Von Michael Backmund
Die Aufstände in der Westtürkei und die Kommune vom Gezi-Park
haben die Türkei radikal verändert und die Voraussetzungen für soziale Kämpfe
in der Türkei und in Kurdistan deutlich verbessert. Zugleich stehen sie in
einer engen Verbindung mit der Entwicklung in Syrien und dem gesamten
kurdischen Raum, denn ohne Frieden droht ein Ersticken der (Gezi-)Aufstandsbewegung
durch die in einer schweren Krise befindliche repressiv-islamistische AKP.
Auf der Fahrt zurück von Tarlabaşı nach Eminönü begann der junge Taxifahrer auf dem Weg durch die verstopften Straßen nach seiner Frage, ob wir gerade auf dem Taksimplatz gewesen seien, zunächst leise und dann immer selbstbewusster zu erzählen: »Auch ich bin ein Çapulcu! Drei Tage habe ich im Gezi-Park übernachtet. Diese Proteste werden unser Land verändern, die Erfahrungen, die wir jungen Türken, Aleviten, Kurden und viele andere zusammen gemacht haben, kann uns niemand mehr nehmen.« So zufällig und flüchtig die Begegnungen in diesen Istanbuler Juninächten auch sein mochten, so offen und interessiert wurde am Bosporus schon lange nicht mehr über das Schicksal der Türkei und Kurdistans und über die Notwendigkeit einer umfassenden Demokratisierung im gesamten Land gesprochen.
Drei sehr konkrete Momente der Aufstände verweisen
auf die strategische Perspektive der Kommune vom Gezi-Park und die
Möglichkeiten des Klassenkampfes in der Türkei und Kurdistan: Die Gezi-Proteste
haben die herrschende Deutungshoheit der türkischen Eliten und ihrer
Massenmedien gebrochen. Bislang waren immer »die Anderen« und insbesondere »die
Kurden« die Terroristen. Seit Erdoğan und die AKP die DemonstrantInnen als
»Marodeure und Terroristen« bezeichnet, gibt es eine selbstbewusste Antwort der
Diffamierten: »Dann sind wir eben alle Marodeure und Terroristen«, riefen sie
der Staatsmacht entgegen. Bei den Großdemos am Taksim und im Gezi-Park waren
erstmals kurdische Transparente, PKK-Fahnen und Bilder von Abdullah Öcalan ganz
selbstverständlich neben den Transparenten von FeministInnen, AnarchistInnen
und KommunistInnen zu sehen. Und nach der Ermordung eines kurdischen Jugendlichen
in Lice bei Diyarbakır fanden erstmals in Istanbul und der Westtürkei
Solidaritätsdemos statt unter dem Motto »Taksim ist überall, Lice ist überall –
überall ist Widerstand«. Diese Solidarität einer breiten Protestbewegung in der
Türkei mit der kurdischen Freiheitsbewegung als Ausdruck horizontaler
Selbstermächtigung eröffnet eine Perspektive für gesamtgesellschaftliche
Veränderungen mit einer antihegemonialen und antichauvinistischen Position.
Drei
Thesen zur aktuellen Situation in der Türkei und Kurdistan:
1.These:
Die Kommune vom Gezi-Park und die
Aufstände in der gesamten Westtürkei haben die Gesellschaft in der Türkei
radikal verändert. Das ist – unabhängig davon, wie es weiter geht – der
historische Erfolg dieser Aufstände.
2.These:
Dadurch sind die Voraussetzungen für einen
erfolgreichen Klassenkampf in der Türkei und in Kurdistan deutlich verbessert
worden. Es gibt erstmals seit Jahrzehnten wieder eine reale Chance für eine
grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der gesamten
Türkei.
3.These:
Zwischen den Taksim-Aufständen, dem
kurdischen Friedensprozess und der kurdischen Autonomie in Rojava/Westkurdistan
sowie der Entwicklung in Syrien besteht ein Wechselverhältnis. Das ist eine
Chance und zeigt zugleich die Komplexität der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse
und die Gefahr einer reaktionären Eskalation.
Die
wichtigsten Akteure und die Dynamik der Aufstände
Diese Gruppen bestimmten die Dynamik der
Aufstände:
§ Junge Menschen und Studierende: Sie haben
die Nase voll von der autoritären Bevormundung: von Internetzensur, Einschränkung
des Alkoholkonsums, patriarchalen Körperpolitiken incl. Abtreibungsverbot, repressiven Geschlechterrollen und Kleidernormen,
sowie von einer Familienpolitik, bei der laut Erdoğan »alle jungen Frauen drei
bis fünf Kinder gebären sollen«. Dazu kommen eine rasante neoliberale
Umstrukturierung des gesamten Bildungssystems und damit prekäre
Zukunftsperspektiven auch für die Mehrheit der angehenden AkademikerInnen.
§ Frauen, Lesben, Schwule und Transgender: Sie
sind von den herrschenden Geschlechtervorstellungen und der autoritär-patriarchalen
AKP-Politik besonders stark betroffene gesellschaftliche Gruppen.
§ Junge kurdische Militante in Istanbul –
mit den praktischen Erfahrungen und dem Mut, gegen die Polizei zu kämpfen. Sie
sind von der urbanen Vertreibungspolitik besonders hart getroffen.
§ Fußballfans als soziale und politische
Milieus, die sich der repressiven Polizei, dem Alkoholverbot und einem
Politikverbot in den Stadien ausgesetzt sehen. Sie bringen eine lange Tradition
als sozialer Raum des subkulturellen »Überlebens« nach dem 1980er Putsch mit.
§ Die sogenannten »Weißkragen«: prekäre
ArbeiterInnen in den Dienstleistungsbranchen – von marginalisiert und schlecht
bezahlt bis zu extrem gut bezahlten Angestellten (aber freiberuflich-prekär
arbeitend)
§ Die alten, erfahrenen Militanten der
sozialistischen Linken
§ Und insbesondere auch eine undogmatische
neue Linke des 21. Jahrhunderts, die global sehr gut vernetzt und ideologisch
auf der Höhe des internationalen politischen Diskurses ist: Seit Jahren aktiv
gegen Gentrifizierung, den Abriss des alten Minderheiten- und
MigrantInnenviertels Tarlabaşı, im internationalen No-Border-Kampf verankert.
Sie ist teilweise involviert in die bisher noch lokalen, aber landesweit
erstarkenden Proteste gegen Umweltzerstörung und AKWs und sie ist lokal aktiv
gegen die Istanbuler Abschiebeknäste, in den Netzwerken gegen globalen
Kapitalismus, Krieg und Patriarchat. Ein Beispiel: Das Netzwerk Our Commons.
Alle zusammen haben einen kreativen neuen
Raum geschaffen: Die Kommune vom Gezi-Park war ein Laboratorium, ein Ort des
Experiments und des Erfolgs, der Realität von basisdemokratischen Diskussions-
und Entscheidungsstrukturen, von der Aufhebung von Kopf- und Handarbeit. Gezi
war überall in der Westtürkei, und die Türkei war wie in einem Mikrokosmos auch
im Gezi-Park präsent. Es war eine Erfahrung im Geist der »Pariser Kommune«, der
Revolten auf den Plätzen der Welt – von Athen über Tunis, Kairo, New York, Frankfurt
bis Sao Paulo und Mexico City.
Erstmals hat eine türkisch-kurdische
Generation, die in den 1990er Jahren geboren wurde, gemeinsam auf der Straße
gegen die Staatsmacht gekämpft: »Wir sind so froh, dass wir endlich in der
Gegenwart des globalen Widerstandes gegen Kapitalismus und Krieg angekommen
sind«, sagte mir eine politische Freundin am 22. Juni 2013 auf dem Taksim, als
erstmals nach der Räumung des Gezi-Parks und den sich anschließenden tagelangen
Straßenschlachten wieder zehntausende Menschen auf dem Taksim demonstrierten.
Die Antwort auf die alten Politikmodelle der türkischen Linken war eindeutig:
Wir brauchen eine neue antiautoritäre und horizontale Bewegung. Denn obwohl Che
in der Türkei von allen Linken verehrt wird, gab es in großen Teilen der
türkischen Linken bisher keinen kreativ-dynamischen Bruch mit den verschiedenen
Spielarten der ML-Partei-Orthodoxien. Auch dafür war die Kommune vom Gezi-Park
ein überfälliger Befreiungsschlag und kann eine Brücke zur kurdischen Bewegung
sein, die sich nach 1989 wesentlich konsequenter und nachhaltiger als große
Teile der türkischen Linken mit den Erfahrungen des autoritären
Staatssozialismus auseinander gesetzt hat .
»Als die Herren der klassischen Linken in
den Gezi-Park kamen, geriet der Prozess ein paar Tage ins Stocken. Sie
erklärten in tagelangen Plena allen ihre ideologisch richtige Einschätzung,
über die sie sich natürlich nicht einig waren. Sie blockierten damit
vorübergehend die Dynamik des Prozesses. Nach ein paar Tagen haben auch sie
kapiert, dass die Kommune vom Gezi-Park bereits erfolgreich funktioniert. Ab da
haben auch manche von ihnen etwas Neues gelernt«, erklärte mir eine jüngere
Aktivistin ihr Fazit aus dieser Erfahrung der Revolte.
Das
Scheitern des Entwicklungsmodells der AKP
Innenpolitisch: Der zunehmend islamisch- autoritäre
Führungsstil von Erdoğan und der AKP hat immer mehr gesellschaftliche Gruppen,
insbesondere die städtisch-dynamischen, die Jugend und die Frauen gegen sich
aufgebracht. Außerdem stagnieren das ökonomische Wachstum und damit die
Attraktivität des AKP-Modells.
Außenpolitisch sind Erdoğans Großmachtträume (als der »neue
Sultan am Bosporus«) bereits gescheitert: Nach dem arabischen Frühling pries er
sich von Bengasi über Tunis bis Kairo als neuer Statthalter eines neoliberal-islamischen
Wirtschaftsraums. Er träumte von einem schnellen Regime-Change in Syrien und
der engen Kooperation mit der islamischen Regierung in Tunis und den
Muslimbrüdern in Ägypten..
Die
globale Krise: Auch die Nato-Verbündeten der Türkei haben
keinen realistischen strategischen Plan für die Lösung der globalen und
regionalen (Verwertungs-)Krisen des Neoliberalismus. Ein
Entwicklungsversprechen für die Mehrheit der Menschen von Irak, Libyen,
Tunesien, Ägypten, Syrien über Irak bis Afghanistan und Pakistan gibt es schon
lange nicht mehr. Nun droht auch noch das Wirtschaftsmodell der AKP an seine
Grenzen zu stoßen. Die bestimmenden Momente der imperialen Politik der EU- und
Nato-Staaten sind lang andauernde Kriege und der gleichzeitige Versuch, die
wichtigsten Handelswege und Produktionsräume offen zu halten.
Gentrifizierung,
Bauboom und türkische Krise
Der Preis der Immobilienspekulation im
Dienste einer von Millionen IstanbulerInnen abgelehnten Luxus-Sanierung im
Eiltempo ist die Zerstörung von weiten Teilen der architektonisch und
historisch einmaligen Altstadtviertel von Tarlabaşı, Kurtuluş oder Kocatepe und
der steilen und verwinkelten Stadtviertel wie Katip Mustafa Çelebi, Tophane
oder Cihangir.
Schon jetzt hat dieser Bauboom auf Kosten
der dort ansässigen Bevölkerung einmalige Gebäudeensembles für immer vernichtet
und wird als städtebauliche Todsünde in die Architekturgeschichte von Istanbul
eingehen. Viele Menschen werden vertrieben, um der Profitlogik und der globalen
Gleichmacherei von schlechter Architektur für diejenigen Platz zu machen, die
zwar viel Geld, aber wenig Sinn für Gemeinschaft im Sinne gewachsener sozialer
und kultureller Strukturen haben.
Übrigens lassen sich ähnliche
Zerstörungen derzeit im ostanatolischen Van oder anderen kurdischen Städten
beobachten. Gerade in Van ist die zerstörerische Dimension des Kapitalismus
nach dem Erdbeben mit ganzer Wucht angekommen: Block für Block der Häuser, die
das Beben überstanden haben, wird dem Erdboden gleichgemacht für einen kreditfinanzierten
Bauboom.
Längst zeigt sich, dass diese angebliche
Erfolgsgeschichte des globalen kapitalistischen Baubooms in Zentren der großen
Metropolen schnell wie ein Kartenhaus in sich zusammen stürzen kann, sobald
sich die internationalen Hedgefonds und Börsenspekulanten mit ihren
Investitionen einem noch lukrativeren Geschäft zuwenden wollen. Ein möglicher Crash
in der Türkei infolge des schnellen Abzugs kurzfristig investierten Kapitals würde
die Immobilienblase in Spanien wie eine leichte Frühlingsbrise erscheinen
lassen.
Verfolgt man den Kurssturz an der
Istanbuler Börse seit Beginn der Protestbewegung, den Kursverfall der
türkischen Lira, das steigende Handelsbilanzdefizit der Türkei, die wachsenden
Schulden- und Kreditberge sowie die abgeflaute Konjunktur des bis 2011 noch als
das »China Europas« bejubelten AKP-Modells, könnten für die Banken und Konzerne
am Bosporus heftige Frühjahrsstürme heraufziehen.
Krise
im »China Europas«
Die Türkische Lira sank Ende September
auf ein historisches Tief: Für einen Euro müssen jetzt 2,70 Lira auf den Tisch gelegt werden. Im
September 2012 war ein Euro rund 2,30 Lira wert, 2010 sogar nur 1,99 Lira.
Ebenso dramatisch ist der Kursverlust gegenüber dem Dollar. Da ein Großteil der
türkischen Unternehmer in den Boom-Jahren Euro- oder Dollarkredite aufgenommen
haben, aber türkische Lira einnehmen, ist der wirtschaftliche Verlust
gravierend. Der Istanbuler Leitindex lag Ende Mai 2013 noch bei knapp 93 000
Punkten, Ende August fiel er auf 65 000
Zähler in den Keller. In nur drei Monaten verlor die Bosporus-Börse damit satte
27 Prozent. Jetzt dümpelt er bei 75 000 Zählern vor sich hin.
Während der Finanzkrise nach 2008 floss
das Kapital in Strömen in die Türkei, da weltweit niemand in Euro oder Dollar
investieren wollte. Durch die Ankündigung Bernankes, die expansive Geldpolitik
der amerikanischen Notenbank Fed bald beenden zu wollen, wird nun der Dollar
wieder attraktiver, d.h. aus Ländern wie der Türkei fließt das Geld wieder ab.
Allein seit Mai haben global agierende Investoren rund 44 Milliarden Dollar aus
Aktien- und Anleihefonds mit dem Schwerpunkt Schwellenländer abgezogen, wie
Daten von EPFR Global belegen.
Für die Türkei hat die schwache Lira
fatale Folgen. Zum einen werden die Importe immer teurer, das Land ist traditionell
von Öl- und Gasimporten abhängig. Schon ein Anstieg des Ölpreises um zehn
Dollar kann in der Türkei zu einem zusätzlichen Leistungsbilanzdefizit von rund
fünf Milliarden führen. Bereits jetzt haben die steigenden Ölpreise die Türkei
rund 300 Millionen Dollar gekostet, wie die Regierung kürzlich bekannt gab.
Die Brutto-Außenverschuldung der Türkei
stieg von knapp 292 Milliarden US-Dollar im Jahr 2010 auf fast 337 Milliarden
US-Dollar 2012. Lag die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (real in Prozent)
im Jahr 2010 noch bei 9,2 % und 2011 bei 8,5 %, so waren es 2012 nur noch 2,6
%. Die für 2013 von Germany Trade &
Invest Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing
prognostizierten 3,4 % und die für 2014 erhofften 3,7 % dürften kaum noch zu
erreichen sein.
Genau das ist einer der wunden Punkte des
AKP-Wirtschaftsbooms. Bisher ließ sich das Defizit durch die Geldzuflüsse aus
dem Ausland gut finanzieren. Bleiben die jetzt aus, wird es eng. »Die
Investoren werden zunehmend nervös«, sagte kürzlich Gregor Holek, der
Türkei-Experte von Raiffeisen Capital Management. Sie zögen sich zwar noch
nicht zurück, doch die allgemeine Verunsicherung nehme zu. Insbesondere große
Fonds seien zurzeit kaum mehr in der Türkei aktiv.
Eine der Ursachen findet sich auch in den
innenpolitischen Unruhen. Zu präsent sind die Bilder des besetzten Taksimplatzes,
auf dem insgesamt mehrere Millionen Menschen gegen die Regierung Erdoğans und gegen
die brutalen Polizeieinsätze revoltierten. Derzeit steigt die Unzufriedenheit in
der Bevölkerung zusätzlich aufgrund der allgemeinen Teuerungsraten. Die
durchschnittliche Preissteigerung liegt mit knapp neun Prozent sehr hoch. Der
schlechte Kurs der türkischen Lira könnte die Unzufriedenheit weiter anheizen.
Zumindest droht dem AKP-Modell die Luft oder das Geld auszugehen. Damit
schwindet aber auch seine stärkste ideologische Waffe: Der Erfolg einer
selbstbewussten Türkei, die den WählerInnen der AKP Wohlstand, Macht und
Aufstiegschancen verspricht.
Parallelentwicklungen:
Die horizontale Gegenmacht der Kommune vom Gezi-Park und die demokratische
Autonomie in Kurdistan
Das Projekt der demokratischen Autonomie
in der kurdischen Befreiungsbewegung und die Kommune vom Gezi-Park weisen
einige grundlegende Übereinstimmungen auf, sowohl in der Organisationsform wie
in der politischen Strategie: Es geht hier wie dort um basisdemokratische Strukturen,
um eine antihierarchische Selbstermächtigung. Das zeigt sich in den kurdischen
Räten ebenso wie in den Erfahrungen der Istanbuler Foren. Es geht nicht um die Ergreifung
der Staatsmacht, nicht um die Eroberung der alten Formen der Herrschaft,
sondern um etwas ganz anderes. Die autonome
Selbstermächtigung in basisdemokratischen, antisexistischen,
antikapitalistischen, genossenschaftlich und ökologisch ausgerichteten
Rätestrukturen zeigt sich in der kurdischen Bewegung beispielsweise im hohen Grad
an Autonomie der Frauenorganisierung. Insofern geht es in beiden Fällen nicht
um Staatsmacht, um Militär oder Grenzen von willkürlich konstruierten Nationen
und Staaten. Es geht um Räume und Gebiete der Autonomie mit
internationalistischen Momenten. Die militärischen Angriffe auf das autonome
Rojava/Westkurdistan – ob von der Türkei und der Allianz islamistischer Kräfte
von Al Quaida bis Saudi Arabien und Katar – zeigt, wie nötig und zugleich
gefährdet diese Perspektiven sind.
Für die AktivistInnen der Gezi-Aufstände bedeutet
das, in den nächsten Monaten den autonomen Geist der Bewegung über die Zeit der
Kommunal- und Parlamentswahlen hinaus zu verlängern. Auch stellt sich in der
aktuellen Dynamik der anstehenden Kommunalwahlen die Herausforderung, sich dem
Drang verschiedener linker Parteien nach parlamentarischer Partizipation nicht
einfach unterzuordnen – zumal diese auch nicht vor Koalitionen mit manch alten
kemalistischen Kräften zurückschrecken. Die kürzliche Modeshow in einer
besetzten Textilfabrik in Istanbul ist indes ein Beispiel für eher lohnende
Betätigungsfelder.
Auch in Kurdistan gäbe es unabhängig von
der großen Politik praktische Ideen für klassenkämpferische Projekte: Wenn
nicht jetzt über Alternativen zum kapitalistischen Tourismus, also über
ökologische Landwirtschaft und nachhaltige Energieversorgung nachgedacht und
diskutiert wird, könnte der kapitalistische Zyklus der Modernisierung Kurdistan
schlicht überrollen. Die Umweltzerstörung durch weggeworfene Plastiktüten und
-flaschen sowie die Begleiterscheinungen des globalen ökonomischen Handels
haben allein in den letzten eineinhalb Jahren in den Flüssen der Region Van
verheerende Spuren hinterlassen. Doch wo sind die ökologischen
Aufklärungskampagnen, wo die Genossenschaften, die sozialen und ökologischen
Wohnungsbau betreiben als Gegenmodell zu den Gated Communities für die kurdische Mittel- und Oberklasse samt der
rasanten Bodenspekulation? Wo sind die ökologischen Produktionsgenossenschaften
aus der Region, die die kurdischen Städte mit selbstproduzierten hochwertigen
Nahrungsmitteln versorgen könnten? Und wo sind die autonomen Kulturzentren, die
der staatlichen und islamistischen Bildungsoffensive etwas entgegensetzen?
Ohne das autonome Projekt in
Westkurdistan/Syrien, einer Gesellschaft jenseits kolonialer und neokolonialer
Grenzziehungen, ethnischer Säuberungen, autoritärer Regime, zudem gegen die
Interessen regionaler wie globaler Großmächte gerichtet, wäre auch für die
Entwicklung in Nordkurdistan das Schlimmste zu befürchten. Ohne eine reale
Chance auf einen gerechten Frieden in Kurdistan würde aber wiederum auch die
Aufstandsbewegung in der gesamten Türkei ins Stocken geraten und Gefahr laufen,
brutal unterdrückt zu werden.