Von
Mustafa Sönmez
Eine Analyse der
Wirtschaftspolitik in der AKP-Ära anhand der Nutzung von Krediten offenbart
eine Orientierung auf den Bau-, Handels- und Dienstleistungssektor und im
Gegenzug eine Schwächung produzierender Sektoren. Diese Strategie verspricht
zwar hohe Gewinne für die Investoren aber keine nachhaltige Entwicklung für die
Gesamtökonomie.
Die
Wirtschaftspolitik der 12-jährigen AKP-Ära hat die Industrieproduktion in den
Hintergrund gedrängt und die auf Spekulationsgewinne in Istanbul fokussierte
Bauwirtschaft, den Einzelhandel und Dienstleistungssektoren gefördert. Diese
Sektoren zeichnen sich durch hohe Auslandsverschuldung und starke Wechselkursrisiken
aus. Dies schwächt zum einen die Möglichkeiten der Türkei, Devisen zu nutzen, zum
anderen verliert die Industrie dadurch an Wettbewerbskraft. Auch neue Zahlen
belegen, dass sich die Türkei von der Industrieproduktion entfernt und am Bau-,
Handels- und Dienstleistungssektor orientiert. Die von der Zentralbank
veröffentlichten Zahlen für September 2014 zeigen die Entwicklung der
langfristigen Auslandsschulden der Privatwirtschaft seit 2002. Die Nutzung von Krediten
in anderen Sektoren als der Produktion belegen, dass sich diese Entwicklung in
den letzten 12 Jahren verfestigt hat.
Statt
Industrie eine neue Bau-Ära
Laut den Zahlen
der Türkischen Zentralbank hatten Privatfirmen 2002 rund 27 Prozent der
Auslandskredite in Höhe von 29 Mrd. Dollar für Investitionen in die Industrieproduktion
genutzt. 2014 hatte sich die Summe der Kredite auf 164 Mrd. Dollar erhöht,
während der für die industrielle Produktion verwendete Anteil auf 13,6 Prozent (22,2
Mrd. Dollar) zurückging. Circa 40 Prozent der gesamten Auslandsverschuldung von
rund 402 Mrd. Dollar fällt auf die langfristigen Auslandskredite der
Privatwirtschaft. Die kurzfristigen Kredite der Privatwirtschaft und die
Auslandsverschuldung der öffentlichen Hand machen insgesamt 238 Mrd. Dollar aus
[1].
Die sektorale
Verteilung und die jährlichen Veränderungen der langfristigen Auslandskredite
der Privatwirtschaft untermauern die beschriebene Entwicklung. Diese Kredite
wurden mehrheitlich von Privatbanken vermittelt und im Inland an
Konsument*innen und Firmen vergeben. Während die Auslandskredite der Banken in
2002 rund 3 Mrd. Dollar betrugen, erhöhten sie sich im September 2014 auf 63
Mrd. Dollar. Bei der sektoralen Verteilung der langfristigen Auslandskredite
zwischen den Jahren 2002 und 2014 ist die Konzentrierung auf Bau- und
Immobiliensektor besonders deutlich. Während die Firmen in diesen Sektoren 2002
rund 1,5 Mrd. Dollar Kredite aufnahmen, erhöhte sich diese Summe 2014 auf 13
Mrd. Dollar. Ihr Anteil an der Gesamtsumme erhöhte sich von 5 auf 8 Prozent.
Die Transport- und
Kommunikationssektoren haben ihren Anteil von 3,6 auf 7 Prozent erhöht. Es ist
bekannt, dass insbesondere die private Luftfahrt (THY-Turkish Airlines) und
Handynetzbetreiber die meisten Kredite aufnehmen. Die Energiewirtschaft, die [im
Zuge des Verkaufs ehedem öffentlicher Unternehmen, Anm. d. Red.] mit 62 Mrd.
Dollar rund 35 Prozent der Privatisierungserlöse eingebracht hat, nutzte bei
diesen Privatisierungsmaßnahmen überwiegend Auslandskredite. Bei der
Privatisierung der Stromverteilungs-Netzbetriebe und der öffentlichen
Stromkraftwerke haben sich die Firmen im Ausland mit 9 Mrd. Dollar verschuldet.
Deindustrialisierung
Tabelle 1: Die
sektorale Orientierung der Auslandskredite der Privatwirtschaft (in: Mio.
Dollar)
|
Gesamt
|
Banken
|
Dienst-leistungen
|
Produktion
|
Strom-Gas
|
Sonstige
|
2002
|
29.202
|
3.061
|
9.171
|
7.762
|
4.223
|
4.985
|
2006
|
82.285
|
22.234
|
20.445
|
17.329
|
3.586
|
18.691
|
2010
|
119.835
|
28.755
|
43.031
|
22.899
|
9.443
|
15.706
|
2014-3.Q
|
163.585
|
63.296
|
51.911
|
22.254
|
9.170
|
16.955
|
Hinweis: Die Berechnungen basieren auf Zahlen der
Türkischen Zentralbank
In den
verschiedenen Bereichen der Produktion sind unterschiedliche Entwicklungen zu
verfolgen: Der Anteil der Sektoren mit niedrigem Mehrwert wie Nahrung, Getränke
oder Tabakproduktion ist von 4 Prozent (2002) auf 2,5 Prozent (2014)
zurückgegangen. In der Textilproduktion ist ein ähnlicher Rückgang zu
beobachten: Der Anteil dieses Sektors an den Auslandskrediten ist von 4 Prozent
auf 1,6 Prozent gefallen. In der Metallindustrie, vor allem der Stahlindustrie,
ist ein Rückgang von 4 auf 2 Prozent zu verzeichnen, ebenso im Automobil- und
Schiffsbau. Ein starker Rückgang fand in der Chemieindustrie statt: von 3,6 auf
1 Prozent. In der Summe lässt sich festhalten: Während 2003 noch 42,5 Prozent
der Bankkredite in die industrielle Produktion flossen, sank dieser Anteil 2014
auf 21 Prozent. All dies weist auf das enorme Ausmaß der Deindustrialisierung
in der Türkei hin [2].
Bankenkredite
und sektorale Verteilung
Die Orientierung
auf die Bauwirtschaft und andere Dienstleistungssektoren während der Periode des
Wirtschaftswachstums kann auch bei den Bankkrediten in Türkischer Lira
beobachtet werden. Laut den Feststellungen des Generaldirektoriats für Banken
und Finanzinstitute der Zentralbank haben sich, während das durch
Auslandskredite finanzierte Kreditvolumen rasant wuchs, in den
kreditaufnehmenden Sektoren zwischen 2003 und 2014 wichtige Veränderungen
ergeben. In 2003 betrugen die Kredite der Banken an Firmen und Konsument*innen
rund 69,6 Mrd. Türkische Lira, was 15,2 Prozent des BIP entsprach. Aufgrund des
weltweiten konjunkturellen Liquiditätsüberflusses wuchs das Kreditvolumen der
Banken rasant. Im September 2014 belief sich das gesamte Kreditvolumen auf
1.195 Mrd. Türkische Lira (446 Mrd. Euro). Das bedeutet ein Kreditvolumen von
67,8 Prozent des BIP. Dieser Anstieg des Kreditvolumens von 15 auf 67,8 Prozent
des BIP regte das binnenwirtschaftliche Wachstum an.
Bei den
Kreditvergaben lagen die Konsumentenkredite vorne. 2013 war deren Anteil von 10
auf 26 Prozent gewachsen. Während Wohnungsfinanzierungen rund ein Drittel der
Kredite ausmachten, waren Bedarfskredite für die Begleichung von
Kreditkartenschulden deutlich gestiegen. In den letzten 12 Jahren, in denen ein
rasanter Anstieg des Einzelhandels, des Importes und des Baus von
Einkaufszentren zu beobachten war, hat sich der Anteil des Handelssektors an den
Bankkrediten von 10,5 auf 14 Prozent erhöht. Der Bau- und Immobiliensektor, der
durch die Wohnungsfinanzierungen rasant wuchs, hat seinen Anteil an den
Bankkrediten von 8,3 Prozent (2003) auf 11,5 Prozent (2014) erhöht. Während
sich der Anteil des Transport- und Kommunikationssektors, vor allem der zivilen
Luftfahrt und der Handynetze bei 5 bis 6 Prozent hielt, trat der Energiesektor
mit 5 Prozent der Bankkredite in Erscheinung.
Die beschriebenen
Verschiebungen lassen sich auch am rückläufigen Anteil der Binnenmarktsektoren
am BIP ablesen. Dieser Rückgang beschleunigte sich in den 2000er Jahren,
nachdem in den 1980er Jahren die staatlichen Wirtschaftsunternehmen
privatisiert und die öffentliche Hand aus der Industrie heraus gedrängt worden
war. Während 2003 der Anteil der Industrieproduktion am BIP 17,6 Prozent
betrug, hat er sich in den nachfolgenden Jahren nicht erhöht und fiel 2013 auf
15,3 Prozent. Im ersten Halbjahr 2014 wurde dieser Anteil mit 16,3 Prozent
notiert. Demgegenüber hat sich der Anteil des Bau- und Immobiliensektors von
12,5 (2003) auf 14,4 Prozent (2013) erhöht. Im ersten Halbjahr 2014 wurden 15
Prozent notiert.
Tabelle 2: Die
Anteile der Industrieproduktion und des Bau- und Immobiliensektors am BIP: 2003
- 2014 2.Q. (in Prozent)
|
2003
|
2005
|
2007
|
2009
|
2011
|
2013
|
2014 2.Q.
|
Industrieproduktion
|
17,6
|
17,1
|
16,7
|
15,1
|
16,1
|
15,3
|
16,3
|
Bau/Immobilien
|
12,5
|
13,9
|
15,9
|
16,5
|
14,7
|
14,4
|
15,0
|
Fazit
Aufgrund der
Geldpolitik in den letzten Jahren kam es zu einer relativen Überbewertung der
Türkischen Lira [insbesondere durch hohe Zinsen, Anm. d. Red.]. Für die
Unternehmen wurde es attraktiver, anstatt in die Produktion in andere Sektoren
zu investieren, die eine höhere Rentabilität versprachen. 2013 wuchsen im
Industriesektor zwar die Produktion, die Kapazitätsnutzung, die Beschäftigung
und der Importanteil, aber die privaten Investitionen und der Export nahmen ab.
Während zwischen Januar und August 2014 in Produktion, Export und Beschäftigung
zwar eine Erhöhung zu beobachten ist, wird bei Import und Kapazitätsnutzung ein
Rückgang festgestellt. Die Privatinvestitionen blieben dagegen auch im zweiten
Halbjahr 2014 rückläufig. Aktuell werden die Abhängigkeit vom Auslandskapital
und das wachsende Handelsbilanzdefizit von einem Rückgang in der
Binnennachfrage begleitet. Die niedrige Nachfrage an den internationalen
Märkten sowie die negativen Entwicklungen im Exportmarkt „Naher Osten“ verstärken
die Tendenz, dass Industrieexport und Industrieproduktion sich nur gering erhöhen.
Aus diesen Gründen bleibt der Anteil der Industrieproduktion am BIP in der Tendenz
weiterhin rückläufig.
_________________________________
[1] Kurzfristige
Kredite laufen kürzer als 12 Monate, sind daher gegenüber
Währungskursschwankungen sehr anfällig und werden als risikobehaftet angesehen (Anm.
d. Red.).
[2] Üblicherweise
werden in der makroökonomischen Disziplin derartige sektorale Verschiebungen in
relativen Zahlen gemessen. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt und zu den
anderen Sektoren sind die Investitionen in die industrielle Produktion
gesunken, was in der Fachsprache - für den Laien möglicherweise irreführend -
„Deindustrialisierung“ genannt wird. In absoluten Zahlen ist aber immer noch
eine Verdreifachung der Investitionen in die Produktion festzustellen,
wenngleich der relative Anteil stetig sinkt (Anm. d. Red).
Mustafa Sönmez
schreibt hauptsächlich zu Themen der Politischen Ökonomie der Türkei und hat
derzeit eine regelmäßige Kolumne bei der Tageszeitung Birgün und der Hürriyet
Daily News.