP nicht auf einzelne Ereignisse wie der Verbannung von Alkohol aus dem öffentlichen Raum oder die Einführung von Korankursen an Schulen reduziert werden. Die Repression gegen kritische Intellektuelle und AktivistInnen, die massive Unterdrückung der kurdischen Bewegung ebenso wie die Remilitarisierung des Konfliktes haben auch unter WissenschaftlerInnen, die die AKP bislang unterstützten, ernsthafte Zweifel bezüglich des demokratischen Charakters und der kulturellen Pluralität der Partei aufkommen lassen.

Es macht daher Sinn, von einer tieferen gesellschaftlichen Transformation zu sprechen, deren Logik zu verstehen allerdings mehr Aufmerksamkeit erfordert: Der Nexus zwischen politischem Islam, Nationalismus und Neoliberalismus markiert das hegemoniale Projekt der AKP. Es scheint in der Lage, populäre Zustimmung aufrecht zu erhalten und sogar zu vertiefen, während zugleich der gesellschaftliche Widerstand fragmentiert bleibt. Derweil werden neoliberale Politiken (wie die Privatisierung öffentlicher Güter oder die Inwertsetzung des Raumes) durch die Zentralisierung der politischen Macht und einer Militarisierung sozialer Konflikte im sog. „Kampf gegen Terrorismus“ abgesichert.

Unsere Konferenz richtet ihren Fokus daher auf den spezifischen Charakter dieses offensichtlichen Nexus, indem wir uns einige Felder näher erschließen: die politische Ökonomie islamistisch regierter Kommunalverwaltungen und ihre Bedeutung für das Streben der AKP nach einem neuen hegemonialen Projekt; die Anerkennung kurdischer Identität als ein AKP-spezifischer Modus islamischkonservativen Nationalismus’ und sein Bezug zur türkischen Außenpolitik; und schließlich neoislamistische Gesellschaftsvisionen im Kontext neoliberaler Urbanität und der Regulierung des alltäglichen Lebens.

Dazu wird es drei englischsprachige Workshops geben (um Anmeldung wird gebeten!). Die Podiumsdiskussion richtet sich an ein breiteres Publikum und wird daher simultan ins Deutsche übersetzt.

Programm:

10.30 Eröffnung durch die Veranstalter und Einführung ins Thema

WORKSHOPS AUF ENGLISCH

11.00-13.00 Workshop mit Ali Ekber Doğan: politische Ökonomie islamistisch regierter Kommunalverwaltungen und ihre Bedeutung für das Streben der AKP nach einem neuen hegemonialen Projekt
Moderation: Ismail Karatepe

13.20-15.20 Workshop mit Cenk Saraçoğlu: Islamisch-konservativer Nationalismus und die AKP: Reflektionen zur Außenpolitik und der kurdischen Frage
Moderation: Errol Babacan

15.20-16.20 Mittagspause (kostenloses Buffet in den Räumlichkeiten der RLS)

16.20-18.20 Workshop with Ayse Çavdar: neo-islamistische Gesellschaftsvisionen im Kontext neoliberaler Urbanität und der Regulierung des alltäglichen Lebens
Moderation: Axel Gehring

PODIUM AUF ENGLISCH MIT DEUTSCHER SIMULTANÜBERSETZUNG

19.00-21.30 Diskussion mit all unseren Gästen: Neoliberalismus und politischer Islam in der Türkei unter Führung der AKP: Ein neues hegemoniales Projekt?
Moderation: Anne Steckner & Errol Babacan

Ali Ekber Doğan ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Mersin-Universität. Er forscht zu politischer Ökonomie urbaner Politiken in der Türkei, islamistischen Stadtverwaltungen, Kämpfen um das Recht auf Stadt

Cenk Saraçoğlu arbeitet zu Migration, Nationalismus, urbaner Transformation und Ethnic Relations mit besonderem Fokus auf die Türkei. Er gehört der Redaktion des türkischen Wissenschaftsjournals Praksis an.

Ayse Çavdar ist Journalistin und arbeitet für das türkische Magazin Express. Ihre Forschungsfelder sind politischer Islam, Medien, Landwirtschaft und urbane Transformation in der Türkei.

Ort: Rosa Luxemburg Stiftung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

Anmeldung und Kontakt: ebabacan@web.de und anne@steckner.de

Veranstalter: Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung, Rosa-Luxemburg-
Stiftung und Redaktion des Infobrief Türkei (www.infobrieftuerkei.
blogspot.de)