Der jüngste Fortschrittsbericht der EU-Kommission ist insgesamt positiver ausgefallen, als derjenige des letzten Jahres und lobt „Fortschritte im Bereich der Justiz, Grundrechte und Sicherheit“. Jene Passagen, die sich auf die Gezi-Ereignisse beziehen, identifizieren eine Reihe von Ereignissen "bei denen es zu Gewalt kam", sowie "übermäßige Härte" durch die Polizei. Sie vermeiden es, die systematische Niederschlagung der Gezi-Revolte durch die türkische Regierung deutlich zu benennen. Solche Deutungen der Ereignisse hat es auch innerhalb der AKP gegeben. Eine kritische Rekonstruktion der EU-Türkei-Beziehungen hilft, diese Gemeinsamkeiten in der Bewertung der Causa Gezi zu verstehen.
Im Sommer 2013 waren die landesweiten Massenproteste, die im Istanbuler Gezi-Park ihren Ausgangspunkt genommen hatten, systematisch von der regierenden AKP niedergeschlagen worden. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen setzte sie die paramilitärische Gendarmerie ein und drohte mit dem Einsatz der Streitkräfte gegen die Protestierenden. Die in Europa verbreitete Vorstellung eines Demokratisierungsprojektes unter Führung einer »moderat-islamischen« Partei ist beschädigt. Die AKP galt nicht wenigen in den Staaten Europas als Prototyp einer Partei, die Islam und Demokratie miteinander verschmolz und die Interessen einer primär als »islamisch-religiös« wahrgenommenen »Normalbevölkerung« gegenüber den »säkularen Eliten« und dem »militärischen Establishment« repräsentierte. Und obgleich das EU-Beitrittsprojekt mit den Jahren an Dynamik verloren hatte, galt die AKP als die Kraft, die eine sich unter Schwierigkeiten demokratisierende Türkei so nahe wie keine andere Partei zuvor an die EU herangeführt hatte.
Die
türkische Protestbewegung hat durch ihren Widerstand
erreicht, das dieses Bild, das in der Türkei schon lange unglaubwürdig
war, nun auch im »Westen« in Frage gestellt werden kann. Ebenso stellt
sie eine Herausforderung für die etablierte politische Kultur in der Türkei
dar. Dennoch bleibt festzuhalten: Die AKP regiert weiterhin. Auch ist es zu früh zu
behaupten, die Hegemonie jenes europäischen Diskurses, der in dieser Partei eine
demokratische Reformkraft sieht, sei gebrochen. Häufig
wird außerhalb der Türkei
die Initiative zur Repression der Proteste einem radikalen Flügel
innerhalb der AKP zugeschrieben, dem die Milli Görüş
Bewegung und Ministerpräsident Erdoğan
angehören. So setzen nicht wenige konservative
KommentatorInnen, wie Rainer Herrman (FAZ), ihre Hoffnungen auf einen »moderaten
Flügel« unter Führung des Präsidenten
Abdullah Gül, und einige gar auf eine stärkere
Rolle der islamistischen Gülen-Bewegung in der AKP, die ihrer Ansicht
nach einen modernen EU-fähigen Reform-Islam verkörpert.
Diesen Einschätzungen liegt zugrunde, die AKP als primäre
Partnerin und Adressatin europäischer Politik wahrzunehmen. Mehr Sympathien
für die Bewegung zeigten Teile des linksliberalen
Spektrums: Auf dem Höhepunkt der Proteste, an denen sie selbst
teilnahm, erklärte die damalige Vorsitzende der Grünen,
Claudia Roth, gegenüber dem kemalistischen Sender Halkhaber, die
Demonstrierenden seien in besonderer Weise reif für
die EU.
Obwohl
beide Ansätze sehr unterschiedliche Präferenzen
gegenüber Regierung und Protestbewegung ausdrücken,
basiert ihre Wahrnehmung der Rolle der EU auf einer ähnlichen
Prämisse: Die EU wird als zentrale Akteurin für
die Etablierung von Demokratie und Grundrechten in der Türkei
gesehen.
Diese
Erwartungen stützen sich zu einem erheblichen Teil auf
einige ebenso häufig wie selektiv zitierte Passagen der
Kopenhagener Kriterien. Diese Kriterien sind eine politisch-demokratische
Konditionalität (Vorbedingung) für beitretende
Staaten. Darüber hinaus werden die finanzielle Förderung
einzelner zivilgesellschaftlicher Projekte sowie die direkte oder indirekte
Beteiligung der EU an isolierten Maßnahmen, wie zum Beispiel dem Monitoring von
Menschenrechtsstandards auf (einzelnen) Polizeistationen, angeführt.
Im Kontrast zu diesen Prämissen ist die EU jedoch während
der Niederschlagung der Revolte kaum in Erscheinungen getreten. Nur die Eröffnung
eines Beitrittskapitels wurde symbolisch um wenige Monate verschoben, und der jüngste
Türkei-Fortschrittsbericht der EU-Kommission ist überaus
milde ausgefallen. Dies wirft Fragen nach der Glaubwürdigkeit
einer umfassenden Demokratisierungsperspektive auf. Und diese Fragen wurden
nicht zuletzt von der Protestbewegung selbst gestellt, die in ihrem Wirken eine
antiautoritäre mit einer antineoliberalen Dimension
verband. Insofern kann die Rolle der EU während und nach der türkischen
Juni-Revolte nicht ohne diese Dimension verstanden werden.
Dies
gilt insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass sich mit der Krise des
Neoliberalismus in der EU selbst neue Formen autoritärer
Staatlichkeit ausbilden. Außerdem regeln die meisten zwischen Türkei
und der EU geschlossenen Verträge wie auch die Kriterien von Kopenhagen[1]
primär nicht etwa Grundrechte, sondern die alternativlose
Neoliberalisierung der Ökonomie. Zur vielbeschworenen politischen
Konditionalität gehört dabei auch die Verteidigung dieser in der
Türkei per Militärputsch eingeführten
neoliberalen Ordnung, gegen die sich die Proteste maßgeblich
gerichtet haben.
Neoliberalisierung durch Europäisierung – Europäisierung durch
Neoliberalisierung
Im
Gegensatz zur türkischen Debatte findet in der deutschen
Debatte die enge Beziehung zwischen dem EU-Beitritts-Projekt der Türkei
und dem fortdauernden Neoliberalisierungsprozess kaum Beachtung. Bereits 1963
war zwischen Brüssel und Ankara ein Assoziierungsabkommen
geschlossen worden, das neben einer vagen Beitrittsperspektive vor allem die
schrittweise Errichtung einer gemeinsamen Zollunion beinhaltete. Die Türkei
verfolgte jedoch eine Politik binnenorientierter Industrialisierung, die nicht
nur von den gesellschaftlichen Eliten, sondern auch von weiten Teilen der
organisierten politischen Linken (und Rechten) getragen wurde. Die durch das
Assoziierungsabkommen eingegangen Verpflichtungen zu ökonomischer
Liberalisierung wurden in der Türkei kaum in Form wirksamer Politik
umgesetzt. Auch die EG maß den Beziehungen zu Ankara nur wenig Priorität
bei, denn der türkische Markt war klein. Erst durch das Scheitern
der türkischen Industrialisierungsstrategie Ende
der 1970er Jahre wurden die Voraussetzungen für
einen Neustart der Beziehungen zur EG geschaffen. Diese Krise veranlasste die führenden
Kapital-Konglomerate in der Türkei und inzwischen auch die türkische
Regierung dazu, sich nicht länger den Kreditbedingungen der
internationalen Finanzinstitutionen zu verschließen.
Sie stellten Kredite gegen Strukturanpassungsmaßnahmen
bereit, die auf eine neoliberale Neuausrichtung der türkischen
Wirtschaft zielten. Dieses Programm war 1980 letztlich nur auf dem Weg des
Militärputsches durchsetzbar. Zu viele
gesellschaftliche Konflikte, darunter auch die immer stärker
politisierte Kurdische Frage, blockierten die störungsfreie
Umsetzung der neoliberalen Agenda. Erst über den Militärputsch
konnte jener repressive gesellschaftliche Friede hergestellt werden, der den
eigentlichen Beginn der Strukturreformen ermöglichte.
Die Militärjunta zerschlug die politische Linke und
erstickte so die organisierte Opposition gegen die Strukturreformen im Keim.
Eine neue repressive Verfassung sicherte dieses Ergebnis über
den Abtritt der Junta (1983) hinaus ab. In den Jahren unmittelbar nach dem
Militärputsch vollzog sich zunächst
eine relativ rasche Erholung der türkischen Ökonomie,
obwohl das Ziel der Exportorientierung nicht erreicht wurde und hohe Defizite
weiter die Handelsbilanz bestimmten. Während die sozialen Kosten für
die Reformen weitgehend von der Bevölkerung getragen wurden, zum Beispiel durch
drastische Lohneinbußen und Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen,
hatten die ab 1980 eingeleiteten Veränderungen die Beziehungen zwischen Ankara und
Brüssel aus ihrer Lethargie befreit: Durch die Öffnung
der türkischen Waren- und Finanzmärkte
in den 1980er Jahren konnten in den bisherigen Hauptstreitpunkten der Türkei-Assoziation
große Fortschritte erzielt werden. Durch den Beitritt zur
Zollunion der EU 1996 galten nun mit Freiem Warenverkehr, Freiem Kapital- und
Zahlungsverkehr sowie Dienstleistungsfreiheit drei der vier so genannten
Grundfreiheiten der Europäischen Union. Die Freizügigkeit
im Personenverkehr war bezeichnenderweise davon ausgenommen. Mit diesen
Grundfreiheiten musste das europäische Wirtschaftsrecht in der Türkei
übernommen werden, womit die Entwicklung des türkischen
Neoliberalismus eng an die sich ebenfalls rasant neoliberalisierende Europäische
Integration gekoppelt wurde. Ökonomische Alternativen wurden damit de jure
unterbunden. Dieser Neoliberalisierungsprozess in der Türkei
durch die institutionalisierten Beziehungen zur EU ist auch im zentralen
Interesse der führenden gesellschaftlichen Akteure in der Türkei
gewesen. Er war seit den 1980er Jahren zielstrebig von ihnen betrieben worden.
Auch
zentrale EU-Akteure hatten in den späten 1990er Jahren ein wachsendes Interesse
daran, die Beziehungen zur Türkei weiter zu institutionalisieren. Während
die großen europäischen Industrieverbände
die Potentiale des türkischen Marktes erkannten, trat durch die
sich damals verstärkende Tendenz der gemeinsamen europäischen
Außen- und Sicherheitspolitik eine weitere Dimension hervor:
Geopolitik. Deutschland und Frankreich verfolgten die Idee, die EU stärker
als geopolitische und geoökonomische Akteurin in Konkurrenz zu den
Vereinigten Staaten auszurichten. Hierfür schien die Türkei
aufgrund ihrer geografischen Lage und ihrer großen
und gut ausgestatteten Streitkräfte attraktiv. Großbritannien
erhoffte sich von einer Integration der Türkei aufgrund ihrer politischen Nähe
zu den USA eine Stärkung des transatlantischen Lagers in der EU.
Gegensätzliche außenpolitische
Interessen innerhalb der EU kreierten so zusätzliches
Interesse an der Türkei. So verdichteten sich die verschiedenen
Dimensionen der EU-Türkei-Beziehungen zu einem Beitrittsprojekt.
Im
Gegensatz zu den transatlantischen Institutionen (Internationaler Währungsfond,
Weltbank), deren Strukturanpassungs-Agenda unmittelbar nach dem 1980er-Militärputsch
umgesetzt worden war, stand die EU für Fortschritte in Demokratie und
Menschenrechte. Von den Kopenhagener Kriterien nahm die türkische
Öffentlichkeit Ende der 1990er Jahre vor allem jene war,
die sich auf Rechtsstaat, Demokratie, Minderheitenschutz und Menschenrechte
bezogen. Diese Konstellation stärkte so die Verbindung von Neoliberalisierung
und Europäisierung und verankerte so das nun »alternativlose«
neoliberale Regime. Nicht zuletzt deshalb konnten in den späten
1990er Jahren graduelle politische Liberalisierungen, zum Beispiel im Bereich
des Strafrechtes oder der Versammlungsfreiheit, gewagt werden. Auch eine
relativ umfassende Reform des Zivilrechtes wurde verabschiedet. Die
Beitrittsperspektive hatte zumindest auf diesen Feldern einen
Demokratisierungsprozess angestoßen. Während Linksliberale sich daher fest an das
Europäisierungsprojekt banden und glaubten, durch
ihr Bekenntnis zu Europa die klassischen Fehler der türkischen
Linken überwunden zu haben, sah sich die EU-kritische
Linke in der Türkei zunehmend isoliert –
auch weil das Feld der EU-Kritik nationalistisch besetzt war.
Der lange Weg zu Gezi: Die EU und die Reformen
der AKP-Regierung
Während
die Türkei seit dem EU-Gipfel von Helsinki (1999)
den Status einer Beitrittskandidatin hatte, blieben zahlreiche Probleme ungelöst:
Obwohl im kurdischen Osten nach eineinhalb Dekaden heftigen Bürgerkriegs
eine relative Ruhe eingekehrt war, hatte dieser Krieg die Verschuldung des türkischen
Staates erheblich erhöht. Staatsverschuldung und Außenhandelsdefizite
konnten nur durch Zuflüsse von ausländischem
Kapital gedeckt werden. Dies machte die Türkei anfällig für Schwankungen auf den internationalen
Finanzmärkten, bereits verhältnismäßig
kleine Abzüge von Kapital konnten ökonomische
Krisen auslösen. Die bis heute schwerste dieser Art
ereignete sich 2001. Nach plötzlichen Kapitalabflüssen,
die zum Zusammenbruch des Bankensektors führten, brach das Bruttosozialprodukt um 8,5%
ein, 800.000 Menschen verloren binnen kurzer Zeit ihre Arbeit, die
Realeinkommen der Beschäftigten sanken erheblich. Auch dieses Mal
wurden die Kosten der Krisenbewältigung primär
von der lohnarbeitenden Bevölkerung getragen. Die türkische
Regierung stimmte einem Strukturanpassungsprogramm von Weltbank und IWF zu und
verlor daraufhin 2002 die Wahlen. Ein gutes Drittel der Wahlstimmen reichte der
frisch gegründeten AKP zur Bildung ihrer ersten
Regierung.
Anders
als ihre Vorgängerin, die islamistische Wohlfahrtspartei,
identifizierte sich die AKP aktiv mit dem neoliberalen Projekt und setzte die
Politik der Strukturanpassung konsequent fort. International gelang ihr, jeden
Zweifel an ihrer Selbstverpflichtung gegenüber der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu
zerstreuen. Konsequenterweise setzte sie die EU-Beitrittspolitik ihrer Vorgängerinnen-Koalition
zunächst fort. Nicht zuletzt deshalb wurde sie in Europa
nicht als islamistische Partei wahrgenommen. Viele Publikationen der damaligen
Zeit sahen in ihr die Repräsentantin eines »anatolischen
Calvinismus« oder gar einer »islamisch-demokratischen
Moderne«. Manch politische Liberalisierungen (u.a.
Abschaffung der Todesstrafe, Liberalisierung des Presserechtes) verknüpfte
sie mit einem umfassenden Umbau der Staatsapparate. Dadurch konnte sie ihre
Position gegenüber potentiellen Opponent_innen stärken.
Zugleich relativierte dieser Umbau einige der vorangegangenen
Liberalisierungen. [2] Erste islamistische Gesetzgebungsvorhaben –
2004 sollte z.B. der ›Ehebruch‹ unter Strafe gestellt werden –
scheiterten zunächst noch an gesellschaftlichen Widerständen.
Gleichwohl waren weite Teile der säkularen und linken Öffentlichkeit
in der Türkei alarmiert. Derweil galt innerhalb der EU
bereits der schiere Nichtvollzug einer radikalen islamistischen Wende als Beleg
für den säkularen und demokratischen Charakter der
Partei. [3] Im Jahr 2005 begannen schließlich die Beitrittsverhandlungen der Türkei
mit der EU. Dieser diplomatische Erfolg wertete das internationale Ansehen der
AKP weiter auf.
Ebenso
stärkte dieser Status die Kreditwürdigkeit
und den Ruf des Landes als attraktivem Investitionsstandort. Starke Zuflüsse
ausländischen Kapitals, das mittels umfangreicher
Privatisierungsprogramme ins Land gelockt worden war, trugen zu hohen
Wachstumsraten bei. Dieses Wachstumsmodell setzte auf die Inwertsetzung von
Naturressourcen und öffentlichen Flächen,
auf hohen Privatkonsum und private Verschuldung sowie auf rasante
Gentrifizierung in den großen Städten, allen voran Istanbul.
Obwohl
sich dagegen wiederholt lokale Proteste richteten, fanden die ersten
landesweiten Massenproteste erst 2007 unter der Führung
von etablierten Mittelschichten (darunter viele pensionierte Militärangehörige)
statt, von denen nicht wenige eine Deklassierung befürchteten.
Sie führten gegen die von der AKP betriebene
Politik der Neoliberalisierung, Islamisierung und des autoritären
Umbaus der Staatsapparate einen ebenfalls autoritären
kemalistisch-nationalistischen Diskurs, der sich explizit gegen die EU
richtete. Obwohl durch ein Memorandum der Streitkräfte
unterstützt, wurden die Proteste sowohl von sämtlichen
türkischen Unternehmensverbänden
als auch allen relevanten EU-Akteuren abgelehnt. Vor dem Hintergrund hoher wirtschaftlicher
Wachstumsraten und des auf erhebliche Teile der Bevölkerung
bedrohlich wirkenden kemalistischen Diskurses der Opposition gewann die AKP
2007 erneut die Wahlen.
Das
EU-Beitrittsprojekt hatte zu diesem Zeitpunkt bereits an Dynamik verloren und
fungierte primär als Anker, der den türkischen
Neoliberalisierungsprozess extern absicherte. Dies war im Interesse beider
Seiten: Die so genannte Post-Lissabon-Krise der Europäischen
Integration hatte die Aufmerksamkeit der europäischen
Akteure nach innen verschoben, eine von Geopolitik getriebene Integration der Türkei
konnte warten. Auch für die AKP hatte das Beitrittsprojekt einen
wichtigen Teil seiner Funktion bereits erfüllt: Die Transformation der Staatsapparate
war fortgeschritten, die Position der Partei nach 2008 konsolidiert, und der
weitere Umbau der Staatsapparate musste nicht mehr zwingend über
EU-Imperative begründet werden.
Nach
Konsolidierung ihrer Position war die AKP bemüht,
die Wiederholung der 2007er-Massenkundgebungen zu verhindern, und die Möglichkeit
eines weiteren Verbotsverfahrens gegen die Partei zu bannen. Den Vorwurf der
Bildung einer terroristischen Vereinigung namens »Ergenekon«
nutze sie, um Verhaftungswellen gegen ihre GegnerInnen zu lancieren. Obwohl die
Ermittlungen und die Verfahren von Beginn an rechtsstaatliche Standards
unterliefen, wurden sie in ihrer Frühphase von der EU als Beleg für
den Reformkurs der Türkei gewertet. Erst nach Jahren und mit der
brutalen Zerschlagung kurdischer, gewerkschaftlicher und links-akademischer
Organisationsstrukturen durch die sogenannten KCK-Operationen wuchsen innerhalb
der EU und im liberalen Spektrum in der Türkei Zweifel am Charakter der
Verhaftungswellen.
Demgegenüber
wertete die EU-Kommission das 2010 erfolgreich durchgeführte
Verfassungsreferendum als weiteren positiven Schritt, obwohl es noch nicht
einmal von der AKP-Regierung als »EU-Reform«
lanciert worden war. Beworben als Überwindung »der
Putschistenverfassung von 1983« beschnitten die Verfassungsänderungen
symbolisch einige Privilegien des Militärs, primär stellten sie aber einen direkten Zugriff
der Regierung auf den Justizapparat sicher und schränkten
Klagemöglichkeiten gegen die Inwertsetzung von Natur
und öffentlichem Raum ein. Trotz einer ausgeprägt
repressiven Kampagne, die jede Opposition gegen das Referendum in die Nähe
zur Militärjunta rückte, fand es nur eine relativ knappe
Mehrheit. Auch während der Wahlen des Jahres 2011 sollte es
der AKP nicht mehr gelingen, ihre Unterstützung weiter auszubauen. Stattdessen
verfestigten sich vom Herbst 2011 an die Krisentendenzen in der türkischen
Ökonomie: Steigende Handelsbilanzdefizite und ein
sinkender Wechselkurs haben seither die Wachstumsraten massiv einbrechen und
unstetig werden lassen. Während der Akkumulationsprozess staatlicherseits
durch stetig größere Bauprojekte stimuliert werden sollte,
zeigten sich die ökologisch-räumlichen
Grenzen dieses Wachstumsmodells immer deutlicher. Schließlich
führten auch die sinkenden Verteilungsspielräume
zu Spannungen zwischen regierungsnahen und regierungsfernen Kapitalfraktionen.
So
begannen türkische Unternehmen, sich verstärkt
auf die mediterran-arabischen Staaten zu orientieren, die als Absatz- und
Investitionsraum attraktiv wurden. Die 2011 beginnenden politischen Umbrüche
in diesen Staaten nutzte die AKP, um durch die Förderung
ihrer Schwesterparteien selbst die Rolle einer Führungsmacht
im arabisch-mediterranen Raum zu übernehmen und die ökonomische
Expansion der türkischen Unternehmen in die Region politisch
zu flankieren. Dabei bemühte sie ein »neoosmanisches
Projekt«, was zumindest symbolisch eine Abwendung von
Europa suggerierte. Materiell hingegen passten die europäischen
und türkischen Interessen im mediterran-arabischen
Raum gut zueinander: Die EU versuchte zu verhindern, dass die arabischen
Revolten sich zur Gefahr für und die bündnispolitische
Orientierung der Staaten in der Region auswuchsen. In der Türkei
unter der AKP schien die demokratische Inklusion einer primär
als »religiös-konservativ«
wahrgenommen Bevölkerung in marktliberales Entwicklungsmodell
mit Erfolg umgesetzt worden zu sein. »Moderat islamische«
Parteien stellen für die EU, wie auch die USA, die bevorzugten Bündnispartnerinnen
in der Region dar. Nicht zuletzt dies führte seitens der türkischen
Regierung zu der Selbstüberschätzung, sich am Sturz des syrischen
Baath-Regimes beteiligen zu können. Tatsächlich
trug die türkische Unterstützung
rechter und islamistischer Fraktionen der syrischen Opposition im Ergebnis dazu
bei, die Revolte gegen das Regime in einen konfessionell aufgeladenen Bürgerkrieg
zu transformieren. Doch die von der AKP erhoffte direkte westliche Intervention
fand nicht statt. In Europa wurde wenig bekannt, dass in der türkischen
Bevölkerung die Monate und Wochen vor der Gezi-Protestwelle
von einer wachsenden lagerübergreifenden Unzufriedenheit mit der türkischen
Außenpolitik geprägt gewesen waren. Versuche der AKP, über
die Stimulierung anti-alevitischer Stereotype Zustimmung für
ihre Syrienpolitik zu generieren, trugen derweil auch in der Türkei
zu wachsenden konfessionellen Spannungen bei. Die mit EU-Interessen
harmonierende »neoosmanische« Außenpolitik
sorgte so für wachsende Konflikte in der Türkei
selbst. Unter anderem deshalb trat die türkische Regierung im Frühjahr
in Verhandlungen mit der PKK – mit dem Ziel, die Lage im eigenen Land zu
beruhigen und die Basis ihrer »neoosmanischen« Außenpolitik
zu verbreitern.
Die türkische Protestbewegung im
Spiegel europäischer Interessen
In
diesem gesellschaftlichen Klima wurde der Polizeiangriff auf ein Protestcamp
von StadtplanerInnen und UmweltschützerInnen zum Ausgangspunkt einer
landesweiten Revolte. In der Verdrängung des Istanbuler Gezi-Parks durch eine
Shoppingmall in Form einer osmanischen Kaserne verdichteten sich sowohl die
Widerstände gegen neoliberale Stadtentwicklung als
auch gegen die immer offenere Islamisierung des Alltäglichen
und den riskanten türkischen Großmachtanspruch.
Während die über Wochen dauernden Proteste mit einer für
die meisten europäischen BeobachterInnen unerwarteten Härte
niedergeschlagen wurden, befand sich die EU in schwierigen Situation: Die
internationale Reputation ihrer Beitrittskandidatin war zerstört,
und der Verbleib der AKP an der Regierung schien keineswegs sicher. Die
insgesamt instabile Lage in der Region verschärfte
die Besorgnis. In dieser Situation vermieden die EU-Regierungen alle politische
Konsequenzen, die die türkische Regierung unter Druck gesetzt hätten.
Dies wertete die AKP als Bestätigung ihrer Politik gegenüber
der Protestbewegung. Trotz langfristiger ökonomischer und außenpolitischer
Interessen war – angesichts der mit der Protestbewegung
sympathisierenden öffentlichen Meinung– eine aktive Unterstützung
der Regierung in der Aufstandsbekämpfung für die Regierungen der EU-Staaten keine
Option. So bestimmte Passivität in der Causa Gezi in den darauffolgenden
Monaten das Agieren der EU.
Allerdings
konnte die EU ihre abwartende Haltung nur bis Oktober 2013 durchhalten: Die
Umsetzung der Entscheidung zur Eröffnung eines neuen Beitrittskapitels
(Regionalpolitik) stand an. Ebenso zwang der jährlich
zu veröffentlichende Türkei-Fortschrittsbericht
der EU-Kommission zu einer Positionierung in der Causa Gezi. Dieser Bericht ist
eines der bislang wenigen EU-Dokumente, in denen die Haltung der EU zu den
Protesten explizit wird. Die Passagen zu den Protesten lesen sich bei oberflächlicher
Betrachtung wie eine verhaltene Kritik am Agieren der türkischen
Behörden: Die massive Polizeigewalt wird als »exzessiv«
beschrieben, und die Proteste, gegen die sich diese Gewalt richtete, als »größtenteils
friedlich«. Ebenso finden die Verhaftungen von
JournalistInnen und AktivistInnen nach Artikel 314 des türkischen
Strafgesetzbuches (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) Erwähnung.
Dessen ungeachtet erkennt der Bericht in den Ereignissen des Sommers keine
systematische Niederschlagung einer Protestbewegung. Er erwähnt
ebenso wenig die Drohung der Regierung, ihre Streitkräfte
gegen die Protestierenden einzusetzen. Vielmehr sieht die Kommission eine Summe
isolierter Gewaltereignisse, unverhältnismäßige »Szenen der Gewalt«
(Kommission 2013, S. 52f) Eine solche Interpretation der Ereignisse ist schon während
des Sommers in einigen Flügeln der AKP vertreten worden. Insbesondere
im Umkreis von Präsident Abdullah Gül
waren Zweifel geäußert worden, inwieweit die Härte
verhältnismäßig gewesen war –
gerade mit Blick auf eine rasche Befriedung der Lage. Der Bericht hebt explizit
die »ausgleichende Rolle« des Präsidenten hervor (ebd., S. 9) und
problematisiert den »fortdauernden Mangel an Dialog und
Kompromissgeist zwischen den politischen Parteien«
sowie eine »ungenügende Vorbereitung wichtiger Gesetzesvorhaben«. Er
betont die »Notwendigkeit einer systematischen
Konsultation der Zivilgesellschaft und anderer Stakeholder im Gesetzgebungsprozess«
(ebd., S. 7). Während der aus der Managementsprache entlehnte
Begriff »Stakeholder« die
Existenz fundamentaler Interessensunterschiede entnennt, legt die Forderung
nach Konsultationsmechanismen nahe, dass Umsetzungsprobleme vermeintlich alternativloser
Politiken im Vordergrund stünden. Gerade gegen solch ein Bild von
Gesellschaft richtet sich die Protestbewegung. Die Unterschiede zwischen den
(durchaus vielfältigen) Interessen der Protestbewegung und
der EU-Kommission könnten größer kaum sein.
Insofern
der Bericht der Kommission primär die Bemühungen
der türkischen Regierung bei der Implementierung
der neoliberalen Agenda überwacht, sind derartige Differenzen kaum überraschend
– gerade weil die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten
indirekten Einfluss auf die Erstellung des Berichtes haben. Dennoch fällt
die von der Kommission getroffene positive Gesamteinschätzung
der politischen Lage in der Türkei überraschend positiv aus, so vermeldet der
Bericht »Fortschritte auf dem Gebiet der Justiz«
(ebd., S. 63). Verbesserungswürdig bleiben nur einzelne Aspekte, nicht die
generelle Richtung der türkischen Regierung. Besonders deutlich wird
dies in der politischen Schlussfolgerung des Berichts: »Die
positive Agenda, die 2012 gestartet worden war, unterstützte
und flankierte weiterhin die Beitrittsverhandlungen durch eine erweiterte
Kooperation auf Feldern gemeinsamer Interessen: politischer Reformen, Anpassung
an den Aquis, Dialog über Außenpolitik, Visa, Mobilität
und Migration, Handel, Energie, Anti-Terrorismus und Teilnahme an
EU-Programmen. (…) Die Kommission erkennt ebenfalls die
Fortschritte an, die in Bezug auf wichtige Anforderungen betreffend der Justiz
und den fundamentalen Rechten erzielt wurden.«
(ebd., S. 3) Insgesamt ist die Bewertung der Türkei
durch die EU-Kommission 2013 deutlich positiver ausgefallen als 2012. Ökonomische
und geopolitische Interessen sowie die Verteidigung der neoliberalen Ordnung
genießen in der Türkeipolitik
der EU klaren Vorrang. Ungeachtet der Frage, ob oder wann es einen Beitritt der
Türkei zur EU geben wird, verlangen die Kopenhagener
Kriterien die Selbstverpflichtung auf die neoliberale Ordnung. Dazu gehört
auch die Bereitschaft zur Verteidigung der Ordnung. Dieses ungeschriebene –
aber wichtige – Beitrittskriterium hat die AKP durch die
Niederschlagung der Proteste im eigenen Interesse erfolgreich erfüllt.
***
[1] »Als Voraussetzung für
die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität
als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung,
für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und
den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine
funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit,
dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die
Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen
Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen
und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion
zu eigen machen können.« (Europäischer Rat, Kopenhagen Juni 1993, S. 13)
[2]
Darüber hinaus verfügt das türkische Strafrecht über
eine große Anzahl von »Reserveparagraphen«,
wodurch Veränderungen einzelner Paragraphen nicht selten
durch andere bestehende Gesetze neutralisiert wurden, was die de-facto-»Simulation« von
Reformprojekten ermöglicht. Exemplarisch sei der Paragraph 301
des türkischen Strafrechtes genannt. Im Falle
seiner Streichung gäbe es eine Reihe anderer, zur Einschränkung
der Meinungsfreiheit hinreichend taugliche Paragraphen.
[3] Auch die in Europa herrschende Fremdenfeindlichkeit
gegenüber muslimischen MigrantInnen sowie die
kemalistisch-nationalistische Besetzung säkularer Diskurse in der Türkei
halfen im Ergebnis der AKP, europäischen Meinungen auch aus dem linken
politischen Spektrum für sich zu gewinnen.
Die
Zitate basieren auf einer Eigenübersetzung aus: European Commission:
Commission Staff Working Document, Turkey 2013 Progress Report; Brussels,
16.10.2013