Von Errol Babacan
Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) baut entgegen aller Absichtserklärungen die von Generälen eingeführte Regierungspraxis aus und treibt die Zentralisierung der Staatsgewalt, ein genuines Projekt der kemalistischen Gründungsjahre des Nationalstaats, voran. Dabei scheut sie den Einsatz politischer Mittel des Ausnahmezustands nicht.
Seit vielen Jahren dient die Debatte über eine neue Verfassung für die Türkei als Projektionsfläche für Forderungen jedweder Art. Ein denkwürdiger Effekt der Debatte besteht dabei darin, dass sie die gegenwärtige Regierungspraxis überlagert. Internationale Medien spiegeln diese Verzerrung in Berichten über den demokratischen Ist-Zustand, die regelmäßig mit dem Verweis auf die zukünftige Verfassungsreform enden, von der die Lösung aller Konflikte erwartet wird. Die Gegenwart schrumpft so auf eine Vorgeschichte, die überblättert werden kann. Dergestalt überblättert wurde jüngst, dass die Türkei sechs Monate lang mit Dekreten regiert wurde, die mittels tiefgreifender Reformen bestehende Konflikte verschärft und neue Fakten geschaffen haben. Diese Episode lässt eine realistischere Einschätzung der politischen Verfasstheit zu als unverbindliche Debatten.
Nicht ausgerufener Ausnahmezustand
Zwei Monate vor den Parlamentswahlen im Juni 2011 verabschiedete die AKP-Mehrheit im Parlament ein Gesetz, mit dem sie die Regierung ermächtigte, für einen Zeitraum von sechs Monaten Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Die Vollmacht bezog sich auf die Reorganisation des öffentlichen Dienstes. Das Ermächtigungsgesetz trat Anfang Mai in Kraft, kurz darauf wurde das Parlament aufgrund anstehender Wahlen geschlossen, danach für wenige Sitzungen eröffnet, um die neuen Abgeordneten zu vereidigen und anschließend in die Sommerpause zu entlassen. Erst im Oktober, nach praktisch fünf monatiger Sitzungspause, wurde die parlamentarische Tätigkeit wieder aufgenommen. In der Zwischenzeit erließ die Regierung 22 Dekrete. Auch als das Parlament seine regulären Sitzungen wieder aufgenommen hatte, nutzte die Regierung den verbliebenen sechsten Monat, um 13 weitere Dekrete zu erlassen. Spätestens jetzt drängte sich die Frage auf, wofür das Parlament benötigt wird, sollte es doch gesetzgeberisch tätig sein und ermöglichen, Initiativen der regierenden Mehrheit zu hinterfragen und Rechenschaft von ihr einzufordern.
Das Ermächtigungsgesetz setzte das Parlament als gesetzgebende Instanz außer Kraft. Ohne Lesung und Diskussion wurden die Dekrete Präsident Abdullah Gül vorgelegt, der sie umgehend bestätigte. Die Möglichkeit zu diesem anti-parlamentarischen Vorgehen war 1971 nach einer militärischen Intervention in die Verfassung eingeführt worden und wurde nach dem Militärputsch von 1980 bekräftigt. 1990 beschränkte das Verfassungsgericht die Anwendung auf begründete Ausnahmesituationen, nachdem bereits die 1980er-Regierungen ausgiebigen Gebrauch von ihr gemacht hatten. Die derzeitige Regierung ignorierte diese Beschränkung. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die Form zu wahren und eine Begründung der Ausnahme zu liefern.
Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) klagte gegen das Ermächtigungsgesetz vor dem Verfassungsgericht, das die Klage zurückwies, obwohl offensichtlich ein Verfassungsverstoß vorlag. Die CHP klagte ebenfalls gegen einzelne Dekrete. Entscheidende Eingriffe durch das Gericht sind jedoch nicht zu erwarten.
Paradiesische Zustände für Investoren
Die Dekrete werden derweil umgesetzt. Viele Ministerien wurden aufgelöst und neue gegründet. Einige Dekrete hoben vorausgehende wieder auf. So wurde ein »Ministerium für Umwelt, Wald und Städtebau« gegründet, um es kurze Zeit später mit einem neuen Dekret wieder aufzulösen und an seiner Stelle zwei neue Ministerien zu gründen. Ob sich dahinter ein interner Konflikt verbirgt, bleibt Spekulation, schließlich gibt es keine Rechenschaftspflicht und damit auch keine Möglichkeit zur Einsichtnahme: eine Folge des Ausschlusses des Parlaments aus der Gesetzgebung.
Die verfolgte Richtung der Reorganisation dagegen wird am Beispiel dieses in zwei Teile aufgespaltenen Ministeriums umso deutlicher. Mit dem Dekret zur Gründung des »Ministeriums für Umwelt und Städtebau« wird eine Zentralisierung der Verwaltung festgelegt. So wird die Kontrolle über Bauvorhaben auf öffentlichen Flächen, von der Planung bis zur Vergabe, dem Ministerium und den von der Regierung ernannten Provinzgouverneuren unterstellt. Bislang waren hierfür die Kommunen und Provinzparlamente zuständig. Aus der neuen Regelung ausgenommen sind wenige Städte, die den Status einer Großstadt innehaben. Insbesondere den von Oppositionsparteien regierten Kommunen steht somit eine Verschärfung der Konflikte mit der Zentralregierung bevor. Das Bauwesen ist ein äußerst dynamischer und profitträchtiger Sektor der Türkei und Schauplatz von Verteilungskämpfen. Das Ministerium und die Gouverneure nehmen nun eine Schlüsselstellung in der Regulierung des Sektors und der Verteilung des Profits ein und werden zur ersten Anlaufstelle für Investoren.
Demselben Ministerium wurden ferner die Naturschutzgebiete unterstellt. Diese Gebiete wecken Begehrlichkeiten wegen der enormen Wasservorräte, anderer Rohstoffvorkommen sowie des Tourismus-Potentials. Im Mittelpunkt des Interesses steht Stromerzeugung durch Wasserkraft. Seit sie an der Regierung ist, versucht die AKP, die Hindernisse und Widerstände vor der kapitalistischen Erschließung der Schutzgebiete zu beseitigen. Ein beliebtes Mittel der Behörden, um bestehendes Recht zu umgehen, ist seit jeher das Schaffen von Fakten. Dabei scheiterten sie häufiger am Widerstand der Bevölkerung, deren materielle Lebensgrundlagen angegriffen werden, aber auch an Richtern, die auf Grundlage der geltenden Schutzbestimmungen anhängigen Klagen Recht gaben. Illegale Vorgehensweisen der Behörden bei Genehmigungsverfahren wurden mehrfach sanktioniert und begonnene Projekte gestoppt. In Folge des Verfassungsreferendums 2010 wurde den Gerichten zunächst die zentrale Rechtsgrundlage entzogen, auf die sie sich bei der Überprüfung der Behördenpraxis berufen konnten (vgl. Artikel zu den HES-Protesten in diesem Newsletter). Mit den Dekreten geht die Regierung noch einen Schritt weiter. Das Ministerium ist mit der Kompetenz ausgestattet, neu zu definieren, was unter die Bestimmung eines Naturschutzgebietes fällt und was in einem solchen Gebiet zugelassen wird. Inwiefern es zu Überschneidungen mit dem zweiten Teil der Aufspaltung, dem „Ministerium für Wald und Wasserangelegenheiten“, kommen wird, das ein ähnliches Aufgabengebiet abdecken soll, ist unklar. Schließlich macht die Regierung Tabula rasa und die genauen Regeln für den Kampf um die Aufteilung von Land und Profit werden wahrscheinlich in Aktion geschrieben. Mit der Aufhebung rechtlicher Schranken ist jedenfalls ein paradiesischer Zustand für Investoren geschaffen.
Ausbau autoritärer Elemente
Ein weiterer zentraler Eingriff per Dekret besteht in der Beschneidung der Kompetenzen von Berufskammern und der Reorganisation zahlreicher Einrichtungen des öffentlichen Dienstes. Das Reorganisationsmuster steht in einer Linie mit der Verfassung von 1982, mit der demokratische Elemente der Selbstverwaltung öffentlicher Einrichtungen stark beschnitten wurden. Der damals eingerichtete Hochschulrat etwa kontrolliert die Hochschulen und überwacht das wissenschaftliche Personal und die Lehrpläne. Der Rat (türkisch: YÖK) selbst wird de facto durch den Staatspräsidenten dominiert. Die beherrschende Stellung des Hochschulrats und damit mittelbar des Staatspräsidenten über die Wissenschaft wurde nun erweitert, ebenso jedoch der direkte Einfluss des Ministerpräsidenten. Das leitende Gremium im Wissenschafts- und Technologieforschungsrat der Türkei (türkisch: TÜBİTAK) beispielsweise, die zentrale nationale Einrichtung für die Organisation von Forschung und Entwicklung, wird nun mehrheitlich vom Hochschulrat und dem Ministerpräsidenten ernannt. Die Amtszeit des nach dem alten Verfahren gewählten Vorstands des Rates wurde per Dekret kurzerhand beendet. Auf diese Weise usurpiert die Regierung letzte staatliche Oppositionszentren, deren Personal und Programm sie sich noch nicht vollständig unterworfen hatte.
Freie Fahrt für die Regierung
Damit sind nur einige Aspekte der Dekrete benannt. Sie zeigen jedoch, dass die Regierung mit einer einfachen parlamentarischen Mehrheit und dem Einverständnis des höchsten Justizorgans in der Lage ist, die Gewaltenteilung und parlamentarische Verfahrensweisen außer Kraft zu setzen, auch wenn sie damit gegen die Verfassung verstößt. Die Grenzen der Regierung werden offenbar weniger durch die Verfassung und die formale Trennung der Gewalten, sondern eher von der Kräftekonstellation in den staatlichen Institutionen bestimmt. Nach neun Jahren Alleinregierung hat sich die AKP zentrale, zumindest teilweise von ihr unabhängige Institutionen, darunter das Verfassungsgericht, untergeordnet und kann nun mit Gesetzen und Praktiken regieren, die den Ausnahmezustand kennzeichnen. Nimmt das Gericht seine Kontrollfunktion nicht wahr, hat die Regierung freie Fahrt. Es könnte eingewendet werden, dass auch vergangene Regierungen von dieser Möglichkeit der Aussetzung der Gewaltenteilung Gebrauch machten. Das stimmt, widerlegt umgekehrt jedoch alle Demokratisierungsdiskurse.
Dringender noch ist die Beantwortung der Frage, zu welchem Zweck der Zugriff auf diese durch Militärinterventionen geschaffenen Mittel geschieht. Offensichtlich zielen sie auf die systematische Konzentration der Staatsgewalt in den Händen einer einzigen politischen Partei. Staatliche Verwaltung wird tendenziell auf ein politisches Zentrum zusammengezogen. Genau dies entspricht dem sogenannten Kemalismus der Gründungsjahre und macht den Kern der Verfassung nach dem Putsch von 1980 aus. Allen anders lautenden Diskursen zum Trotz wird dieser Kern gestärkt und ausgebaut. Als treibende Dynamik hinter dieser Zuspitzung lässt sich ein Kampf um die kapitalistische Erschließung und Transformation des Landes und die Verteilung der daraus erwachsenden Profite erkennen.