Freitag, 27. Januar 2012

Militärische Vormundschaft unter Druck?

Von Axel Gehring

Der Einfluss des Militärs in der türkischen Politik ist in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen – die erhoffte »demokratische Normalisierung« ist ausgeblieben. Sind »die Generäle« noch immer an der an der Macht oder hat »die AKP-Regierung« ihr eigenes Regime installiert? Zur Inspektion des Begriffes der »militärischen Vormundschaft«.


Wenn es darum geht, den Charakter des politischen Regimes in der Türkei zu beschreiben, ist »Militärische Vormundschaft« ein weit verbreiteter Terminus. Sein Einfluss reicht von konservativen, liberalen bis hin zu linken Kreisen – innerhalb der Türkei und den Staaten der Europäischen Union. Ist das Regime der Vormundschaft erst einmal abgeschafft, so wäre das politische Leben in der Türkei »normalisiert« und eine Vorbedingung für Demokratie erfüllt. In der Tat hat der Einfluss der Türkischen Streitkräfte auf die Tagespolitik rapide nachgelassen – das erfolglose Memorandum des türkischen Generalstabes aus dem April 2007 und der Rücktritt des Generalstabes vom Amt im August 2011 sind bloß zwei Ereignisse in einer langen Reihe von Niederlagen im Kampf der Streitkräfte gegen die regierende AKP. Nicht zuletzt deswegen wurde (und wird) die AKP gemeinhin als Motor eines demokratischen Wandels in der Türkei betrachtet.

Ungeachtet des kontinuierlichen Niedergangs der so genannten militärischen Vormundschaft stellen zahlreiche Fakten heute die Hypothese einer »demokratischen Normalisierung« in Frage. Während der massive Einsatz von Repression gegen oppositionelle Kräfte und Intellektuelle nicht nur anhält, sondern zunimmt, hat der bewaffnete Konflikt zwischen den Türkischen Streitkräften und den kurdischen Rebellen der PKK eine Stufe der Eskalation erreicht, die der offenen Kriegssituation der neunziger Jahre nahe kommt. Selbst konservative deutsche Zeitungen, wie die FAZ, äußern sich zunehmend kritisch gegenüber der AKP, die seit 2002 die Regierung stellt.

Ein kontinuierlicher Niedergang des Regimes der so genannten militärischen Vormundschaft, zugleich aber zunehmende Repression im ganzen Land und steigende Opferzahlen im kurdischen Osten der Türkei – wie passt das zusammen? Ist das Regime der Vormundschaft wirklich im Niedergang begriffen? Oder hat die AKP-Regierung ihr eigenes Regime installiert? Es ist Zeit, sich dem Begriff der militärischen Vormundschaft zu widmen.

Putsch zur Wiederherstellung der bürgerlichen Hegemonie


Am Vorabend des Putsches von 1980 befand sich die Türkei in einer tiefen Hegemoniekrise. Das Model binnenorientierter Industrialisierung erfüllte nicht mehr die Wünsche und Bedürfnisse weiter Teile der Bevölkerung, wie die sozialen und politischen Unruhen der späten 1970er Jahre illustrieren. Auch die türkische Bourgeoisie hatte ihr Interesse an einer Fortsetzung dieses Entwicklungspfades verloren, der keine Lösung der Devisenkrise zu versprechen schien. Die Hegemonie der alten Formation insgesamt war in einer tiefen Krise. Als eine solche Krise war sie primär die Krise der herrschenden Klassen. Zu Anfang des Jahres 1980 hatten die großen Konglomerate, als führende Fraktionen der Bourgeoisie, gemeinsam mit den internationalen Finanzinstitutionen die türkische Regierung überzeugt, ihre Wirtschaftspolitik fundamental neu – in Richtung Neoliberalismus – auszurichten. Allerdings wurde dieses Transformationsprojekt durch den fortdauernden popularen Widerstand blockiert. Die Wiederherstellung der Hegemonie – d. h. der stabilen Klassenherrschaft – durch nicht-gewaltförmige Mittel schien daher unmöglich geworden. In dieser Situation ereignete sich im September 1980 der gewaltförmigste Putsch in der Geschichte der Türkei. Als solcher schuf er jenen repressiven sozialen Frieden, der nötig war, um das neoliberale Projekt zu beginnen. Weithin interpretiert als eine Unterbrechung hegemonialer Herrschaft – die Militärs herrschten als Transitionsjunta bis 1983 – spielte die Militärintervention tatsächlich eine entscheidende Rolle in der Wiederherstellung der Hegemonie der herrschenden Klassen. Der Putsch stellte die letzte Verteidigungslinie der herrschenden Klassen gegen den popularen Unfrieden dar. Als solcher kam der Putsch nicht aus einer Sphäre außerhalb der Gesellschaft, sondern geschah im Namen der in der Gesellschaft Herrschenden, die erfolgreich für eine solche Aktion geworben hatten.

Die Trennung zwischen verschiedenen Sphären, von denen die Ökonomie eine eigene und nicht politisierte zu sein hat, sollte in der Lancierung des neoliberalen Projektes eine zentrale Rolle spielen: Während die Niederschlagung von Gewerkschaftsaktivismus und linker Politiken das repressive Moment markierten, spielte der Diskurs vom starken Staat und der militärischen Vormundschaft eine wichtige Rolle, um Konsens für das neue neoliberale Projekt zu generieren – selbst unter Gewerkschaftern und linken Aktiven. Indem es die Verantwortung für die wirtschaftlichen Engpässe der späten siebziger Jahre einseitig den interventionistischen Politiken des Staates sowie reformerischen und linken Intellektuellen, die den Entwicklungsstaat unterstützten, zuschrieb, öffnete es den Raum für die Idee des Marktes als neuen hegemonialen Diskurs. Ironischerweise begünstigten die Konzepte der militärischen Vormundschaft und des starken Staates die Artikulation selbst kritischer Linker mit dem neoliberalen Projekt.

Währenddessen ging der Prozess der Wiederherstellung und gleichzeitigen Transformation der Hegemonie mit tiefen Veränderungen in der sozialen Struktur der Türkei einher: Die Kommodifizierung sämtlicher gesellschaftlicher Sphären gewann an Fahrt, die Urbanisierung dauerte fort. Das Wertgesetz als Prinzip der Strukturierung gesellschaftlicher Beziehungen weitete seinen Einfluss aus, zugleich nahmen die Möglichkeiten von subsistenten nicht-kapitalistischen Lebensweisen rapide ab. Der Prozess der Proletarisierung produzierte also nicht nur Widersprüche und Konflikte, sondern ebenso Homogenisierung und neue Formen der Disziplin. Während derweil insbesondere Produktionsarbeiter unter sinken den Löhnen litten, schaffte die Legalisierung informeller Quartiere (gecekondu) Eigentum für beträchtliche Gruppen der Bevölkerung. Konsumgüter, die während der Krise der späten 1970er Jahre knapp geworden waren, wurden wieder verfügbar. All dies eröffnete Möglichkeiten der positiven Integration in den Neoliberalismus.

Rolle der AKP im Post-1980-Regime

Obwohl das Jahr 1980 einen Wendepunkt im Charakter bürgerlicher Hegemonie in der Türkei darstellt, wird der Terminus »Regime« in der Regel mit der Transitionsjunta assoziiert, die 1980 bis 1983 regierte. Es ist daher weit verbreitet, das repressive Vorgehen der Junta gesondert vom neoliberalen Regime zu diskutieren, welches die Politik in der Türkei seit mehr als drei Dekaden dominiert. Selbst politische Kräfte, die sich einer Politik verschrieben haben, die die vom Militär auf den Weg gebrachte neoliberale Transformation vertieft, kritisieren munter das Militär und den repressiven Staat.

Das zurzeit bekannteste Beispiel ist die sogenannte moderat-islamische AKP, die sich nach eigener Aussage dem Konzept der »konservativen Demokratie« verschrieben hat. Die Partei wurzelt in der islamistischen Refah Partisi (Wohlfahrtspartei), deren Vorsitzender Necmettin Erbakan 1996 und 1997 als Premierminister eine Koalitionsregierung anführte. Der Rücktritt dieser Regierung, der indirekt zur Schließung der Partei führte, markierte die letzte erfolgreiche Intervention der türkischen Streitkräfte in die türkische Tagespolitik. Sie vollzog sich über die Verbreitung eines Memorandums, was in weiten Kreisen als Beleg für das Fortdauern der militärischen Vormundschaft gewertet wurde.
Tatsächlich wird das Bild komplexer, wenn wir unsere Aufmerksamkeit von formalen Deklarationen abwenden, die die Intervention als Aktion zur »Rettung des säkularen Charakters« rechtfertigen, und uns stattdessen ihrem Klassengehalt zuwenden: Jenseits ihrer vergleichsweise erfolglosen islamistischen Rhetorik – die türkisch-islamische Synthese der achtziger Jahre war bedeutsamer – nahmen die führenden Klassenakteure die Refah vor allem als Bedrohung war, weil sie die Verteilung der Kredite zwischen den Kapitalfraktionen in Frage stellte. Ihr Versuch der Zuweisung und Verteilung knapper monetärer Ressourcen hin zu neuen Kapitalfraktionen, den sogenannten Anatolischen Tigern, ging gegen die Interessen der sich im Unternehmerverband TÜSİAD organisierenden etablierten Fraktionen. Entscheidend dabei war: Die Politik der Refah wurde nicht nur als Bedrohung für diese Fraktionen, sondern für das neoliberale Projekt insgesamt wahrgenommen. Wie schon 1980 griff die Armee im Interesse der führenden Kapitalfraktionen und ihres neoliberalen Projektes ein. Dass sie dies 1997 unter dem Banner des Säkularismus tat, half ihr, die öffentliche Unterstützung selbst von Gruppen wie Gewerkschaftern, Feministinnen und Sozialisten zu gewinnen, die gemeinhin nicht die natürlichen Verbündeten des neoliberalen Regimes sind.

Allerdings wäre es fundamental falsch, Säkularismus als ein Instrument zu verstehen, das der Aufrechterhaltung von Klassenherrschaft subordiniert ist. Erstens: Als Konzept, das Angehörige verschiedener gesellschaftlicher Gruppen teilen, verfügt es über es eine weitreichende Autonomie gegenüber bornierten Klasseninteressen – nicht zuletzt insofern es integraler Teil einer Politik des Alltäglichen ist. Es fungiert als ein Diskurs, der das Verlangen nach persönlicher Freiheit gegen Gruppendruck, Nachbarschafts- und Familienzwänge ausdrückt, die von islamistischer Alltagspolitik massiv gefördert werden. Zweitens: Auf Grund seiner Verwurzelung im Gründungsmythos des türkischen Staates spielt es ebenso eine wichtige Rolle für die Identität der Türkischen Streitkräfte. Dank dieser Autonomie kann es sich diskursiv selbst dann noch gegen islamistische Politik richten, wenn diese fest mit dem neoliberalen Projekt artikuliert ist.

Exakt das passierte 2007, als säkulare Kundgebungen gegen den Versuch der AKP, Abdullah Gül zum Präsidenten der Republik zu wählen, abgehalten wurden. Dies war als ein weiterer Schritt hin zur Islamisierung des Staatsapparates wahrgenommen worden. Im Verlauf der 1990er Jahre hatten die Nachfolgeparteien der Refah ihre Haltung zum Neoliberalismus geändert. Die »geläuterte« AKP hatte sich nach ihrer Wahl 2002 gegenüber dem Programm verpflichtet, das von den internationalen Finanzinstitutionen im Zuge der Finanzkrise 2000/2001 ausgearbeitet worden war. Zudem kombinierte die AKP neoliberale Politiken mit einem pro-EU-Kurs – beides half ihr in den Jahren 2007 und 2008, als sie Verbündete gegen den Generalstab wie auch (infolge des Verbotsverfahrens) gegen die Staatsanwaltschaft suchte. In der Tat unterstützen sowohl TÜSİAD wie auch die EU die Partei, während sich ihre letzten Feinde im Militär und Justizapparat international isoliert vorfanden, was die Chance auf einen Sturz der Regierung noch weiter schmälerte.

Was vom Konzept der militärischen Vormundschaft übrig bleibt

Dieser kurze Vergleich eines erfolgreichen Putsches (1980), einer erfolgreichen Militärintervention per Memorandum (1997) und einer dritten erfolglosen Intervention per Memorandum (2007) zeigt uns: Für das Militär ist die Unterstützung durch führende Klassenakteure entscheidend. Das lässt sich nur schwerlich als militärisches Vormundschaftsregime bezeichnen. Als ein repressiver Staatsapparat hat es im Dienste der herrschenden Klassen als »Panzer des Zwangs« zu funktionieren – konkret: gegenwärtig das neoliberale Regime zu schützen, das 1980 etabliert wurde.
Für die herrschenden Klassen ist die Verteidigung des Neoliberalismus sehr viel wichtiger, als die Verteidigung des Säkularismus. Das Militär zahlte einen hohen Preis, als es die AKP herausforderte, die von den führenden Klassenakteuren als Wächterin des Neoliberalismus geschätzt wird. Die laufenden Ergenekon-Ermittlungen, die Änderungen in der Verfassung und die Militarisierung der Polizei können daher als das lange Echo der Ereignisse von 2007 und 2008 interpretiert werden. Leider muss den Preis dafür nicht nur das Militär entrichten, vielmehr stärken die Veränderungen im Staatsapparat den Panzer des Zwangs immer weiter. Dies wurde besonders offensichtlich im Jahr 2011, als die Repression gegen Oppositionelle ein Ausmaß erreichte, das nicht mehr weit von einer Militärdiktatur entfernt ist.