Freitag, 27. Januar 2012

Demokratie, Verfassung und die AKP

Von İsmail D. Karatepe

Angekündigt als endgültiger Bruch mit der mit dem Regime von 1980 sowie gefeiert als »Sieg der der Demokratie«, haben die Verfassungsänderungen des Spätsommers 2010 das Design der Checks und Balances erheblich verändert und die Teilung der Gewalten eingeschränkt. Wie konnte die AKP für diese Reform Zustimmung mobilisieren?


»Ein Sieg der Demokratie«. So lautete am 13. September 2010 die Schlagzeile der regierungsnahen Zeitung Zaman. Sie feierte den Erfolg beim Referendum, das exakt dreißig Jahre nach dem Militärputsch abgehalten wurde und portraitierte den Sieg der AKP als Sieg von Demokratie, Wandel und Freiheit. Premierminister Erdoğan bewertete das Ergebnis auffallend ähnlich als Sieg einer demokratischen Front gegen die »militärische Vormundschaft« und  den »Status quo«: »Das ›Ja‹ des heutigen Referendums ist das Ergebnis der Sehnsucht unserer Nation nach Demokratie«. Die Europäische Union, das Weiße Haus, ebenso wie die meisten namhaften Zeitungen stimmten überein und begrüßten die Verfassungsänderungen als einen demokratisch-freiheitlichen Fortschritt und als Erfolg gegen die »Bevormundung durch das Militär« – gemeint waren die republikanischen Institutionen und die kemalistischen Fraktionen.

Obgleich sich die AKP des Demokratiediskurses seit ihrer Gründung im Jahr 2002 bedient, nutzte sie ihn nochmals ausgiebig während der Referendumskampagne. Jeder, der den hegemonialen Diskurs vor und nach dem Referendum analysiert, kann beobachten, dass die AKP und andere politische Kräfte, die die Verfassungsänderungen unterstützten, die gleichen Worte mit einer sehr ähnlichen Betonung wiederholen: Demokratie, Wandel, Freiheit. Im Allgemeinen werden solche Begriffe einem oppositionellen Diskurs zugeordnet. In der Türkei wurden sie indes maßgeblich von der seit neun Jahren regierenden AKP und von den sie unterstützenden Organisationen genutzt.

Allerdings: Seitdem die Verfassungsänderungen angenommen wurden, hat sich das Demokratiedefizit in der Türkei verschärft. Einige Verfassungsartikel haben das Design der Checks und Balances verschoben, indem sie den Einfluss der regierenden Partei über die Judikative ausweiteten. Diese Änderungen stärken die Macht der AKP nicht nur in den Staatsapparaten, sondern vor allem auch gegenüber der Opposition, die sich vom kurdischen Lager über linke Kräfte bis hin zu unterschiedlichen nationalistisch-kemalistischen Strömungen erstreckt.

In seiner Balkonrede nach den gewonnenen Parlamentswahlen vom 12. Juni 2011 bezeichnete Erdoğan die dritte Amtszeit als die »Meisterperiode« der Partei. Wieder einmal stellte er eine komplett neue Verfassung in Aussicht. Die Debatten darüber dürften in den kommenden Monaten entsprechend an Fahrt aufnehmen. Das macht es umso wichtiger die zurückliegenden Änderungen und den Diskurs der AKP zu analysieren. Eine solche Analyse schärft nicht zuletzt den Blick für die kommenden Entwicklungen.

Änderungen in der Verfassung – Schwächung der Gewaltenteilung

Durch signifikante Veränderungen im Verhältnis von Exekutive und Judikative wird die Position der Regierung innerhalb des bestehenden Machtblocks gestärkt. Den Änderungen des Artikels 159 bezüglich des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte (türkisch: HSYK) und des Artikels 146 über das Verfassungsgericht kommt eine besondere Bedeutung zu. Der HSYK ist eine entscheidende Institution für Kaderpolitik, da ihm sowohl die Berufung als auch die Entlassung des juridischen Staatspersonals unterliegen. Aufgrund der administrativen Unabhängigkeit des Kassationsgerichtshofes (türkisch: Yargıtay) und Staatsrates (türkisch: Danıştay) sowohl von der Exekutive als auch von der Legislative kann der HSYK – bis zum Zeitpunkt der Verfassungsreform – als eine relativ unabhängige Institution betrachtet werden, zumindest was die Berufung der Mehrzahl seiner Mitglieder betrifft. Vor den Verfassungsänderungen gehörten dem HSYK der Justizminister, der Staatssekretär im Justizministerium, drei Richter des Kassationsgerichtshofes sowie zwei Angehörige des Staatsrates an. Die Reform hat die Besetzung in einer Weise geändert, die einen direkteren Einfluss der Regierung auf die Justiz ermöglicht: Die Anzahl der HSYK-Mitglieder wurde auf 22 (+ 10 alternierende) erhöht, vier Mitglieder werden direkt vom Staatspräsidenten, derzeit Abdullah Gül, berufen, während der Justizminister wie auch sein Staatssekretär dem Gremium weiterhin (und sogar mit gehobener Autorität) angehören. Mit Verweis auf das Wahlverfahren, das die Wahl von 10 HSYK-Mitgliedern durch ihre eigenen Kollegen vorsah, wurde die Reform als Demokratisierung der höchsten Gerichtsbarkeit angekündigt. Die Indizien, wonach diese Wahl der neuen Mitglieder im Anschluss an die Reform unter der Kontrolle des Justizministeriums durchgeführt wurde, sind dagegen erdrückend.

Ebenso wurde durch Erhöhung der Mitgliederzahl des Verfassungsgerichts von 11 auf 17 die Voraussetzung geschaffen, den Einfluss des Parlaments und insbesondere des Staatspräsidenten auf den juridischen Staatsapparat zu erhöhen. Das Parlament wählt mit einfacher Mehrheit nun drei Mitglieder des Verfassungsgerichts aus den vorliegenden Nominierungen. Eine entscheidende Rolle bei der Besetzung von Posten nimmt weiterhin der Staatspräsident ein, der aus den Nominierungen durch verschiedene öffentliche Einrichtungen auswählt. Das so entstandene institutionelle Gefüge lässt sich als eine augenfällige Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung bezeichnen, da  exekutive, legislative und juridische Macht amalgamiert statt getrennt werden. Die Reform hat ein Setting hervorgebracht, das die dominierende Macht im Parlament, die schließlich auch die Exekutivorgane besetzt, institutionell bevorzugt. Wichtiger noch, die juristischen Kader, die sich dissident gegenüber der AKP-Regierung positionierten, haben inzwischen ihre Schlüsselfunktionen verloren oder arbeiten unter dem massiven Druck der Exekutive und Legislative. Interessanterweise wurden solche drastischen Verschiebungen im Design der Checks und Balances, die die Macht der Partei erhöhen und zugleich antidemokratische Maßnahmen vertiefen als Fortschritt für Demokratie und Freiheit in der Türkei bezeichnet.

Die Reform nimmt zudem entscheidenden Einfluss auf die Regulation des Wirtschaftsregimes in der Türkei. So wurde eines der letzten Hindernisse, das der Kommodifizierung von Natur sowie der Privatisierung öffentlicher Güter entgegenstand, aufgehoben. Durch Hinzufügen eines Zusatzes zu Artikel 125: »Die juridische Kompetenz ist auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit administrativer Handlungen und Prozeduren begrenzt und ist keineswegs als Möglichkeit zur Überprüfung der Angemessenheit zu handhaben«. Die Möglichkeit, administrative Handlungen und Prozeduren auf ihre Übereinstimmung mit dem öffentlichen Interesse zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren, wurde auf diese Weise unterbunden.

Zwei Verfassungsänderungen wurden von der AKP und ihren Unterstützern während der »Ja«-Kampagne besonders hervorgehoben. Erstens wurde die Außerkraftsetzung des Artikels 15, der die Anklage der Putschisten von 1980 verbat, als Möglichkeit präsentiert, alle Verbrechen des Putsches aufzuklären. Obwohl die Verfassungsänderungen sich nicht radikal von der Mentalität des Putsches unterscheiden, wurden sie als Versuch dargestellt, mit den vergangenen Putschen zu brechen und zukünftige zu verhindern. Zweitens wurde mit den Verfassungsänderungen die Möglichkeit der individuellen Anrufung des Verfassungsgerichts geschaffen. Dies wurde als notwendiger Schritt zur Erfüllung der  Kopenhagenkriterien im EU-Beitrittsprozess präsentiert. Wie auch immer die konkrete Umsetzung aussehen wird, die auf sich warten lässt - klar ist, dass somit der Instanzenweg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durch den Umweg über das türkische Verfassungsgericht auf unbestimmte Zeit verlängert und sehr wahrscheinlich auch die Zahl der Fälle reduziert wird, die bis zum europäischen Gericht gelangen. Die Türkei verliert regelmäßig ihre Prozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und wird zu hohen Geldstrafen verurteilt.

Anatomie der »Ja«-Kampagne

Über ihren hegemonialen Diskurs, der die Begriffe Wandel, Freiheit und Demokratie betont, gelang es der AKP, diejenigen, die ihre Verfassungsreform unterstützten, im Lager des Wandels, der Freiheit und der Demokratie anzusiedeln, während sie zugleich die Gegner der Reform als Angehörige eines scheinbar homogenen Lagers militärnaher Kräfte etikettierte. Folglich bezeichneten die Partei und ihre Unterstützer auch jene politischen Kräfte, die am meisten unter der Gewalt des Militärputsches von 1980 gelitten hatten und »Nein« zu den Verfassungsänderungen sagten, als »Pro-Putsch-Agenten«. Obwohl die türkische Verfassung seit dem Putsch insgesamt siebzehn Mal geändert worden ist, konnte die AKP die Verfassungsänderungen als einen ersten Versuch darstellen, die Konfrontation mit der Verfassung aufzunehmen, die im Schatten des Militärputsches erarbeitet worden war. Tatsächlich haben sowohl die Reformen vor der AKP ebenso wie die jüngsten Verfassungsänderungen unter ihrer Ägide den antidemokratischen Kern der »Militärverfassung« nicht verändert – als Beispiel sei die beibehaltene Zehn-Prozent-Hürde bei Parlamentswahlen genannt, die regelmäßig zu einem großen Repräsentationsdefizit führt.

Seit Regierungsantritt hat die AKP ihre Politik des Ein- und Ausschlusses erfolgreich durchgesetzt – auch während der Referendumskampagne. So konnte die Partei zahlreiche andere Parteien mit ihrer Linie artikulieren, d.h. ihrer »Ja«-Kampagne hinzufügen. Um sich zu vergegenwärtigen, in welchem Ausmaß sie dabei erfolgreich war, sei aus der folgenden Rede Erdoğans zitiert, in der er sich unmittelbar nach dem Referendum bei verschiedenen Organisationen aus unterschiedlichen Spektren bedankt:

»Für ihre Unterstützung von Anfang an gratuliere ich meinen Brüdern von der Glückseligkeitspartei (Saadet Partisi), gratuliere ich meinen Brüdern von der Partei der Großen Einheit (Büyük Birlik Partisi), gratuliere ich meinen Brüdern von der Partei der Völker und Freiheiten (Halklar ve Özgürlükler Partisi), gratuliere ich den unabhängigen Idealisten (Ülkücüler), gratuliere ich kurdischen Intellektuellen und meinen Brüdern von der Revolutionären Sozialistischen Arbeiterpartei (DSİP), gratuliere ich den Liberalen... ich gratuliere meinen Brüdern in der AKP«.

Bei der trotzkistischen DSİP, der pro-islamischen SP, den ultranationalistischen Ülkücüler und den BBPlern, liberalen Intellektuellen und kurdischen Intellektuellen – bei allen zugleich bedankte sich der Premierminister für ihre jeweiligen Bemühungen. Wie konnte die AKP ihre Allianz derart vergrößern? Die Antwort liegt maßgeblich in jenem Lagerdiskurs, dessen sich die Partei während der Kampagne bediente. Er ermöglichte es ihr, mit großer Leichtigkeit gesellschaftliche Allianzen zu bilden. Dabei vermied die Partei zu erwähnen, was sie im Detail ändern wollte, und umging so alles, was ihre Allianz hätte stören oder ihren oppositionellen Diskurs hätte beschädigen können. Diese Allianz besteht über das Referendum hinaus. Innerhalb dieses weiten Spektrums werden die Verfassungsänderungen bislang nicht in Frage gestellt, obwohl die Versprechen von Wandel, Demokratie und Freiheit nicht erfüllt wurden.

Durch eine neue Verfassung, deren Geist sich in den vorliegenden Änderungen bereits andeutet, würde die Macht Erdoğans und seiner Partei weiter gestärkt und das neoliberale Regime vertieft werden. Ein Präsidialsystem, das die Tendenz zum Autoritarismus weiter stärken würde, ist bereits in der Diskussion. Da die AKP in den letzten Parlamentswahlen nicht die für Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit erreichen konnte, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie – um Allianzen zu bilden – ihre bisherige diskursive Strategie weiterverfolgen wird. Die mögliche neue Verfassung wird bereits unter dem Label einer »zivilen Verfassung« diskutiert, die einen weiteren Schritt zur »fortschrittlichen Demokratie« bilden soll. Es ist wahrscheinlich, dass die AKP für einen neuen Referendumsprozess wieder dieselbe Allianz mobilisieren wird.