Von Turan Subaşat
Das ökonomische Wachstum unter der AKP-Regierung wird oftmals als Wirtschaftswunder am Bosporus bezeichnet. Anhand einer kritischen Interpretation makroökonomischer Eckdaten und eines Vergleichs mit anderen Ländern kann jedoch aufgezeigt werden, dass das Wachstum überbewertet wird, es sich vielmehr um eine „Bubble Economy“ handelt.
Das ökonomische Wachstum unter der AKP-Regierung wird oftmals als Wirtschaftswunder am Bosporus bezeichnet. Anhand einer kritischen Interpretation makroökonomischer Eckdaten und eines Vergleichs mit anderen Ländern kann jedoch aufgezeigt werden, dass das Wachstum überbewertet wird, es sich vielmehr um eine „Bubble Economy“ handelt.
Die türkische Wirtschaft wird als erfolgreich und für Schwellenländer
als Vorbild betrachtet. Auf den ersten Blick scheint diese Wahrnehmung belegbar.
Seit 2002 haben sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die Exporte verdreifacht;
die Inflation wurde unter Kontrolle gebracht und die Staatsschulden vermindert.
Die Regierung und ihre Unterstützer werden nicht müde zu behaupten, die Türkei könne
bis zum Jahr 2023 die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt werden. Diese
positive Darstellung findet Unterstützer in den Medien, ebenso wie in akademischen
Kreisen. Der „Erfolg“, mit dem dieser Artikel sich kritisch auseinandersetzt, wird
als unbestrittene Wahrheit zelebriert.
Dieser Artikel betrachtet den 2001 einsetzenden
zweiten Neoliberalisierungsschub in der Türkei, der ab 2002 unter der Regie der
AKP-Regierung stand. Das zentrale Argument lautet: Obwohl die Türkei relevante ausländische
Investitionen angezogen hat, wurde nur ein kleiner Teil dieser Investitionen in
die Produktion gelenkt. Somit ist die türkische Ökonomie eine weitere „Bubble
Economy“, in der das Wirtschaftswachstum an der inländischen Nachfrage hängt
und demnach auch kein Wunder, nicht mal eine kleine Erfolgsgeschichte.
Bruttoinlandsprodukt und Exporte
Eine echte Erfolgsgeschichte braucht die Berücksichtigung einiger
Kriterien. Erstens sollten die für die Beurteilung eines (vermeintlichen) Erfolges
genutzten Daten behutsam gewählt werden. Im Falle des Bruttoinlandsprodukts
müssen konstante Preise zugrunde gelegt werden, weil sonst ein Anstieg im aktuellen
Kurs des Bruttoinlandsprodukts aus Preisschwankungen resultieren kann, die
keinen realen Anstieg in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen widerspiegeln.
Das reale Bruttoinlandsprodukt hält die Preise konstant und misst die
Änderungen der Produktion. Grafik 1 stellt das Bruttoinlandsprodukt der Türkei
und die Exporte in Marktpreisen und konstanten Preisen dar. Sowohl das BIP als
auch die Exporte bilden sich zu Marktpreisen in einem deutlichen Knick ab, während
unter der Annahme konstanter Preise dieser Knick nicht erkennbar ist.
Grafik 1:
BIP und Exporte in der Türkei zu Marktpreisen und konstanten Preisen
|
Erfolg ist stets ein relatives Konzept und die externen
Bedingungen sollten immer in die Betrachtung einbezogen werden. Deshalb wäre es
interessant, die Türkei mit anderen Ländern zu vergleichen. Während in den
früheren Jahren der AKP die externen Bedingungen sehr günstig waren, hat sich dies
nach der globalen Finanzkrise geändert. Weil ein Vergleich von über 200 Ländern
aber unpraktisch wäre, wird die Performance der Türkei mit verschiedenen Einkommensgruppen
verglichen.
Grafik 2 stellt das BIP und die Exporte der Türkei in
Prozent des BIP und der Exporte der Vergleichsgruppen, also Länder der
Kategorie „hohe“, „obere-mittlere“, „niedrig-mittlere“ und „niedrige“ Einkommen,
dar. Im Vergleich zu den anderen Ländern impliziert ein Anstieg in der Grafik ein
schnelleres Wachstum der Türkei, während umgekehrt ein Rückgang ein langsameres
Wachstum impliziert. Indien wird hierbei zur niedrig-mittleren Einkommensgruppe
gezählt, China zur oberen-mittleren Einkommensgruppe. Da der Vergleich der
Türkei mit diesen sehr großen und schnell wachsenden Volkswirtschaften unfair
wäre, werden die entsprechenden Grafiken zusätzlich noch unter Ausschluss von
Indien und China dargestellt.
Wenn man sich Grafik 2 anschaut, sieht man, dass das
BIP in der Türkei zwischen den Jahren 1987 und 1999 schneller als das der
anderen Länder gewachsen, zwischen den Jahren 1999 und 2002 wegen des Erdbebens
1999 sowie der Finanzkrise 2001 gesunken ist. In den Jahren 2002 bis 2011 ist
das BIP der Türkei allerdings lediglich schneller als das BIP der Länder mit
hohem Einkommen gestiegen. Diese Länder hatten eine der schlimmsten
Finanzkrisen ihrer jüngeren Geschichte erlitten. Mit anderen Worten: Die Türkei
scheint nur dann erfolgreich, wenn man das Wachstum ihres BIP mit Ländern der hohen
Einkommensgruppe vergleicht. Für alle anderen Einkommensgruppen ist das BIP der
Türkei relativ gesunken. Mit Blick auf die Exporte offenbart die Türkei unter
der AKP eine trübe Bilanz: Während das Land sich zwischen den Jahren 1987 und
1999 erfolgreicher als alle anderen Einkommensgruppen darstellt, scheint davon während
der AKP-Periode keine Rede mehr zu sein, zumal der Rückgang 1999 begann.
Diese Feststellungen bedürfen einer weiteren Ausführung,
weil sie in den meisten Debatten über die Handels- und Zahlungsbilanzen der
Türkei wenig Beachtung finden. Ein Gemeinplatz besagt, die Exporte der Türkei
seien in der Periode der AKP sehr schnell gewachsen. Doch die Importe sind noch
schneller angestiegen und haben den Handel und die gegenwärtige Zahlungsbilanz
ins Defizit gebracht. Häufig heißt es, das Handels- und das Leistungsbilanzdefizit
seien ein permanentes strukturelles Merkmal der türkischen Ökonomie. Ob das
stimmt oder nicht, kann leicht nachvollzogen werden, indem die Wachstumsraten
der Importe und Exporte in der Türkei miteinander verglichen werden.
Grafik 3 stellt in beiden Perioden die Wachstumsraten
der Importe und Exporte zu Marktpreisen und zu konstanten Preisen dar. Grafik 3A
unterstützt die allgemeine Wahrnehmung: Obwohl während der Ära der AKP die
Exporte beachtlich gestiegen sind, sind die Importe noch schneller gestiegen. Dieser
Effekt erhöhte das Handelsbilanzdefizit. Grafik 3B dagegen erzählt eine andere
Geschichte. Die Wachstumsraten der realen Exporte fielen von 9 Prozent in der
Zeit vor der AKP auf 5,3 Prozent während der AKP-Periode, wohingegen die
Wachstumsraten der realen Importe von 9,6 auf 9,7 Prozent angestiegen sind. Mit
anderen Worten: Während der AKP-Periode haben sich das Handels- und das
Leistungsbilanzdefizit nicht aufgrund relativ steigender Importe vergrößert,
sondern vor allem infolge rasant fallender realer Exporte (d.h. in konstanten
Preisen), was wiederum mit überbewerteten Wechselkursen zusammenhängt.
Leistungsbilanzdefizit
Die Türkei ist eines der Länder mit dem höchsten Anstieg des Leistungsbilanzdefizits.
Wenn wir mit ein paar einfachen Beobachtungen anfangen, sehen wir, dass vor der
AKP-Periode (1990 - 2002) die durchschnittliche Handelsbilanz relativ zum BIP 0.73
Prozent betrug. In der AKP-Periode war es dann -0,5 Prozent, was auf einen
radikalen Anstieg hindeutet. Die erste Methode in Tabelle 1 stellt den Rang der
Türkei in Bezug auf die Leistungsbilanz relativ zum BIP in beiden Perioden dar.
Große Zahlen weisen auf ein kleineres Leistungsbilanzdefizit oder einen höheren
Leistungsbilanzüberschuss hin. Beispielsweise hat in der AKP-Periode Grenada das
höchste Leistungsbilanzdefizit im Verhältnis zum BIP (-25,7 Prozent). Grenada
wurde an erste Stelle in der Liste gesetzt. Kuwait wiederum hatte den höchsten Leistungsbilanzüberschuss
relativ zum BIP (31,3 Prozent) und wurde an 104. Stelle gesetzt. Unter 104
Ländern steht die Türkei an 77. Stelle vor der AKP-Periode und an 41. Stelle in
der AKP-Periode. Die Türkei ist in der Liste also um 36 Plätze nach oben gestiegen,
nur Island (45 Stufen) sowie Mauritius (42 Stufen) haben mehr Stufen als die
Türkei übersprungen. Das heißt, der Anstieg des Leistungsbilanzdefizits der
Türkei ist größer als bei den meisten anderen Ländern weltweit.
Tabelle
1: Der Rang der Türkei in der Welt in Bezug auf die Leistungsbilanz mit
alternativen Methoden
Methode
|
Vor der AKP Periode
(1990-2002)
|
AKP Periode
(2003-2011) |
Unterschied
|
1.Leistungsbilanz relativ zum BIP
|
77
|
41
|
36
|
2. Änderung der Leistungsbilanz relativ zum BIP
(alternative Methode)
|
60
|
14
|
46
|
3. Änderung der Leistungsbilanz (kumulative
Index Methode).
|
25
|
6
|
19
|
Notiz: Große Zahlen weisen auf ein geringeres Defizit oder einen
größeren Leistungsbilanzüberschuss hin. Die Kalkulationen beinhalten 104
Länder.
Quelle: berechnet aus „World Development Indicators“
Quelle: berechnet aus „World Development Indicators“
Diese Trends werden von Grafik 4, die die Unterschiede zwischen der
Leistungsbilanz der Türkei und den Einkommensgruppen, die vorher benutzt
wurden, bestätigt. Die Daten zeigen ein klares Bild. Die Leistungsbilanz der
Türkei verschlechtert sich viel schneller während der AKP-Periode als die aller
anderen Einkommensgruppen.
Auslandsschulden
Schnell ansteigende Auslandsschulden, die mit hohem
Leistungs- und Handelsbilanzdefizit einhergehen, sind eine andere wichtige
Schwäche der türkischen Wirtschaft. Während das Handelsbilanzdefizit und die Auslandsschulden
eng miteinander zusammenhängen, fallen nicht alle geliehenen Gelder in die
Kategorie der externen Schulden. Auslandsschulden beinhalten beispielsweise
nicht die Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit dem Zufluss von ausländischen Direktinvestition,
Portfolioinvestitionen in Eigenkapital oder netto-Eigenkapital bei
ausländischen Lebensversicherungen und Pensionsfonds. Deswegen offenbaren die Auslandschulden
nicht die mit „unerwartet versiegenden Kapitalzuflüssen“ und „Umkehr der
Leistungsbilanz“ verbundenen realen Risiken. Die „internationalen
Investitionspositionen“ (IIP), die die Differenz zwischen den externen
Aktivposten und Verbindlichkeiten eines Landes darstellen, sind ein brauchbares
alternatives Konzept.
Jedoch gibt es Gründe, an der Richtigkeit der IIP-Kalkulationen
der türkischen Zentralbank zu zweifeln. Ein relativ zaghafter Anstieg der IIP relativ
zum BIP ist überraschend in einem Land, in dem das Leistungsbilanzdefizit einen
rasanten Anstieg erfahren hat. Wenn die Anpassungen an IIP infolge von Wechselkursschwankungen
und Veränderungen des Marktpreises [Veränderungen des Marktwerts einer
Investition oder Finanzanlage über eine bestimmte Zeitspanne, Anm. d. Red.] nicht
beachtet werden, ist IIP nicht mehr als eine kumulative Kalkulation der Leistungsbilanz
und kann somit als „gegenwärtiger Kontostand“ betrachtet werden. Die Beurteilung
der Genauigkeit der IIP-Kalkulationen der Zentralbank ist nicht leicht. Während
Daten zur Zahlungsbilanz leicht zugänglich sind, sind es Informationen zur
Kalkulation des Einflusses von Veränderungen im Marktpreis nicht. Der Einfluss
der Wechselkursschwankungen ist auch schwer zu kalkulieren. Hingegen kann man
IIP leichter berechnen, indem man allein die „externe netto Kreditaufnahme“ (IIPBP)
benutzt und die (oben genannte) Anpassung nicht in Erwägung zieht. Weil IIPBP
die Anpassungen an die Kalkulationen von IIP ausschließt, stellt es eher die „externe
netto Kreditaufnahme“ dar als den „externen Schuldenstand“. Wenn es keine Wechselkursschwankungen
und Veränderungen in den Marktpreisen gäbe, wären die netto Kreditaufnahme im
Ausland und die netto Schulden gleich, der Unterschied zwischen diesen beiden
Maßstäben (IIP und IIPBP) läge bei null.
Im Normalfall sollte die externe netto Kreditaufnahme
(IIPBP) eines Landes geringer sein als der externe netto Schuldenstand (IIP),
weil Investoren erwarten würden, mit ihren Investitionen in der Türkei Gewinne
zu erwirtschaften. Falls, aus irgendeinem Grund, der „externe netto Schuldenstand“
niedriger wäre als die „externe netto Kreditaufnahme“, würden die Investoren
Verluste machen. Während es nicht außergewöhnlich ist, dass Investoren von Zeit
zu Zeit Verluste aufgrund von Wechselkursschwankungen oder Veränderungen in den
Marktpreisen machen, wäre es doch komisch, wenn sie weiterhin in eine
Wirtschaft investieren würden, in der sie systematisch und langfristig Verluste
machen.
Weil also solche Verluste langfristig keinen Sinn
machen, kann man vermuten, dass etwas mit der Kalkulation beim IIP falsch ist. Angenommen,
IIPBP ist ein exaktes Maß der externen netto Kreditaufnahme der Türkei und die
ausländischen Investoren profitieren von ihren Investitionen in der Türkei, so
reflektiert selbst der radikale Anstieg von IIPBP während der AKP-Periode nicht
das wirkliche Ausmaß des externen netto-Schuldenstands der Türkei.
Zum Schluss sollte man die "netto Fehler und
Auslassungen", die unter der AKP Regierung systematisch ansteigen, näher
betrachten. Vor der AKP-Regierung waren die netto Fehler und Auslassungen
relativ gering und hatten positive wie negative Werte. Aber in der AKP-Periode blieben
sie konsequent positiv und wurden größer. 2011 beliefen sie sich auf 11,4
Milliarden US-Dollar und betrugen somit 1,5 Prozent des BIP. Im Juli 2013 haben
sie in einem Monat 4,8 Milliarden US-Dollar erreicht. Das zeigt, dass die
Türkei unter der AKP-Regierung umfangreiche Kapitalzuflüsse aus unbekannten Quellen
erhalten hat. Wenn man nun diese Kapitalzuflüsse aus unbekannten Quellen berücksichtigt,
steigt das IIPBP relativ zum BIP erheblich von 41 Prozent auf 46 Prozent im
Jahr 2012 (Grafik 5).
Fazit
Die AKP-Periode ist geprägt von einem radikalen
Anstieg an Kapitalzuflüssen. Dennoch stimuliert dieser Anstieg viel eher den
inländischen Konsum als Investitionen und Wirtschaftswachstum. Obwohl
beachtliche externe Gelder angezogen werden konnten, ist das
Wirtschaftswachstum der Türkei mäßig und blieb geringer als das der mittleren
und niedrigen Einkommensländer. Obwohl das Wirtschaftswachstum von externen
Ressourcen und von einem Anstieg des Leistungsbilanzdefizits abhängig wurde,
legte die Regierung dies ungeachtet der Folgewirkungen als Grund zur Freude
aus. Der Punkt ist, dass es der Türkei mit der gegenwärtigen
Entwicklungsstrategie nicht möglich sein wird, auf einen nachhaltigen
Wachstumspfad zu gelangen.
___________________________________
Dieser Beitrag basiert auf dem Artikel des Autors „The
Political Economy of Turkey's Economic Miracle”, erschienen in Journal of
Balkan and Near Eastern Studies, Volume 16, Issue 2, 2014.
Turan
Subaşat arbeitet an der Universität Muğla, Fachbereich
Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften.