Freitag, 12. Juli 2013

Erdoğans Dilemma


Ein Kommentar von İsmail Doğa Karatepe und Özgür Genç

Eine Razzia gegen Umweltschützer_innen im Taksim Gezi Park wurde am 31. Mai zum Funken landesweiter Proteste in der Türkei. Seit dem hat die Türkei Massendemonstrationen erlebt, die sich fast über das gesamte Land erstrecken. An dem besagten Tag war eine Occupy-artige Bewegung gegen die Zerstörung dieses relativ  kleinen Parks unterdrückt worden, hunderte waren dabei inhaftiert bzw. verletzt worden. Offensichtlich dürften weder die Befehlshaber der Polizei noch der Gouverneur von İstanbul erwartet haben, dass diese Razzia hunderttausende im ganzen Land mobilisieren würde. Bereits in der Nacht des 31. Mai war dieser Protest zu einer großen Rebellion herangewachsen – offensichtlich nicht nur gegen die Zerstörung des Parks, sondern auch – wie das Graffiti »Kahrolsun Bağzi Seyler« sagt – gegen »irgendwas«. Es ist nicht einfach die unterschiedlichen Anliegen der Protestierenden zusammenzutragen, wie auch immer: die Beschränkungen von Freiheiten durch Regierungshandeln scheinen ihr Hauptanliegen darzustellen.

Die größte Gemeinsamkeit von fast allen Demonstrierenden ist ihre Unzufriedenheit mit der fast 11 jährigen Herrschaft der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Während der Proteste zeigt sich eine wachsende Verärgerung gegenüber Ministerpräsident Tayyip Erdoğan und anderen prominenten der AKP. Das Spektrum der Protestierenden variiert in bemerkenswerter Weise. Die breite Allianz der Demonstrierenden besteht zum einen aus nationalistisch-säkularen Kemalist_innen, größtenteils durch die Republikanische Volkspartei (CHP) organisiert, allen sozialistischen Parteien und Bewegungen – ob groß oder klein, und jenen Gewerkschaften, die sich selbst als progressiv bezeichnen. Zum anderen finden sich in der Allianz Teile der kurdischen Bewegung, Feminist_innen, LBGT-Aktive und viele andere Organisationen und Individuen, die gegen »etwas« sind. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann die Bewegung als breite Koalition von »Linken« beschrieben werden, oder um es präziser zu sagen, als eine, die innerhalb des türkischen politischen Spektrum nicht der Rechten zugerechnet werden kann. Nichts desto trotz hat eine solche Koalition keine gemeinsame ideologische Basis, ferner existieren tiefe ideologische Differenzen oder Feindschaften, z. B. zwischen türkisch-nationalistischen Kemalisten und den kurdischen Parteien und Organisationen, die zu den Demonstrationen in den größeren westlichen Städten hinzustoßen.
Die massiven Proteste sind für die AKP ihre vielleicht größte Herausforderung, seit ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen im November 2002. Unter allen denkbaren Reaktionen auf die Demonstrationen, scheinen sich die Regierung und Ministerpräsident Erdoğan für eine repressive zu entscheiden – ähnlich wie es vergleichbare Regierungen in vielen Staaten des Mittleren Osten tun. Die Polizei und Kräfte des Militärs wurden mobilisiert, um die Demonstrationen zu unterdrücken und dies gemeinsam mit paramilitärischen Pro-Regierungs-Kräften. Dank der Fähigkeit der AKP die Medien zu kontrollieren, haben Medien des Mainstreams darüber geschwiegen oder sendeten »Pro-Regierungs-Nachrichten«, obwohl auch die Proteste gegen diese Praxis wuchsen.
Insofern Erdoğan die mächtigste Figur innerhalb der Partei ist, wird sein Diskurs schnell innerhalb der Partei und von seinen Unterstützer_innen aufgenommen. So ist »Tayyip, tritt zurück!« zum meist verbreiteten Slogan und der Demonstrierenden geworden. Der Diskurs dessen sich der Ministerpräsidenten seit dem Beginn der Demonstrationen bedient, verdient diskutiert zu werden, um die gegenwärtige politische Konfrontation zu verstehen. Eher als eine ausgefeilte Diskursanalyse möchten wir zwei Elemente seines Diskurses hervorheben, die einander widersprechen.
1- ) Tayyip Erdoğan versucht von ideologischen Unterschieden zwischen den Protestierenden zu profitieren. Er hat gegenüber Nationalist_innen oft die Teilnahme der kurdischen Bewegung bei den Protesten betont. Und umgekehrt das Gleiche gegenüber der kurdischen Bewegung. Ebenso hat er versucht, die sozialistischen Bewegungen, die insbesondere um dem Taksim Platz herum eine treibende Kraft der Demonstrationen darstellen, durch ihre Kriminalisierung von den anderen Demonstrierenden zu Marginalisieren und so die Forderungen der letzteren zu minimieren.
2 -) Seitdem die Demonstrationen begonnen haben, hat er seinen Reden nicht nur auf islamistische Werte gesetzt, sondern verstärkt auch auf nationalistische Elemente. Die Ansprachen scheinen so formuliert zu sein, dass sie auf einen Konsens unter jenen zielen, die sich als Muslime – als sunnitische Türk_innen – begreifen. Der starke Bezug auf das türkisch-islamische Element in seinem Diskurs erinnert an den Diskurs prominenter Figuren der Militärjunta der achtziger Jahre. Damals profitierte das Militär von einem solchen Diskurs, der darauf zielte, islamische Elemente und Nationalismus aufzunehmen. Dies wurde als Türkisch-Islamische-Synthese bekannt. Insofern der gleiche Diskurs bereits während der 1990er Jahre gegen die kurdische Opposition in Stellung gebracht wurde, ist es nicht falsch zu sagen, er bildet eine Entgegnung auf jedwede Form um sich greifender dissidenter Bewegungen. Während sie verschiedene Komponenten der traditionellen Rechten miteinander verknüpfen, versuchen die AKP und der Ministerpräsident andere Elemente islamistischer/nationalistischer Politik ebenfalls als ihre eigene politische Linie darzustellen. Dieser Versuch der Konsolidierung rechter Politiken gegen eine breite Allianz kann ernsthafte Konsequenzen haben: Eher als demokratische Mechanismen in Bewegung zu setzen, versuchen sie einen gegen die Opposition zu formen, der in der Lage ist, die Proteste zu eskalieren und Straßenkämpfe zu führen. Vier Menschen wurden bereits getötet, tausende wurden verletzt oder inhaftiert.
Die Bildung eines solchen Blocks analog zu Polizeigewalt trägt allerdings zur Vereinigung unterschiedlicher Gruppen bei und hilft der Bewegung ideologische Differenzen zu überwinden. Die Unmittelbarkeit des gemeinsamen Wiederstehens gegen Polizeigewalt mag als etwas vergägnliches erscheinen; und dennoch die Möglichkeit eines neuen Gemeinsamen ist bereits von den wiederständigen Gruppen internalisiert worden. Dies ist unwiderruflich. Die AKP, insbesondere Erdoğan, verwendet bereits einen Diskurs, der darauf zielt, ihre eigenen Anhänger_innen und die Protestierenden gegeneinander in Stellung zu bringen. Wie auch immer, die Sprache die sie dabei verwendet findet ihr Echo auch auf der anderen Seite des Spektrums. So verschärft die Regierung die bestehende Polarisierung durch ihren islamistisch-nationalistischen Diskurs und ihre Praktiken, die mit Polizeigewalt gepanzert sind. Es ist wahrscheinlich, dass der Wiederstand an Stärke gewinnen wird.
In Solidarität.