Freitag, 27. Januar 2012

Normalzustand in der »demokratischen« Türkei: Willkürjustiz

Von Murat Çakır

Schon die oberflächliche Betrachtung reicht aus, um die Verfasstheit des türkischen Staates als ein Unrechtsstaat zu charakterisieren. Die AKP-Regierung ist auf dem besten Weg, die parlamentarische Demokratie im Namen der »Demokratisierung« gänzlich aufzuheben. Politisch motivierte Konstruktion von Straftatbeständen, Aufweichung der Gewaltenteilung und »Feindstrafrecht« belegen dies.


Ayla Şimşek und Mürvet Kasımoğlu, zwei Studentinnen der Kocaeli Universität: Sie wurden in den frühen Morgenstunden des 5. Juni 2011 von Beamten der Polizeieinheit »Abteilung Terrorismusbekämpfung« verhaftet. Sie sind nur zwei von rund 600 Studierenden, die mit ähnlichen Vorwürfen verhaftet wurden und nun auf ihre Gerichtsverhandlungen warten.

Sie hatten noch Glück. Im Oktober 2011 wurde der Geheimhaltungsbeschluss über die Anklage aufgehoben und so konnten sie erfahren, warum sie verhaftet wurden – andere warten seit 23 Monaten darauf.

Beiden Studentinnen wird vom Staatsanwalt vorgeworfen, »Aktivitäten im Namen einer terroristischen Organisation, ohne deren Mitglied zu sein« begangen zu haben. Von diesem »Copy and Paste«-Vorwurf sind derzeit tausende Inhaftierte betroffen. Der Staatsanwalt gründet seine Anklage auf folgende Straftatbestände: Teilnahme als Zuhörerin an einer Gerichtsverhandlung von KommilitonInnen; Teilnahme an der Eröffnung des Wahlbüros des Linksbündnisses Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit; Teilnahme an Protestdemonstrationen gegen eine Entscheidung der Hohen Wahlkommission; Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung für führende Mitglieder der 68er StudentInnen- und Jugendbewegung; Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung für einen 2009 in Diyarbakir während einer Demonstration durch eine Polizeikugel tödlich getroffenen kurdischen Studenten; Teilnahme an öffentlichen Newroz-Feierlichkeiten; Teilnahme an einer Protestdemonstration gegen KCK-Operationen und Teilnahme an einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag.

Politische Aktivitäten, die in halbwegs funktionierenden bürgerlichen Demokratien als verfassungsrechtlich verbriefte Rechte gelten, werden von türkischen Staatsanwälten und Gerichten – ausgestattet mit »besonderen Befugnissen« – zum Straftatbestand erklärt. Mit Geheimhaltungsbeschlüssen, die sogar den Rechtsanwälten die Aushändigung der Anklageschrift verwehren, und nicht überprüfbaren Aussagen von »geheimen Zeugen« wird das Recht auf Verteidigung verunmöglicht. Selbst bei einer Anklageschrift, die nur auf Indizien basiert und meist nicht mehr ist als das Verhörprotokoll der Polizei, kann die Untersuchungshaft auf mehrere Jahre verlängert werden - ein Umstand, durch den die klare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte regierungsamtlich bewusst und systematisch verletzt wird.

Feindstrafrecht zur Aussetzung von BürgerInnenrecht

Schon eine oberflächliche Betrachtung der Rechtspraxis genügt, um die Verfasstheit des türkischen Staates und seiner »Demokratie« als Unrechtsstaat zu charakterisieren. Zur politisch motivierten Konstruktion von Straftatbeständen und der weitgehenden Aufweichung der Gewaltenteilung gesellt sich die Ausübung von »Feindstrafrecht«. Die Bezeichnung geht auf den deutschen Strafrechtler und Rechtsphilosophen Günther Jakobs zurück und meint die Aussetzung der BürgerInnenrechte für bestimmte Gruppen: Die radikal-militante Linke, die ohnehin seit Jahrzehnten als »Staatsfeind« behandelt wird, gehört ebenso dazu, wie die legale Linke, sozialistische und prokurdische Parteien, soziale Bewegungen sowie kritische JournalistInnen und Intellektuelle.

Kategorisiert als »Feinde« der Gesellschaft bzw. des Staates werden sie außerhalb des geltenden Rechts gestellt. Sie dürfen vom Staat mit allen Mitteln bekämpft werden. Die »Terrorbekämpfungsgesetze« in der Türkei, strafrechtliche Grundlage dieser Prozesse, fallen in diese neue Kategorie, die kontinuierlich erweitert wird. Zuletzt plante die türkische Regierung ein »Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung des Terrorismus«. Obwohl der Gesetzentwurf noch nicht ins Parlament eingebracht wurde, hat der Justizminister per Erlass bereits alle Richter und Staatsanwälte verpflichtet, »so schnell wie möglich mit den Vorbereitungen zur Enteignung von Geld- und Sachvermögen von Unterstützern des Terrorismus zu beginnen«. Kritische Stimmen warnen, es werde damit eine legale Grundlage geschaffen, um schon die geringste Unterstützung kurdischer Organisationen, wie die Ladenschließung im Zusammenhang mit einer Protestaktion, zum Anlass für die Enteignung kurdischer UnternehmerInnen.

Der stellvertretende Ministerpräsident Beşir Atalay macht keinen Hehl aus der Urheberschaft. Im Zusammenhang mit den andauernden KCK-Operationen gegen eine angebliche Keimzelle einer separatistisch-nichtstaatlichen Gesellschaft, in deren Verlauf mehr als 7.000 Personen, darunter 6 Abgeordnete des türkischen Parlaments, zahlreiche BürgermeisterInnen und PolitikerInnen der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) sowie SchriftstellerInnen, JournalistInnen und AktivistInnen von sozialen Bewegungen, in Haft genommen wurden, erklärte er: »Als Staat setzen wir einseitig eine integrierte Strategie um. Von grenzüberschreitenden Militäroperationen bis hin zu KCK-Operationen läuft alles koordiniert. Sie wurden diskutiert, beschlossen, geplant und werden umgesetzt«. Besser hätte die Aufhebung der Unabhängigkeit der Justiz nicht erklärt werden können!

Gleichschaltung der Staatsapparate

Derzeit findet in den Staatsapparaten eine grundlegende Transformation statt. Die AKP-Regierung ist auf dem besten Weg, die parlamentarische Demokratie im Namen der »Demokratisierung« gänzlich aufzuheben. Das Verfassungsreferendum von 2010 markiert diesen Bruch (vgl. Artikel zum Verfassungsreferendum 2010 in diesem Newsletter). Was die Verfassungsreform tatsächlich gebracht hat, erklärt Orhan Gazi Ertekin, Co-Vorsitzender des Vereins Demokratischer JuristInnen, so: »Von einer Wahl des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) kann nicht gesprochen werden. Ernennung wäre eine passendere Bezeichnung. (...) Die Mitglieder des HSYK wurden vom Staat, sprich dem Justizministerium gewählt und die Basis hat dies abgenickt«.

In anderen Worten: Spätestens mit dem Referendum von 2010 ist der Justizapparat unter die Kontrolle der AKP-Regierung geraten. Doch auch in anderen Institutionen des Staates, wie z.B. dem Generalstab, dem Hochschulrat (türkisch: YÖK) oder in der staatlichen Aufsichtsbehörde für Funk und Fernsehen (türkisch: RTÜK) kann die AKP die ihr genehmen Ernennungen viel leichter als bisher vornehmen. Damit hat sie sich de facto in eine Machtposition gehievt, die der Einparteien-Diktatur der CHP zwischen 1923 und 1946 verblüffend ähnelt.

Der »Ergenekon-Prozess« und die Verfassungsreformen waren die wichtigsten Mittel im Machtkampf gegen die kemalistischen Eliten. »Ergenekon« ist die Bezeichnung für ein nationalistisches Netzwerk, dem vorgeworfen wird, den gewaltsamen Umsturz der AKP-Regierung vorbereitet zu haben. Mehr als 300 Personen, darunter hochrangige Offiziere, wurden inhaftiert. Die Gleichschaltung des Justizapparates und die KCK-Operationen dienen nun der Festigung und dem Ausbau der AKP-Macht.

Wenn der Staat seine eigenen Gesetze missachtet...

Rechtsanwalt Ercan Kanar, Verteidiger der Hochschulprofessorin Büşra Ersanlı, die mit dem standardisierten Vorwurf der »Unterstützung einer terroristischen Organisation, ohne deren Mitglied zu sein« verhaftet wurde, kritisiert nicht nur die auch nach der gültigen Verfassung unrechtsmäßigen Abhöraktionen und Ermittlungsmethoden, sondern zugleich die Verletzung des geltenden Strafrechts. In der Tat sehen die Art. 100 ff. des Strafrechts vor, dass die Inhaftierung von Angeklagten nur beschlossen werden darf, wenn konkrete Hinweise auf einen anstehenden Fluchtversuch vorliegen oder der begründete Verdacht vorliegt, dass Beschuldigte Beweise vernichten und Zeugen beeinflussen könnten, oder wenn andere Verhaftungsgründe, wie besonders schwere Verbrechen, dies notwendig machen. Eigentlich gelten somit in der Türkei die gleichen Richtlinien, wie sie in jedem EU-Land üblich sind. Auf der Grundlage des Art. 19 der Verfassung, mit der die Freiheits- und Sicherheitsrechte einer jeder Person geregelt sind, sieht zudem der Art. 102 Abs. 2 des Gesetzes über die Strafgerichtsbarkeit vor, dass die Dauer der Untersuchungshaft für Fälle, die in die Zuständigkeit der Schweren Strafgerichte fallen, höchstens zwei Jahre und bei besonderer Begründung insgesamt drei Jahre nicht überschreiten darf. Außerdem wird im Art. 108 desselben Gesetzes zwingend vorgeschrieben, dass die Verlängerung der Inhaftierung alle 30 Tage vom Gericht beschlossen werden muss. Für Minderjährige gelten verschärfte Vorschriften, da das Gesetz zum Schutz des Kindes beachtet werden muss.

All diese Regelungen und Vorschriften werden von den Sondergerichten außer Acht gelassen. Während die Inhaftierungszeiten willkürlich verlängert werden, denken sich PolitikerInnen neue Bosheiten aus. Derzeit wird darüber diskutiert, wie Eltern von »Steine werfenden Kindern« das Erziehungsrecht entzogen werden kann. Ins Visier genommen sind minderjährige kurdische Kinder, die an Protesten teilnehmen. Die Kinder sollen in sogenannten »Häusern der Liebe« untergebracht, für deren zukünftige Inbetriebnahme islamistische Stiftungen bereit stünden, und zu »ordentlichen türkischen Kindern umerzogen« werden. Der Provinzgouverneur von Diyarbakır schlug als Erziehungsmaßnahme sogar vor, die Kinder einen Zug mit Steinen bewerfen zu lassen, in den zuvor ihre eigenen Eltern gesetzt werden.

Diese Pervertierung des Rechtsverständnisses kommt nicht von ungefähr. Sie begründet sich in einem Denken, das alle Forderungen nach politischen Freiheiten als »Terrorismus« brandmarkt. Der Mechanismus ist relativ banal: Zuerst wird der »Terrorismus« nicht als Mittel, sondern als politischer Zweck definiert. Dadurch wird das gesamte Feld der politischen Aktivitäten dem Primat der »Terrorismusbekämpfung« untergeordnet. Dann wird das Feindstrafrecht angewandt: Der oder die »TerroristIn« wird zur Person ohne Rechte gemacht. Nicht die Tat, sondern die (potentielle) Verbindung zum »Terroristen« wird zur »Terrorismusdefinition« herangezogen. So wird beispielsweise die Teilnahme am Beschneidungsfest des Sohnes einer als »Terrorist« bezeichneten Person zur »terroristischen Aktivität«. Schließlich wird der »Terrorismus« über eine »terroristische Organisation« definiert. So wird der »Terrorismus« als »Tat eines Terroristen oder einer Terrororganisation« bezeichnet. Demnach werden legale Parteitätigkeiten der BDP und sogar deren Parteischulen zu einem »Ort terroristischer Tätigkeit, ohne Mitglied einer terroristischen Organisation zu sein«. Demonstrationen, öffentliche Presseerklärungen, Kundgebungen werden dann per se als »terroristische Taten« geahndet. Nicht was die Person macht, sondern die Person selbst wird zum »Terrorismusvorwurf« herangezogen.

Dem Vorwurf folgt dann die extralegale Vorverurteilung über regierungsnahe Medien. Trotz der Geheimhaltungsbeschlüsse verkünden diese Medien noch am Tage der Verhaftung die einzelnen Anklagepunkte, die ihnen offenbar von den Ermittlungsbehörden zugespielt werden, als bewiesene Tatsachen. Polizeiberichte werden unkritisch übernommen, Vorwürfe als Tatsachen skandalisiert und Behauptungen, die sich binnen kurzer Zeit als unwahr herausstellen, nicht mehr berichtigt. Kein Richter oder Staatsanwalt, die eigentlich von Amtswegen gegen die Veröffentlichung von Geheimsachen vorgehen müssten, widerspricht dieser Art der Berichterstattung. Im Gegenteil, die Medienberichte gehen anschließend sogar als Beweismittel gegen die Angeklagten in die Anklageschrift ein.

So schließt sich der Kreis: Willkürjustiz wird mit Medienunterstützung zum geltenden (Un)Recht. Wahrlich, ein demokratischer Rechtsstaat sieht anders aus.