In der neoliberalen Ära wurde die Türkei zum
Schauplatz des Entstehens einer neuen Bourgeoisie, die die materielle Basis der
AKP bildet. Die Bauindustrie ist ein zentraler Pfeiler für die
Akkumulationsstrategien dieser Bourgeoisie. Unterstützt wird sie durch eine
stetige Erweiterung von Maßnahmen, welche die direkte Einmischung der
Zentralregierung in die Bauindustrie ermöglichen.
Um die zentrale Stellung der Bauindustrie für die neueren Entwicklungen in der Türkei zu begreifen, sollten vier zusammenhängende Aspekte in Betracht gezogen werden. Erstens die globale Tendenz zur neoliberalen Umgestaltung von Raum; zweitens der seit zehn Jahren anhaltende Bauboom in der Türkei; drittens die Rolle der seit 2002 regierenden islamisch-konservativen AKP; und viertens das Engagement der türkischen Bourgeoisie (Fraktionen der Bourgeoisie) in der Bauindustrie. In dieser kurzen Übersicht werde ich den ersten Aspekt, also die globale Tendenz zur neoliberalen Umgestaltung von Raum und Finanzialisierung des Immobiliensektors, auslassen und die Betrachtung ganz auf die Türkei konzentrieren[1].
Bauboom in der Türkei
Es ist weithin
akzeptiert, dass in Entwicklungsländern eine positive Beziehung zwischen den
Wachstumsraten der Bauindustrie und des Bruttoinlandsprodukts (BIP) besteht. In
der Türkei trägt die Bauindustrie sowohl direkt als auch indirekt zum
Wirtschaftswachstum bei. Der indirekte Beitrag wird über Verbindungen zu
anderen Sektoren wie dem Transportwesen, der Herstellung von Zement und Keramik
und dem Abbau von Erzen geleistet. Aus Tabelle 1 lässt sich eine Korrelation zwischen
der Entwicklung des BIP und der Bauindustrie ablesen. Die Bauindustrie hält
einen Anteil von nicht weniger als 5% am BIP. Die Daten zeigen auch auf, dass
der Bauboom durch die globale Krise nur kurzfristig unterbrochen wurde.
Rolle der AKP-Regierungen in der Bauindustrie
Der Immobiliensektor
gilt weithin als die treibende Kraft des Baubooms. Die AKP- Regierungen stimulieren
diesen Boom, indem sie die direkte Beteiligung staatlicher Organisationen
ausbauen und private Unternehmen ermutigen, urbane Restrukturierungsprojekte im
großen Stil zu entwickeln. Unter der Ägide der AKP wurden mehrere Reformen zur
Förderung von Bauaktivitäten durchgeführt. Der überwiegende Teil dieser
Reformen besteht in der Deregulierung von Vorgaben zur Stadtplanung und -entwicklung,
die als bloßer bürokratischer Überhang betrachtet werden. Noch auffallender
ist, dass direkte Eingriffe der Regierung in die Bauindustrie drastisch
ausgeweitet wurden. Dem staatlichen Agenten TOKİ (Behörde zur Verwaltung des
Siedlungsbaus) kommt in diesem Zusammenhang eine herausgehobene Stellung zu.
Ursprünglich war die 1984 gegründete Behörde für den sozialen Wohnungsbau
zuständig. Zwischen 1984 und 2002 hielt TOKİ einen Anteil von 0,6% Prozent am
Wohnungsbau. Im Jahr 2004 stieg dieser Anteil steil auf 24,7% an. Seit der
Regierungszeit der AKP hat TOKİ mehr als 500.000 Wohneinheiten im Wert von 35
Mrd. $ gebaut.
Einige von der AKP
verabschiedete Gesetze zum Ausbau der Befugnisse von TOKİ ermöglichen der
Regierung effizientere Eingriffe in die Bauindustrie. Daneben wurde TOKİ zu
einem gewichtigen Finanzakteur erhoben. Zunächst wurde 2002 der führende
Immobilienfonds (Emlak GYO A.Ş.), ebenfalls ein
öffentliches Unternehmen, in TOKİ eingegliedert. Dies ermöglichte die Kanalisierung
von Finanzkapital in die Bauindustrie und vice versa. Im Rahmen des 2007
erlassenen Hypothekengesetzes wurde TOKİ dann selbst zur Ausführung
finanzieller Operationen autorisiert, darunter die Ausgabe von Wertpapieren.
Die unter der AKP
durchgeführte Re-Positionierung der Behörde verleiht dieser einige Privilegien
gegenüber anderen Akteuren des Bausektors. Sozialer Wohnungsbau ist zwar der
offizielle Zweck, für den die Behörde geschaffen wurde. Mit ihm wird ihre privilegierte
Position gerechtfertigt. Dieser Rechtfertigung widerspricht allerdings, dass TOKİ
in den am wenigsten entwickelten Regionen der Türkei kaum investiert. Noch
auffallender ist, dass die meisten von TOKİ gebauten Häuser nicht etwa für die
unteren Einkommensgruppen konzipiert wurden, wie es ihrem offiziellen Auftrag
entspräche, sondern für die mittleren und oberen Gruppen.
Unter der AKP
entwickelte sich TOKİ zu einem herausragenden Akteur im gesamten Bausektor.
Nach Angaben der Behörde entsprechen die bis September 2012 gebauten
Wohneinheiten (mehr als 500.000) 22 neuen Städten mit jeweils 100.000
Einwohnern. Zum Vergleich: zwischen 1984 und 2002, dem Jahr der
Regierungsübernahme durch die AKP, wurden gerade mal 43.145 Wohneinheiten
gebaut, weniger als ein Zehntel also. TOKİ ist zu einem gigantischen
öffentlichen Unternehmen geworden – weit über den Sozialwohnungsbau hinaus. Diese
Tatsache wird sowohl durch eine große Anzahl von ihr errichteter, nicht dem
Wohnzweck dienender Gebäude wie Moscheen und Krankenhäuser, als auch durch die
erweiterte Autorisierung für Finanzgeschäfte und die direkte Beteiligung an
Gentrifizierungsprojekten unterstrichen.
Bauindustrie und Islamismus
Die in den großen
Städten auch unter der Leitung von TOKİ errichteten Betonwüsten erscheinen wie
eine qualitativ miese Imitation Europas der Nachkriegszeit. Durch die Lektüre
mancher islamistischer Schriftsteller gewinnt man den Eindruck, ein solcher
Baustil, der den Aufbau der Städte auf „moderne“ Weise transformiert, müsste islamistischer
Politik widersprechen. Tatsächlich haben einige islamistische Intellektuelle
kritisiert, dass die Errichtung von Betonblöcken eine massive Zerstörung der
Umwelt, traditioneller Nachbarschaftsbeziehungen sowie von kulturellem und
familiärem Zusammenhalt nach sich ziehe. Die Folge dieser Bautätigkeit sei eine
Zerstörung von Werten, auf die der Islam gründe. Kurzum, diese Art zu bauen
widerspricht den einstmaligen Empfehlungen prominenter islamisch-konservativer
Architekten und Städteplaner prinzipiell. Sie entspricht vielmehr den
Vorstellungen derjenigen, die den Hochhausbau als Bedingung für zeitgemäße
Zivilisation, als unbedingtes Modernisierungsziel erachten. Gerade gegen diese
Logik haben einige Islamisten lange Zeit argumentiert.
Allerdings sind
diese Intellektuellen weder eine Referenz für die AKP noch für die politische
Tradition, an die sie anschließt. Vielmehr befindet sich die engagierte
Betätigung der AKP im hochhinausschießenden Bausektor in Übereinstimmung mit
ihrer politischen Tradition. Im Gegensatz zu manchen islamistischen
Intellektuellen hat diese Tradition, in der die AKP und ihre Vorläuferparteien
stehen, niemals ernsthaft das über die gesamte Republikära hegemoniale
Modernisierungsparadigma infrage gestellt. Ganz im Gegenteil: Die
Rechtfertigung der atemberaubend schnellen, “modernisierenden” Umgestaltung der
Städte bildet einen Hauptstrang des von islamistischen Politikern, darunter
auch Tayyip Erdoğan, bemühten Diskurses.
Die türkische Bourgeoisie
In der neoliberalen
Ära wurde die Türkei zum Schauplatz des Entstehens einer neuen Bourgeoisie,
weithin bekannt als Anatolische Bourgeoisie, Grünes oder Islamisches Kapital
oder Anatolische Tiger. Die Bezeichnung “anatolisch” bezieht sich auf einen
bestimmten Raum, dem Städte wie Konya, Kayseri und Denizli angehören, die als
traditionelle Hochburgen islamistischer Politik gelten. Ein gewichtiger Anteil
der zum Anatolischen Kapital hinzugezählten Unternehmen steht direkt oder
indirekt in Verbindung mit islamistischen Sekten bzw. Netzwerken. Der 1990
gegründete Unternehmerverband MÜSİAD (Verband Unabhängiger Industrieller und
Unternehmer) bildet ein Netzwerk zwischen diesen Unternehmen aus verschiedenen
Städten und stellt den fürs Geschäft zuständigen Zweig islamistischer Politik
dar. Die Wahlsiege der AKP – bei kommunalen wie nationalen Wahlen – und die
Debatte über den Aufstieg der Anatolischen Bourgeoisie gehen Hand in Hand. So
unterstützte diese Bourgeoisie mit finanziellen und diskursiven Mitteln die AKP
und trug maßgeblich zu deren Wahlsiegen bei.
Die Anatolische
Bourgeoisie hatte nach dem Putsch im Jahr 1980 dank finanzieller Freiheiten und
laxer Regulation ein günstiges ökonomisches Umfeld vorgefunden. Die
Bauindustrie ist seit jeher ein prominentes Feld, auf dem diese Bourgeoisie
operiert. Der seit zehn Jahren anhaltende Bauboom hat dieser Gruppe verbesserte
Bedingungen für die Akkumulation von
Kapital bereitgestellt. Ein substantieller
Anteil der im Bausektor engagierten Firmen (bspw. İhlas, Çalık, Killer, Kombassan) hat einen anatolischen Ausgangspunkt und
steht in Verbindung mit religiösen Netzwerken. Diese Firmen üben offensichtlich
einen nennenswerten Einfluss auf die AKP aus. Sie werden bei der Vergabe von
öffentlichen Bauaufträgen bevorzugt. So scheint ein Klientelnetzwerk rund um
die beschleunigten Bautätigkeiten entstanden zu sein, dem auch
Korruptionsvorwürfe nichts anhaben können.
Durch die Querverbindungen zu anderen Wirtschaftssektoren profitieren
allerdings auch andere Fraktionen der türkischen Bourgeoisie vom Bauboom. Die
Vergabe von Krediten und Verbindungen zum Hypothekenmarkt verleihen dem
Bausektor eine treibende Dynamik in der Finanzialisierung. Finanzgeschäfte
werden wiederum hauptsächlich von den großen Konglomeraten betrieben, die nicht
zur Anatolischen Bourgeoisie gezählt werden. Daher wäre es irreführend zu
behaupten, der Bauboom nutze lediglich der Kapitalfraktion, die der Regierung
ideologisch nahesteht.
Der anhaltende
Bauboom nimmt eine immer prominentere Rolle in der Politik ein. Die Ankündigung
neuer Megaprojekte (bspw. Kanal Istanbul, eine parallel zum Bosporus
verlaufende zweite Wasserstraße) wurde kurz vor den letzten Parlamentswahlen
inszeniert. Insbesondere in den großen
Städten steht der Bauboom für die Verdrängung von Einwohnern aus ihren
angestammten Stadtvierteln und für Umweltzerstörung großen Ausmaßes. Dennoch
kommt dem Boom eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung von Hegemonie zu.
Andererseits ist die nicht nur für die türkische Bourgeoisie bedeutsame
Bauindustrie mit den jüngsten Protesten stärker in den Fokus oppositioneller
Politik gerückt. So sind die Besetzung des Gezi-Parks und die darauffolgenden
Demonstrationen eine neue Herausforderung der über den Bausektor stabilisierten
Hegemonie.