Ein Kommentar von
İsmail Doğa Karatepe und Özgür
Genç
Eine Razzia gegen
Umweltschützer_innen im Taksim Gezi Park wurde am 31. Mai zum Funken
landesweiter Proteste in der Türkei. Seit dem hat die Türkei
Massendemonstrationen erlebt, die sich fast über das gesamte Land erstrecken.
An dem besagten Tag war eine Occupy-artige Bewegung gegen die Zerstörung dieses
relativ kleinen Parks unterdrückt
worden, hunderte waren dabei inhaftiert bzw. verletzt worden. Offensichtlich
dürften weder die Befehlshaber der Polizei noch der Gouverneur von İstanbul erwartet haben, dass diese
Razzia hunderttausende im ganzen Land mobilisieren würde. Bereits in der Nacht
des 31. Mai war dieser Protest zu einer großen Rebellion herangewachsen –
offensichtlich nicht nur gegen die Zerstörung des Parks, sondern auch – wie das
Graffiti »Kahrolsun Bağzi Seyler« sagt – gegen »irgendwas«.
Es ist nicht einfach die unterschiedlichen Anliegen der Protestierenden
zusammenzutragen, wie auch immer: die Beschränkungen von Freiheiten durch
Regierungshandeln scheinen ihr Hauptanliegen darzustellen.
Die größte Gemeinsamkeit von fast
allen Demonstrierenden ist ihre Unzufriedenheit mit der fast 11 jährigen
Herrschaft der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Während der
Proteste zeigt sich eine wachsende Verärgerung gegenüber Ministerpräsident Tayyip Erdoğan und anderen prominenten der
AKP. Das Spektrum der Protestierenden variiert in bemerkenswerter Weise. Die
breite Allianz der Demonstrierenden besteht zum einen aus nationalistisch-säkularen
Kemalist_innen, größtenteils durch die Republikanische Volkspartei (CHP)
organisiert, allen sozialistischen Parteien und Bewegungen – ob groß oder
klein, und jenen Gewerkschaften, die sich selbst als progressiv bezeichnen. Zum
anderen finden sich in der Allianz Teile der kurdischen Bewegung,
Feminist_innen, LBGT-Aktive und viele andere Organisationen und Individuen, die
gegen »etwas« sind. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann die Bewegung als breite
Koalition von »Linken« beschrieben werden, oder um es präziser zu sagen, als
eine, die innerhalb des türkischen politischen Spektrum nicht der Rechten
zugerechnet werden kann. Nichts desto trotz hat eine solche Koalition keine
gemeinsame ideologische Basis, ferner existieren tiefe ideologische Differenzen
oder Feindschaften, z. B. zwischen türkisch-nationalistischen Kemalisten und
den kurdischen Parteien und Organisationen, die zu den Demonstrationen in den
größeren westlichen Städten hinzustoßen.
Die massiven Proteste sind für die
AKP ihre vielleicht größte Herausforderung, seit ihrem Sieg bei den
Parlamentswahlen im November 2002. Unter allen denkbaren Reaktionen auf die
Demonstrationen, scheinen sich die Regierung und Ministerpräsident Erdoğan für eine repressive zu
entscheiden – ähnlich wie es vergleichbare Regierungen in vielen Staaten des
Mittleren Osten tun. Die Polizei und Kräfte des Militärs wurden mobilisiert, um
die Demonstrationen zu unterdrücken und dies gemeinsam mit paramilitärischen
Pro-Regierungs-Kräften. Dank der Fähigkeit der AKP die Medien zu kontrollieren,
haben Medien des Mainstreams darüber geschwiegen oder sendeten »Pro-Regierungs-Nachrichten«,
obwohl auch die Proteste gegen diese Praxis wuchsen.
Insofern Erdoğan die mächtigste Figur innerhalb
der Partei ist, wird sein Diskurs schnell innerhalb der Partei und von seinen
Unterstützer_innen aufgenommen. So ist »Tayyip, tritt zurück!« zum meist
verbreiteten Slogan und der Demonstrierenden geworden. Der Diskurs dessen sich
der Ministerpräsidenten seit dem Beginn der Demonstrationen bedient, verdient
diskutiert zu werden, um die gegenwärtige politische Konfrontation zu
verstehen. Eher als eine ausgefeilte Diskursanalyse möchten wir zwei Elemente
seines Diskurses hervorheben, die einander widersprechen.
1-
) Tayyip Erdoğan versucht von ideologischen
Unterschieden zwischen den Protestierenden zu profitieren. Er hat gegenüber
Nationalist_innen oft die Teilnahme der kurdischen Bewegung bei den Protesten
betont. Und umgekehrt das Gleiche gegenüber der kurdischen Bewegung. Ebenso hat
er versucht, die sozialistischen Bewegungen, die insbesondere um dem Taksim
Platz herum eine treibende Kraft der Demonstrationen darstellen, durch ihre
Kriminalisierung von den anderen Demonstrierenden zu Marginalisieren und so die
Forderungen der letzteren zu minimieren.
2 -) Seitdem die Demonstrationen
begonnen haben, hat er seinen Reden nicht nur auf islamistische Werte gesetzt,
sondern verstärkt auch auf nationalistische Elemente. Die Ansprachen scheinen
so formuliert zu sein, dass sie auf einen Konsens unter jenen zielen, die sich
als Muslime – als sunnitische Türk_innen – begreifen. Der starke Bezug auf das
türkisch-islamische Element in seinem Diskurs erinnert an den Diskurs
prominenter Figuren der Militärjunta der achtziger Jahre. Damals profitierte
das Militär von einem solchen Diskurs, der darauf zielte, islamische Elemente
und Nationalismus aufzunehmen. Dies wurde als Türkisch-Islamische-Synthese
bekannt. Insofern der gleiche Diskurs bereits während der 1990er Jahre gegen
die kurdische Opposition in Stellung gebracht wurde, ist es nicht falsch zu
sagen, er bildet eine Entgegnung auf jedwede Form um sich greifender
dissidenter Bewegungen. Während sie verschiedene Komponenten der traditionellen
Rechten miteinander verknüpfen, versuchen die AKP und der Ministerpräsident
andere Elemente islamistischer/nationalistischer Politik ebenfalls als ihre
eigene politische Linie darzustellen. Dieser Versuch der Konsolidierung rechter
Politiken gegen eine breite Allianz kann ernsthafte Konsequenzen haben: Eher
als demokratische Mechanismen in Bewegung zu setzen, versuchen sie einen gegen
die Opposition zu formen, der in der Lage ist, die Proteste zu eskalieren und
Straßenkämpfe zu führen. Vier Menschen wurden bereits getötet, tausende wurden
verletzt oder inhaftiert.
Die Bildung eines solchen Blocks
analog zu Polizeigewalt trägt allerdings zur Vereinigung unterschiedlicher
Gruppen bei und hilft der Bewegung ideologische Differenzen zu überwinden. Die
Unmittelbarkeit des gemeinsamen Wiederstehens gegen Polizeigewalt mag als etwas
vergägnliches erscheinen; und dennoch die Möglichkeit eines neuen Gemeinsamen
ist bereits von den wiederständigen Gruppen internalisiert worden. Dies ist
unwiderruflich. Die AKP, insbesondere Erdoğan, verwendet bereits einen Diskurs, der darauf zielt,
ihre eigenen Anhänger_innen und die Protestierenden gegeneinander in Stellung
zu bringen. Wie auch immer, die Sprache die sie dabei verwendet findet ihr Echo
auch auf der anderen Seite des Spektrums. So verschärft die Regierung die bestehende
Polarisierung durch ihren islamistisch-nationalistischen Diskurs und ihre
Praktiken, die mit Polizeigewalt gepanzert sind. Es ist wahrscheinlich, dass
der Wiederstand an Stärke gewinnen wird.
In Solidarität.