Donnerstag, 19. Dezember 2013

Primat der Ordnung: Die Europäische Union und die türkische Juni-Revolte

Von Axel Gehring


Der jüngste Fortschrittsbericht der EU-Kommission ist insgesamt positiver ausgefallen, als derjenige des letzten Jahres und lobt „Fortschritte im Bereich der Justiz, Grundrechte und Sicherheit“. Jene Passagen, die sich auf die Gezi-Ereignisse beziehen, identifizieren eine Reihe von Ereignissen "bei denen es zu Gewalt kam", sowie "übermäßige Härte" durch die Polizei. Sie vermeiden es, die systematische Niederschlagung der Gezi-Revolte durch die türkische Regierung deutlich zu benennen. Solche Deutungen der Ereignisse hat es auch innerhalb der AKP gegeben. Eine kritische Rekonstruktion der EU-Türkei-Beziehungen hilft, diese Gemeinsamkeiten in der Bewertung der Causa Gezi zu verstehen.



Im Sommer 2013 waren die landesweiten Massenproteste, die im Istanbuler Gezi-Park ihren Ausgangspunkt genommen hatten, systematisch von der regierenden AKP niedergeschlagen worden. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen setzte sie die paramilitärische Gendarmerie ein und drohte mit dem Einsatz der Streitkräfte gegen die Protestierenden. Die in Europa verbreitete Vorstellung eines Demokratisierungsprojektes unter Führung einer »moderat-islamischen« Partei ist beschädigt. Die AKP galt nicht wenigen in den Staaten Europas als Prototyp einer Partei, die Islam und Demokratie miteinander verschmolz und die Interessen einer primär als »islamisch-religiös« wahrgenommenen »Normalbevölkerung« gegenüber den »säkularen Eliten« und dem »militärischen Establishment« repräsentierte. Und obgleich das EU-Beitrittsprojekt mit den Jahren an Dynamik verloren hatte, galt die AKP als die Kraft, die eine sich unter Schwierigkeiten demokratisierende Türkei so nahe wie keine andere Partei zuvor an die EU herangeführt hatte.
Die türkische Protestbewegung hat durch ihren Widerstand erreicht, das dieses Bild, das in der Türkei schon lange unglaubwürdig war, nun auch im »Westen« in Frage gestellt werden kann. Ebenso stellt sie eine Herausforderung für die etablierte politische Kultur in der Türkei dar. Dennoch bleibt festzuhalten: Die AKP regiert weiterhin. Auch ist es zu früh zu behaupten, die Hegemonie jenes europäischen Diskurses, der in dieser Partei eine demokratische Reformkraft sieht, sei gebrochen. Häufig wird außerhalb der Türkei die Initiative zur Repression der Proteste einem radikalen Flügel innerhalb der AKP zugeschrieben, dem die Milli Görüş Bewegung und Ministerpräsident Erdoğan angehören. So setzen nicht wenige konservative KommentatorInnen, wie Rainer Herrman (FAZ), ihre Hoffnungen auf einen »moderaten Flügel« unter Führung des Präsidenten Abdullah Gül, und einige gar auf eine stärkere Rolle der islamistischen Gülen-Bewegung in der AKP, die ihrer Ansicht nach einen modernen EU-fähigen Reform-Islam verkörpert. Diesen Einschätzungen liegt zugrunde, die AKP als primäre Partnerin und Adressatin europäischer Politik wahrzunehmen. Mehr Sympathien für die Bewegung zeigten Teile des linksliberalen Spektrums: Auf dem Höhepunkt der Proteste, an denen sie selbst teilnahm, erklärte die damalige Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, gegenüber dem kemalistischen Sender Halkhaber, die Demonstrierenden seien in besonderer Weise reif für die EU.
Obwohl beide Ansätze sehr unterschiedliche Präferenzen gegenüber Regierung und Protestbewegung ausdrücken, basiert ihre Wahrnehmung der Rolle der EU auf einer ähnlichen Prämisse: Die EU wird als zentrale Akteurin für die Etablierung von Demokratie und Grundrechten in der Türkei gesehen.
Diese Erwartungen stützen sich zu einem erheblichen Teil auf einige ebenso häufig wie selektiv zitierte Passagen der Kopenhagener Kriterien. Diese Kriterien sind eine politisch-demokratische Konditionalität (Vorbedingung) für beitretende Staaten. Darüber hinaus werden die finanzielle Förderung einzelner zivilgesellschaftlicher Projekte sowie die direkte oder indirekte Beteiligung der EU an isolierten Maßnahmen, wie zum Beispiel dem Monitoring von Menschenrechtsstandards auf (einzelnen) Polizeistationen, angeführt. Im Kontrast zu diesen Prämissen ist die EU jedoch während der Niederschlagung der Revolte kaum in Erscheinungen getreten. Nur die Eröffnung eines Beitrittskapitels wurde symbolisch um wenige Monate verschoben, und der jüngste Türkei-Fortschrittsbericht der EU-Kommission ist überaus milde ausgefallen. Dies wirft Fragen nach der Glaubwürdigkeit einer umfassenden Demokratisierungsperspektive auf. Und diese Fragen wurden nicht zuletzt von der Protestbewegung selbst gestellt, die in ihrem Wirken eine antiautoritäre mit einer antineoliberalen Dimension verband. Insofern kann die Rolle der EU während und nach der türkischen Juni-Revolte nicht ohne diese Dimension verstanden werden.
Dies gilt insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass sich mit der Krise des Neoliberalismus in der EU selbst neue Formen autoritärer Staatlichkeit ausbilden. Außerdem regeln die meisten zwischen Türkei und der EU geschlossenen Verträge wie auch die Kriterien von Kopenhagen[1] primär nicht etwa Grundrechte, sondern die alternativlose Neoliberalisierung der Ökonomie. Zur vielbeschworenen politischen Konditionalität gehört dabei auch die Verteidigung dieser in der Türkei per Militärputsch eingeführten neoliberalen Ordnung, gegen die sich die Proteste maßgeblich gerichtet haben.
Neoliberalisierung durch Europäisierung Europäisierung durch Neoliberalisierung
Im Gegensatz zur türkischen Debatte findet in der deutschen Debatte die enge Beziehung zwischen dem EU-Beitritts-Projekt der Türkei und dem fortdauernden Neoliberalisierungsprozess kaum Beachtung. Bereits 1963 war zwischen Brüssel und Ankara ein Assoziierungsabkommen geschlossen worden, das neben einer vagen Beitrittsperspektive vor allem die schrittweise Errichtung einer gemeinsamen Zollunion beinhaltete. Die Türkei verfolgte jedoch eine Politik binnenorientierter Industrialisierung, die nicht nur von den gesellschaftlichen Eliten, sondern auch von weiten Teilen der organisierten politischen Linken (und Rechten) getragen wurde. Die durch das Assoziierungsabkommen eingegangen Verpflichtungen zu ökonomischer Liberalisierung wurden in der Türkei kaum in Form wirksamer Politik umgesetzt. Auch die EG maß den Beziehungen zu Ankara nur wenig Priorität bei, denn der türkische Markt war klein. Erst durch das Scheitern der türkischen Industrialisierungsstrategie Ende der 1970er Jahre wurden die Voraussetzungen für einen Neustart der Beziehungen zur EG geschaffen. Diese Krise veranlasste die führenden Kapital-Konglomerate in der Türkei und inzwischen auch die türkische Regierung dazu, sich nicht länger den Kreditbedingungen der internationalen Finanzinstitutionen zu verschließen. Sie stellten Kredite gegen Strukturanpassungsmaßnahmen bereit, die auf eine neoliberale Neuausrichtung der türkischen Wirtschaft zielten. Dieses Programm war 1980 letztlich nur auf dem Weg des Militärputsches durchsetzbar. Zu viele gesellschaftliche Konflikte, darunter auch die immer stärker politisierte Kurdische Frage, blockierten die störungsfreie Umsetzung der neoliberalen Agenda. Erst über den Militärputsch konnte jener repressive gesellschaftliche Friede hergestellt werden, der den eigentlichen Beginn der Strukturreformen ermöglichte. Die Militärjunta zerschlug die politische Linke und erstickte so die organisierte Opposition gegen die Strukturreformen im Keim. Eine neue repressive Verfassung sicherte dieses Ergebnis über den Abtritt der Junta (1983) hinaus ab. In den Jahren unmittelbar nach dem Militärputsch vollzog sich zunächst eine relativ rasche Erholung der türkischen Ökonomie, obwohl das Ziel der Exportorientierung nicht erreicht wurde und hohe Defizite weiter die Handelsbilanz bestimmten. Während die sozialen Kosten für die Reformen weitgehend von der Bevölkerung getragen wurden, zum Beispiel durch drastische Lohneinbußen und Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen, hatten die ab 1980 eingeleiteten Veränderungen die Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel aus ihrer Lethargie befreit: Durch die Öffnung der türkischen Waren- und Finanzmärkte in den 1980er Jahren konnten in den bisherigen Hauptstreitpunkten der Türkei-Assoziation große Fortschritte erzielt werden. Durch den Beitritt zur Zollunion der EU 1996 galten nun mit Freiem Warenverkehr, Freiem Kapital- und Zahlungsverkehr sowie Dienstleistungsfreiheit drei der vier so genannten Grundfreiheiten der Europäischen Union. Die Freizügigkeit im Personenverkehr war bezeichnenderweise davon ausgenommen. Mit diesen Grundfreiheiten musste das europäische Wirtschaftsrecht in der Türkei übernommen werden, womit die Entwicklung des türkischen Neoliberalismus eng an die sich ebenfalls rasant neoliberalisierende Europäische Integration gekoppelt wurde. Ökonomische Alternativen wurden damit de jure unterbunden. Dieser Neoliberalisierungsprozess in der Türkei durch die institutionalisierten Beziehungen zur EU ist auch im zentralen Interesse der führenden gesellschaftlichen Akteure in der Türkei gewesen. Er war seit den 1980er Jahren zielstrebig von ihnen betrieben worden.
Auch zentrale EU-Akteure hatten in den späten 1990er Jahren ein wachsendes Interesse daran, die Beziehungen zur Türkei weiter zu institutionalisieren. Während die großen europäischen Industrieverbände die Potentiale des türkischen Marktes erkannten, trat durch die sich damals verstärkende Tendenz der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik eine weitere Dimension hervor: Geopolitik. Deutschland und Frankreich verfolgten die Idee, die EU stärker als geopolitische und geoökonomische Akteurin in Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten auszurichten. Hierfür schien die Türkei aufgrund ihrer geografischen Lage und ihrer großen und gut ausgestatteten Streitkräfte attraktiv. Großbritannien erhoffte sich von einer Integration der Türkei aufgrund ihrer politischen Nähe zu den USA eine Stärkung des transatlantischen Lagers in der EU. Gegensätzliche außenpolitische Interessen innerhalb der EU kreierten so zusätzliches Interesse an der Türkei. So verdichteten sich die verschiedenen Dimensionen der EU-Türkei-Beziehungen zu einem Beitrittsprojekt.
Im Gegensatz zu den transatlantischen Institutionen (Internationaler Währungsfond, Weltbank), deren Strukturanpassungs-Agenda unmittelbar nach dem 1980er-Militärputsch umgesetzt worden war, stand die EU für Fortschritte in Demokratie und Menschenrechte. Von den Kopenhagener Kriterien nahm die türkische Öffentlichkeit Ende der 1990er Jahre vor allem jene war, die sich auf Rechtsstaat, Demokratie, Minderheitenschutz und Menschenrechte bezogen. Diese Konstellation stärkte so die Verbindung von Neoliberalisierung und Europäisierung und verankerte so das nun »alternativlose« neoliberale Regime. Nicht zuletzt deshalb konnten in den späten 1990er Jahren graduelle politische Liberalisierungen, zum Beispiel im Bereich des Strafrechtes oder der Versammlungsfreiheit, gewagt werden. Auch eine relativ umfassende Reform des Zivilrechtes wurde verabschiedet. Die Beitrittsperspektive hatte zumindest auf diesen Feldern einen Demokratisierungsprozess angestoßen. Während Linksliberale sich daher fest an das Europäisierungsprojekt banden und glaubten, durch ihr Bekenntnis zu Europa die klassischen Fehler der türkischen Linken überwunden zu haben, sah sich die EU-kritische Linke in der Türkei zunehmend isoliert auch weil das Feld der EU-Kritik nationalistisch besetzt war.
Der lange Weg zu Gezi: Die EU und die Reformen der AKP-Regierung
Während die Türkei seit dem EU-Gipfel von Helsinki (1999) den Status einer Beitrittskandidatin hatte, blieben zahlreiche Probleme ungelöst: Obwohl im kurdischen Osten nach eineinhalb Dekaden heftigen Bürgerkriegs eine relative Ruhe eingekehrt war, hatte dieser Krieg die Verschuldung des türkischen Staates erheblich erhöht. Staatsverschuldung und Außenhandelsdefizite konnten nur durch Zuflüsse von ausländischem Kapital gedeckt werden. Dies machte die Türkei anfällig für Schwankungen auf den internationalen Finanzmärkten, bereits verhältnismäßig kleine Abzüge von Kapital konnten ökonomische Krisen auslösen. Die bis heute schwerste dieser Art ereignete sich 2001. Nach plötzlichen Kapitalabflüssen, die zum Zusammenbruch des Bankensektors führten, brach das Bruttosozialprodukt um 8,5% ein, 800.000 Menschen verloren binnen kurzer Zeit ihre Arbeit, die Realeinkommen der Beschäftigten sanken erheblich. Auch dieses Mal wurden die Kosten der Krisenbewältigung primär von der lohnarbeitenden Bevölkerung getragen. Die türkische Regierung stimmte einem Strukturanpassungsprogramm von Weltbank und IWF zu und verlor daraufhin 2002 die Wahlen. Ein gutes Drittel der Wahlstimmen reichte der frisch gegründeten AKP zur Bildung ihrer ersten Regierung.
Anders als ihre Vorgängerin, die islamistische Wohlfahrtspartei, identifizierte sich die AKP aktiv mit dem neoliberalen Projekt und setzte die Politik der Strukturanpassung konsequent fort. International gelang ihr, jeden Zweifel an ihrer Selbstverpflichtung gegenüber der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu zerstreuen. Konsequenterweise setzte sie die EU-Beitrittspolitik ihrer Vorgängerinnen-Koalition zunächst fort. Nicht zuletzt deshalb wurde sie in Europa nicht als islamistische Partei wahrgenommen. Viele Publikationen der damaligen Zeit sahen in ihr die Repräsentantin eines »anatolischen Calvinismus« oder gar einer »islamisch-demokratischen Moderne«. Manch politische Liberalisierungen (u.a. Abschaffung der Todesstrafe, Liberalisierung des Presserechtes) verknüpfte sie mit einem umfassenden Umbau der Staatsapparate. Dadurch konnte sie ihre Position gegenüber potentiellen Opponent_innen stärken. Zugleich relativierte dieser Umbau einige der vorangegangenen Liberalisierungen. [2] Erste islamistische Gesetzgebungsvorhaben 2004 sollte z.B. der Ehebruch unter Strafe gestellt werden scheiterten zunächst noch an gesellschaftlichen Widerständen. Gleichwohl waren weite Teile der säkularen und linken Öffentlichkeit in der Türkei alarmiert. Derweil galt innerhalb der EU bereits der schiere Nichtvollzug einer radikalen islamistischen Wende als Beleg für den säkularen und demokratischen Charakter der Partei. [3] Im Jahr 2005 begannen schließlich die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU. Dieser diplomatische Erfolg wertete das internationale Ansehen der AKP weiter auf.
Ebenso stärkte dieser Status die Kreditwürdigkeit und den Ruf des Landes als attraktivem Investitionsstandort. Starke Zuflüsse ausländischen Kapitals, das mittels umfangreicher Privatisierungsprogramme ins Land gelockt worden war, trugen zu hohen Wachstumsraten bei. Dieses Wachstumsmodell setzte auf die Inwertsetzung von Naturressourcen und öffentlichen Flächen, auf hohen Privatkonsum und private Verschuldung sowie auf rasante Gentrifizierung in den großen Städten, allen voran Istanbul.
Obwohl sich dagegen wiederholt lokale Proteste richteten, fanden die ersten landesweiten Massenproteste erst 2007 unter der Führung von etablierten Mittelschichten (darunter viele pensionierte Militärangehörige) statt, von denen nicht wenige eine Deklassierung befürchteten. Sie führten gegen die von der AKP betriebene Politik der Neoliberalisierung, Islamisierung und des autoritären Umbaus der Staatsapparate einen ebenfalls autoritären kemalistisch-nationalistischen Diskurs, der sich explizit gegen die EU richtete. Obwohl durch ein Memorandum der Streitkräfte unterstützt, wurden die Proteste sowohl von sämtlichen türkischen Unternehmensverbänden als auch allen relevanten EU-Akteuren abgelehnt. Vor dem Hintergrund hoher wirtschaftlicher Wachstumsraten und des auf erhebliche Teile der Bevölkerung bedrohlich wirkenden kemalistischen Diskurses der Opposition gewann die AKP 2007 erneut die Wahlen.
Das EU-Beitrittsprojekt hatte zu diesem Zeitpunkt bereits an Dynamik verloren und fungierte primär als Anker, der den türkischen Neoliberalisierungsprozess extern absicherte. Dies war im Interesse beider Seiten: Die so genannte Post-Lissabon-Krise der Europäischen Integration hatte die Aufmerksamkeit der europäischen Akteure nach innen verschoben, eine von Geopolitik getriebene Integration der Türkei konnte warten. Auch für die AKP hatte das Beitrittsprojekt einen wichtigen Teil seiner Funktion bereits erfüllt: Die Transformation der Staatsapparate war fortgeschritten, die Position der Partei nach 2008 konsolidiert, und der weitere Umbau der Staatsapparate musste nicht mehr zwingend über EU-Imperative begründet werden.
Nach Konsolidierung ihrer Position war die AKP bemüht, die Wiederholung der 2007er-Massenkundgebungen zu verhindern, und die Möglichkeit eines weiteren Verbotsverfahrens gegen die Partei zu bannen. Den Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung namens »Ergenekon« nutze sie, um Verhaftungswellen gegen ihre GegnerInnen zu lancieren. Obwohl die Ermittlungen und die Verfahren von Beginn an rechtsstaatliche Standards unterliefen, wurden sie in ihrer Frühphase von der EU als Beleg für den Reformkurs der Türkei gewertet. Erst nach Jahren und mit der brutalen Zerschlagung kurdischer, gewerkschaftlicher und links-akademischer Organisationsstrukturen durch die sogenannten KCK-Operationen wuchsen innerhalb der EU und im liberalen Spektrum in der Türkei Zweifel am Charakter der Verhaftungswellen.
Demgegenüber wertete die EU-Kommission das 2010 erfolgreich durchgeführte Verfassungsreferendum als weiteren positiven Schritt, obwohl es noch nicht einmal von der AKP-Regierung als »EU-Reform« lanciert worden war. Beworben als Überwindung »der Putschistenverfassung von 1983« beschnitten die Verfassungsänderungen symbolisch einige Privilegien des Militärs, primär stellten sie aber einen direkten Zugriff der Regierung auf den Justizapparat sicher und schränkten Klagemöglichkeiten gegen die Inwertsetzung von Natur und öffentlichem Raum ein. Trotz einer ausgeprägt repressiven Kampagne, die jede Opposition gegen das Referendum in die Nähe zur Militärjunta rückte, fand es nur eine relativ knappe Mehrheit. Auch während der Wahlen des Jahres 2011 sollte es der AKP nicht mehr gelingen, ihre Unterstützung weiter auszubauen. Stattdessen verfestigten sich vom Herbst 2011 an die Krisentendenzen in der türkischen Ökonomie: Steigende Handelsbilanzdefizite und ein sinkender Wechselkurs haben seither die Wachstumsraten massiv einbrechen und unstetig werden lassen. Während der Akkumulationsprozess staatlicherseits durch stetig größere Bauprojekte stimuliert werden sollte, zeigten sich die ökologisch-räumlichen Grenzen dieses Wachstumsmodells immer deutlicher. Schließlich führten auch die sinkenden Verteilungsspielräume zu Spannungen zwischen regierungsnahen und regierungsfernen Kapitalfraktionen.
So begannen türkische Unternehmen, sich verstärkt auf die mediterran-arabischen Staaten zu orientieren, die als Absatz- und Investitionsraum attraktiv wurden. Die 2011 beginnenden politischen Umbrüche in diesen Staaten nutzte die AKP, um durch die Förderung ihrer Schwesterparteien selbst die Rolle einer Führungsmacht im arabisch-mediterranen Raum zu übernehmen und die ökonomische Expansion der türkischen Unternehmen in die Region politisch zu flankieren. Dabei bemühte sie ein »neoosmanisches Projekt«, was zumindest symbolisch eine Abwendung von Europa suggerierte. Materiell hingegen passten die europäischen und türkischen Interessen im mediterran-arabischen Raum gut zueinander: Die EU versuchte zu verhindern, dass die arabischen Revolten sich zur Gefahr für und die bündnispolitische Orientierung der Staaten in der Region auswuchsen. In der Türkei unter der AKP schien die demokratische Inklusion einer primär als »religiös-konservativ« wahrgenommen Bevölkerung in marktliberales Entwicklungsmodell mit Erfolg umgesetzt worden zu sein. »Moderat islamische« Parteien stellen für die EU, wie auch die USA, die bevorzugten Bündnispartnerinnen in der Region dar. Nicht zuletzt dies führte seitens der türkischen Regierung zu der Selbstüberschätzung, sich am Sturz des syrischen Baath-Regimes beteiligen zu können. Tatsächlich trug die türkische Unterstützung rechter und islamistischer Fraktionen der syrischen Opposition im Ergebnis dazu bei, die Revolte gegen das Regime in einen konfessionell aufgeladenen Bürgerkrieg zu transformieren. Doch die von der AKP erhoffte direkte westliche Intervention fand nicht statt. In Europa wurde wenig bekannt, dass in der türkischen Bevölkerung die Monate und Wochen vor der Gezi-Protestwelle von einer wachsenden lagerübergreifenden Unzufriedenheit mit der türkischen Außenpolitik geprägt gewesen waren. Versuche der AKP, über die Stimulierung anti-alevitischer Stereotype Zustimmung für ihre Syrienpolitik zu generieren, trugen derweil auch in der Türkei zu wachsenden konfessionellen Spannungen bei. Die mit EU-Interessen harmonierende »neoosmanische« Außenpolitik sorgte so für wachsende Konflikte in der Türkei selbst. Unter anderem deshalb trat die türkische Regierung im Frühjahr in Verhandlungen mit der PKK mit dem Ziel, die Lage im eigenen Land zu beruhigen und die Basis ihrer »neoosmanischen« Außenpolitik zu verbreitern.
Die türkische Protestbewegung im Spiegel europäischer Interessen
In diesem gesellschaftlichen Klima wurde der Polizeiangriff auf ein Protestcamp von StadtplanerInnen und UmweltschützerInnen zum Ausgangspunkt einer landesweiten Revolte. In der Verdrängung des Istanbuler Gezi-Parks durch eine Shoppingmall in Form einer osmanischen Kaserne verdichteten sich sowohl die Widerstände gegen neoliberale Stadtentwicklung als auch gegen die immer offenere Islamisierung des Alltäglichen und den riskanten türkischen Großmachtanspruch. Während die über Wochen dauernden Proteste mit einer für die meisten europäischen BeobachterInnen unerwarteten Härte niedergeschlagen wurden, befand sich die EU in schwierigen Situation: Die internationale Reputation ihrer Beitrittskandidatin war zerstört, und der Verbleib der AKP an der Regierung schien keineswegs sicher. Die insgesamt instabile Lage in der Region verschärfte die Besorgnis. In dieser Situation vermieden die EU-Regierungen alle politische Konsequenzen, die die türkische Regierung unter Druck gesetzt hätten. Dies wertete die AKP als Bestätigung ihrer Politik gegenüber der Protestbewegung. Trotz langfristiger ökonomischer und außenpolitischer Interessen war angesichts der mit der Protestbewegung sympathisierenden öffentlichen Meinung  eine aktive Unterstützung der Regierung in der Aufstandsbekämpfung für die Regierungen der EU-Staaten keine Option. So bestimmte Passivität in der Causa Gezi in den darauffolgenden Monaten das Agieren der EU.
Allerdings konnte die EU ihre abwartende Haltung nur bis Oktober 2013 durchhalten: Die Umsetzung der Entscheidung zur Eröffnung eines neuen Beitrittskapitels (Regionalpolitik) stand an. Ebenso zwang der jährlich zu veröffentlichende Türkei-Fortschrittsbericht der EU-Kommission zu einer Positionierung in der Causa Gezi. Dieser Bericht ist eines der bislang wenigen EU-Dokumente, in denen die Haltung der EU zu den Protesten explizit wird. Die Passagen zu den Protesten lesen sich bei oberflächlicher Betrachtung wie eine verhaltene Kritik am Agieren der türkischen Behörden: Die massive Polizeigewalt wird als »exzessiv« beschrieben, und die Proteste, gegen die sich diese Gewalt richtete, als »größtenteils friedlich«. Ebenso finden die Verhaftungen von JournalistInnen und AktivistInnen nach Artikel 314 des türkischen Strafgesetzbuches (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) Erwähnung. Dessen ungeachtet erkennt der Bericht in den Ereignissen des Sommers keine systematische Niederschlagung einer Protestbewegung. Er erwähnt ebenso wenig die Drohung der Regierung, ihre Streitkräfte gegen die Protestierenden einzusetzen. Vielmehr sieht die Kommission eine Summe isolierter Gewaltereignisse, unverhältnismäßige »Szenen der Gewalt« (Kommission 2013, S. 52f) Eine solche Interpretation der Ereignisse ist schon während des Sommers in einigen Flügeln der AKP vertreten worden. Insbesondere im Umkreis von Präsident Abdullah Gül waren Zweifel geäußert worden, inwieweit die Härte verhältnismäßig gewesen war gerade mit Blick auf eine rasche Befriedung der Lage. Der Bericht hebt explizit die »ausgleichende Rolle« des Präsidenten hervor (ebd., S. 9) und problematisiert den »fortdauernden Mangel an Dialog und Kompromissgeist zwischen den politischen Parteien« sowie eine »ungenügende Vorbereitung wichtiger Gesetzesvorhaben«. Er betont die »Notwendigkeit einer systematischen Konsultation der Zivilgesellschaft und anderer Stakeholder im Gesetzgebungsprozess« (ebd., S. 7). Während der aus der Managementsprache entlehnte Begriff »Stakeholder« die Existenz fundamentaler Interessensunterschiede entnennt, legt die Forderung nach Konsultationsmechanismen nahe, dass Umsetzungsprobleme vermeintlich alternativloser Politiken im Vordergrund stünden. Gerade gegen solch ein Bild von Gesellschaft richtet sich die Protestbewegung. Die Unterschiede zwischen den (durchaus vielfältigen) Interessen der Protestbewegung und der EU-Kommission könnten größer kaum sein.
Insofern der Bericht der Kommission primär die Bemühungen der türkischen Regierung bei der Implementierung der neoliberalen Agenda überwacht, sind derartige Differenzen kaum überraschend gerade weil die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten indirekten Einfluss auf die Erstellung des Berichtes haben. Dennoch fällt die von der Kommission getroffene positive Gesamteinschätzung der politischen Lage in der Türkei überraschend positiv aus, so vermeldet der Bericht »Fortschritte auf dem Gebiet der Justiz« (ebd., S. 63). Verbesserungswürdig bleiben nur einzelne Aspekte, nicht die generelle Richtung der türkischen Regierung. Besonders deutlich wird dies in der politischen Schlussfolgerung des Berichts: »Die positive Agenda, die 2012 gestartet worden war, unterstützte und flankierte weiterhin die Beitrittsverhandlungen durch eine erweiterte Kooperation auf Feldern gemeinsamer Interessen: politischer Reformen, Anpassung an den Aquis, Dialog über Außenpolitik, Visa, Mobilität und Migration, Handel, Energie, Anti-Terrorismus und Teilnahme an EU-Programmen. () Die Kommission erkennt ebenfalls die Fortschritte an, die in Bezug auf wichtige Anforderungen betreffend der Justiz und den fundamentalen Rechten erzielt wurden.« (ebd., S. 3) Insgesamt ist die Bewertung der Türkei durch die EU-Kommission 2013 deutlich positiver ausgefallen als 2012. Ökonomische und geopolitische Interessen sowie die Verteidigung der neoliberalen Ordnung genießen in der Türkeipolitik der EU klaren Vorrang. Ungeachtet der Frage, ob oder wann es einen Beitritt der Türkei zur EU geben wird, verlangen die Kopenhagener Kriterien die Selbstverpflichtung auf die neoliberale Ordnung. Dazu gehört auch die Bereitschaft zur Verteidigung der Ordnung. Dieses ungeschriebene aber wichtige Beitrittskriterium hat die AKP durch die Niederschlagung der Proteste im eigenen Interesse erfolgreich erfüllt.

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[1] »Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können.« (Europäischer Rat, Kopenhagen Juni 1993, S. 13)
[2] Darüber hinaus verfügt das türkische Strafrecht über eine große Anzahl von »Reserveparagraphen«, wodurch Veränderungen einzelner Paragraphen nicht selten durch andere bestehende Gesetze neutralisiert wurden, was die de-facto-»Simulation« von Reformprojekten ermöglicht. Exemplarisch sei der Paragraph 301 des türkischen Strafrechtes genannt. Im Falle seiner Streichung gäbe es eine Reihe anderer, zur Einschränkung der Meinungsfreiheit hinreichend taugliche Paragraphen.
[3] Auch die in Europa herrschende Fremdenfeindlichkeit gegenüber muslimischen MigrantInnen sowie die kemalistisch-nationalistische Besetzung säkularer Diskurse in der Türkei halfen im Ergebnis der AKP, europäischen Meinungen auch aus dem linken politischen Spektrum für sich zu gewinnen.
Die Zitate basieren auf einer Eigenübersetzung aus: European Commission: Commission Staff Working Document, Turkey 2013 Progress Report; Brussels, 16.10.2013