Von Errol Babacan
‚Shoppen, Beten, Kinderkriegen‘, so lautete ein Slogan
auf dem Taksim-Platz, der die Leitlinien für die konforme Bevölkerung, die sich
widerspruchslos in die kapitalistische Wachstumspolitik einreiht, parodierte. Gegen diese
Zurichtung zeigt der Juni-Aufstand Wege auf, wie eine gesellschaftliche
Opposition organisiert und eine politische Alternative aufgebaut werden könnte.
Der landesweite Aufstand im Anschluss an die
Besetzung des Gezi-Parks in Istanbul kam für viele überraschend. Das relativ
stabile Wirtschaftswachstum, kontrastiert mit einer krisenbedingten Verarmung
großer Bevölkerungsgruppen in südeuropäischen Ländern, passte nicht zu den weit
verbreiteten Erwartungen, nach denen Wachstum mit allgemeiner Zufriedenheit
verbunden sein müsste. Die brutale Polizeigewalt widersprach dem hoch gelobten
‚Demokratiemodell Türkei‘, das den aufständischen arabischen Bevölkerungen als
Vorbild präsentiert wurde. Insgesamt passte dieser Aufstand nicht in das
etablierte Image der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP),
die sich auf einem Demokratisierungspfad befinde, indem sie das Militär in
seine Schranken verwies und ‚Friedensverhandlungen‘ mit der kurdischen Bewegung
aufnahm.
Mit der Parkbesetzung wurde eine Dynamik ausgelöst,
die auch in der Türkei für Überraschung sorgte, allerdings aus gänzlich anderen
Gründen als hierzulande. Was hier als Bruch wahrgenommen wurde, durch den sich
das demokratische Vorbild zu einem vollkommen enthemmten Polizeistaat angeführt
von einem autoritären Aufwiegler verwandelte, charakterisierte schon seit
langem die sozialen Auseinandersetzungen in der Türkei. Wo immer sich Protest
und Widerstand gegen ökologische Zerstörung, Vertreibung aus Stadtvierteln und
Dörfern für Gentrifizierungs- und Energieprojekte, Enteignung und Entrechtung
in all ihren Facetten, extreme bis tödliche Arbeitsbedingungen, Islamisierung
und Autoritarismus entwickelte, die Reaktion der staatlichen Organe fiel stets
gleich aus: Aufstandsbekämpfung.
Diese repressive Strategie funktionierte, ohne
besonderes Aufsehen im Ausland zu erregen, solange die Proteste fragmentiert
blieben, sie voneinander isoliert keine landesweite Dynamik und Kontinuität
entwickelten. Dass nun mit der Besetzung des Parks beinahe alle oppositionellen
Gruppen gleichzeitig auf die Straße gingen, die Eigendynamik der Straße für
eine Annäherung sonst voneinander isolierter oder gar verfeindeter Gruppen
sorgte, macht die Besonderheit eines Aufstands aus, mit dem niemand gerechnet
hatte.
Der Juni-Aufstand vereinte die Proteste gegen eine
Partei,
- die parlamentarisch-demokratische Entscheidungswege monopolisiert, die Gewaltenteilung de facto aufgehoben und polizeilich-richterliche Willkür systematisiert hat,
- die eine historisch beispiellose Plünderung öffentlichen Eigentums und die Privatisierung gemeinschaftlicher Lebensgrundlagen vorantreibt,
- und die der Bevölkerung ein islamisch-konservatives Korsett verpassen möchte.
Der Aufstand zeigt nun Wege auf, wie eine
gesellschaftliche Opposition organisiert und wie eine politische Alternative zu
diesen Entwicklungen aufgebaut werden könnte.
Autoritarismus trotz formaler Demokratie
Autoritarismus trotz formaler Demokratie
So überraschend der Zeitpunkt des Aufstands war, so bedrückt
war auch zuvor schon die Stimmung im Land. Denn entgegen der sich hartnäckig
haltenden Meinung, die AKP habe die staatlichen Institutionen demokratisiert,
passierte systematisch das Gegenteil. Nach bald elf Jahren Alleinregierung hat
die AKP alle vormals von ihr kritisierten autoritären und zentralistischen
Institutionen übernommen, die mit dem Militärputsch von 1980 eingeführt oder
ausgebaut wurden. Die Partei kann zudem nach Belieben mit Gesetzen und
Praktiken regieren, die für den Ausnahmezustand kennzeichnend sind, ohne die
Gewaltenteilung formal aufzuheben.
Das Vorgehen der Behörden bei der versuchten
Beseitigung des Parks ist symptomatisch für diese Entwicklung. Als Ende Mai die
Bagger anrückten, gab es keinen genehmigten Bauplan. Die Behörden handelten
illegal, was bei Bauprojekten, ob Wohnsiedlungen, Brücken, Straßen oder
Staudämme eher die Regel als die Ausnahme ist. In der Vergangenheit konnten,
häufig nach Protesten der betroffenen Bevölkerung, illegale Vorgehensweisen
gerichtlich unterbunden, begonnene Projekte gestoppt werden. Inzwischen hat die
AKP die politische Kontrolle über die Justiz hergestellt. Richterliche
Baustopps stellen kaum noch ein Problem dar, sie werden ignoriert oder von
einem höheren Gericht wieder aufgehoben. Eine Garantie, dass legale
Planungswege und Gerichtsurteile eingehalten werden, gibt es nicht.
Dieser Zustand ist auch Ausdruck einer allgemeinen
Entwicklung, bei der die Staatsmacht in den Händen der regierenden Partei
konzentriert wird, während den Oppositionsparteien systematisch der Zugang zu
den staatlichen Institutionen und somit Einfluss auf die staatlichen Entscheidungsprozesse
versagt wird. Den Höhepunkt dieses antidemokratischen Geschehens stellte ein
Ermächtigungsgesetz im Jahr 2011 dar, mit dem die Regierung über sechs Monate
unter Umgehung parlamentarischer Verfahren Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen
konnte, die nur noch der Staatspräsident unterzeichnen musste, was jeweils
umgehend geschah. Die Möglichkeit dieses Vorgehens war nach einer militärischen
Intervention in die Verfassung eingeführt worden und die AKP machte von diesem
Mittel ungeachtet ihrer schillernden Kritik am Militärputsch ungeniert
Gebrauch. Das Gesetz diente der Reorganisation des öffentlichen Dienstes.
Dahinter verbarg sich ein doppelter Zweck: Die beschleunigte Herstellung der
Kontrolle über den öffentlichen Dienst durch die Besetzung mit loyalem Personal
sowie eine Kompetenzverlagerung von kommunalen zu nationalen Behörden, also
eine Zentralisierung politischer Entscheidungswege. Nachdem das
Verfassungsreferendum von 2010 der Regierung die Kontrolle über die höchsten
Justizorgane, wie das Verfassungs- und das Kassationsgericht, ermöglicht hatte,
von dieser Seite der Regierung also keine Steine mehr in den Weg gelegt werden
konnten, ging es darum, letzte Oppositionszentren in den nachrangigeren
staatlichen Institutionen zu beseitigen.
Das Reorganisationsmuster des öffentlichen Dienstes
steht in einer Linie mit der Verfassung von 1982, durch die demokratische
Elemente der Selbstverwaltung in öffentlichen Einrichtungen stark beschnitten
wurden. Der damals eingerichtete Hochschulrat etwa kontrolliert die Hochschulen
und überwacht das wissenschaftliche Personal und die Lehrpläne. Der Rat (YÖK)
selbst wird de facto durch den Staatspräsidenten Abdullah Gül dominiert, der
auch die letzte Entscheidung bei der Ernennung von Hochschulrektoren trifft.
Gül hat dafür gesorgt, dass an den Universitäten und den zentralen nationalen
Forschungseinrichtungen regierungsnahes konservativ-islamisches Personal das Ruder
übernommen hat. Seitdem hat eine Art sunnitischer Kreationismus Einzug in die
wissenschaftlichen Leitlinien der Türkei genommen.
Die Systematik, mit der die Konzentration
politischer Macht in den Händen der AKP durchgesetzt wurde, schlägt sich
umgekehrt in der Ohnmacht der parlamentarischen Opposition nieder.
Symptomatisch für diesen Zustand war der Boykott des Parlaments nach den Wahlen
2011. Sowohl die größte Oppositionspartei CHP als auch die kleinere
kurdisch/sozialistische Oppositionspartei BDP boykottierten das Parlament, da
gewählte Abgeordnete aus ihren Reihen nicht aus der (fragwürdigen)
Untersuchungshaft entlassen wurden, obwohl dies bis dahin üblich war. Beide
Parteien gaben nach anfänglich lautem Getöse den Boykott wieder auf, ohne die
geringste Wirkung erzielt zu haben. Tragikomisch an dieser Situation war, dass
der Boykott exakt in dem Zeitraum stattfand, in dem das Parlament sich in der
Sommerpause befand.
Zahllose weitere Beispiele könnten angeführt werden,
um die Ohnmacht der parlamentarischen Opposition zu demonstrieren, die
permanent mit der Androhung konfrontiert ist, kriminalisiert zu werden. Mit dem
Lob für die Demokratisierung im Rücken hat die AKP sich sehr früh für eine
repressive Gangart entschieden. 2004 richtete sie mit Sondervollmachten
ausgestattete Gerichte ein und 2006 verschärfte sie die
Terrorbekämpfungsgesetze. Seitdem reicht schon die Teilnahme an einer
Demonstration, auf der ‚illegale‘ Symbole gezeigt wurden aus, um wegen
Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt zu werden. In keinem
anderen Land sind so viele GewerkschafterInnen, AnwältInnen, JournalistInnen,
AkademikerInnen, Studierende, BürgermeisterInnen, Abgeordnete und Mitglieder
der politischen Opposition auf der Grundlage von Terrorbekämpfungsgesetzen
angeklagt oder inhaftiert worden (2005: 3.400 Personen; 2007: 7.700; 2010:
11.900).
Bezeichnend für den erreichten Stand der
Konzentration politischer Macht ist die Aussage des stellvertretenden
Ministerpräsidenten Bülent Arınç, der mit dem Verfassungsreferendum im Jahr
2010 und der nachfolgenden Besetzung der höchsten Richterposten mit parteinahen
Gewährsmännern hocherfreut einen Dankesgruß an Gott sendete: ‚Gott sei Dank‘
könne Opposition jetzt nur noch von der Straße kommen, die man als nächstes in
den Griff bekommen werde. Während des Juni-Aufstands wurde diese Aussage durch
die Hilflosigkeit der Opposition, die trotz der offensichtlichen
Wirkungslosigkeit ihrer Anwesenheit im Parlament keine konsequente Kritik an
diesem System formuliert, erneut bestätigt. Als die Regierung den Vorschlag
unterbreitete, eine Volksbefragung über das Schicksal des Gezi-Parks
abzuhalten, waren viele Oppositionelle spontan für ein Kräftemessen an der
Wahlurne bereit, obwohl das Wahlergebnis keinerlei Verbindlichkeit gehabt
hätte, während die Regierung sich generell nicht an Gesetze und Gerichtsurteile
gebunden fühlt. Von einer Waffengleichheit im demokratischen Wettbewerb kann
ohnehin keine Rede sein. Tausende Oppositionelle befinden sich in Haft, alle
anderen sind permanent davon bedroht, eines Morgens verhaftet zu werden. Die
Massenmedien gehorchen der Regierung, während alternative oder oppositionelle
Medien zensiert und kritische JournalistInnen auf Geheiß der Regierung
entlassen werden. Mit der Volksbefragung wäre dieser antidemokratische Zustand,
der dazu führte, dass ‚die Straße‘ die Verteidigung des Parks gegen dessen
illegale Beseitigung selbst in die Hand nehmen musste, mit scheinbar
demokratischen Mitteln wiederhergestellt und die Bewegung passiviert worden.
Wider besseres Wissen fiel den Oppositionsparteien nichts Besseres ein, als
hierfür ihre Zustimmung zu geben.
Kapitalistische Landnahme und demokratische Mehrheiten
Kapitalistische Landnahme und demokratische Mehrheiten
Der Vorschlag einer Volksbefragung hätte zudem dafür
benutzt werden können, eine durch die Besetzung aufgeworfene grundlegende Frage
aufzugreifen, nämlich inwieweit die materiellen Lebensgrundlagen eines Teils
der Bevölkerung einer Mehrheitsmeinung geopfert werden dürfen. Die
ParkbesetzerInnen verteidigten eine der wenigen öffentlichen Grünflächen im Stadtzentrum,
die vielen zum Verschnaufen dient und deren Bäume Schatten in der heißen
Jahreszeit bieten. Der Park ist einer der seltenen Orte, an dem verweilt werden
kann, ohne konsumieren zu müssen. Heißt Demokratie, dass solche Orte
abgeschafft werden, wenn eine Mehrheit dies beschließt?
Im Zusammenhang mit der Parkbesetzung von der
Erhaltung materieller Lebensgrundlagen zu sprechen, erscheint auf den ersten
Blick als eine Übertreibung. Allerdings steht der Bau einer Shopping Mall mit
Hotels und Luxuswohnungen anstelle des Parks im Zusammenhang mit einem Wachstumsmodell,
von dem das ganze Land bedroht wird. Wenn das stabile Wachstum betont wird, das
im Fall der Türkei viele Leute so erstaunt, gerät dieser Zusammenhang häufig
aus dem Blick. Denn zu diesem Wachstum tragen maßgeblich solche Mechanismen
bei, in die sich auch die geplante Bebauung des Parks mit einem Konsumtempel
einfügt: Die Enteignung von Gemeinbesitz, öffentlichen Gütern und natürlichen
Ressourcen sowie eine kreditbasierte Expansion der konsumorientierten
kapitalistischen Lebensweise.
In der letzten Dekade wurden kontinuierlich
gesetzliche Schranken abgebaut, die der Privatisierung öffentlicher Güter sowie
der Verwandlung von Gemeinbesitz in (ver-)käufliche Waren im Wege standen.
Davon betroffen sind insbesondere Wasservorkommen, Waldbestände sowie von der
ländlichen Bevölkerung gemeinschaftlich genutzte Flächen. Kleinteilige Land-
und Viehwirtschaft ist mangels (inter-)nationaler Konkurrenzfähigkeit schon
länger kaum noch eine ausreichende Existenzgrundlage. Die Privatisierung von
Wald, Wasser und Weideflächen verschärft diesen Zustand und räumt zugleich
letzte Grundlagen ergänzender Subsistenzwirtschaft aus der Welt. Die Privatisierung
beschleunigt die Landflucht und entzieht gleichzeitig der sozial
unabgesicherten städtischen Bevölkerung notwendige dörfliche Rückzugsräume im
Falle ökonomischer Krisen und bedroht die Versorgung mit Lebensmitteln durch
Familienangehörige in den Dörfern.
In den Städten entsprechen dieser Politik sogenannte
Stadterneuerungsprojekte, die den Raum nach Kaufkraft neu ordnen. Wenig
kaufkräftige Bevölkerungsgruppen werden enteignet und aus den Stadtzentren in
Wohnsilos an den Stadträndern umgesiedelt, um kaufkräftigen Gruppen Platz zu
machen. Dabei werden über viele Jahre gewachsene Nachbarschafts- und informelle
Versorgungs- bzw. Geschäftsbeziehungen auseinander gerissen, Wege zur
Arbeitsstätte um ein Vielfaches verlängert und niemand wird gefragt, ob die
neue Wohnform in uferlosen Betonblöcken den eigenen Vorstellungen entspricht.
Die Bessergestellten verschanzen sich zunehmend hinter hohen Mauern und
Stacheldraht in Gated Communities, zu denen kein öffentlicher Zugang besteht.
Derselbe Mechanismus der Privatisierung, Einhegung
und Vertreibung trifft auf öffentliche Plätze und bislang unbebaute Flächen zu,
falls sich ein Investor findet, der sie bebaut und verwertet. Die
Vorstellungskraft kennt keine Grenzen. Mega-Projekte wie die Errichtung einer
vollkommen neuen Millionenstadt im Norden Istanbuls oder der Bau eines Kanals,
der parallel zum Bosporus eine zweite Wasserverbindung zwischen Schwarzem Meer
und dem Marmara-Becken schaffen soll, mit Luxuswohnungen und Yachthäfen,
gehören zu dieser Wachstumsvision. Daneben wird eine dritte Brücke über den
Bosporus gebaut, für die Millionen Bäume in einem ohnehin waldarmen Land
gefällt werden, und die die Frischluftzufuhr und die Wasserreservoire der
gesamten Stadt gefährdet. Die Regierung selbst bezeichnet ihre Projekte als
‚verrückt‘, im Sinne von ‚das unmöglich erscheinende möglich machen‘.
Tatsächlich ist das absehbare Wachstum der Bevölkerung Istanbuls von derzeit 14
auf dann 20 oder mehr Millionen EinwohnerInnen auch im herkömmlichen Sinne
verrückt, denn es bedeutet eine Konzentration von 1/4 der Gesamtbevölkerung der
Türkei auf einen Prozent der Gesamtfläche. Ein dritter Flughafen im Norden der
Stadt, der weltweit größte - darunter geht es nicht - soll folgen. Unabhängig
davon, ob diese ‚verrückten‘ Wachstumsvisionen sich umsetzen lassen, einen
gesetzlich vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsplan für diese Projekte gibt
es genauso wenig wie eine Antwort auf die Frage, wie diese Stadt eigentlich
versorgt werden soll. Tatsache ist, dass nicht nur in Istanbul unter
staatlicher Federführung ‚Stadterneuerungsprogramme‘ durchgeführt werden, die
den festen Willen bezeugen, den Bausektor um jeden Preis zu fördern.
Dass diese Nach-mir-die-Sintflut-Logik trotz der
vielfältigen Betroffenheiten und durchaus stattfindender lokaler Proteste dennoch
so viele AnhängerInnen findet - schließlich erhielt die AKP die Unterstützung von
einer Hälfte der WählerInnen und zugleich ist nicht erkennbar, dass die andere
Hälfte komplett gegen diese Logik stünde - liegt offenbar auch an einem
Konsumboom, der seit nahezu einer Dekade anhält und selbst denjenigen eine
gewisse Kompensation zu bieten scheint, die an anderer Stelle Einschnitte
hinnehmen müssen. Allerdings wird ein erheblicher Teil dieses Booms auf Pump
finanziert. In der vergangenen Dekade hat eine rasant beschleunigte
Verschuldung von Privathaushalten stattgefunden, deren Verschuldungsstand von
etwa 4,5 Mrd. $ im Jahr 2003 auf 140 Mrd. $ im Jahr 2012 angewachsen ist. Die
Verschuldung ist eine Bedingung des Wachstums und ermöglicht trotz unzureichender
Einkommen auch denjenigen Partizipation, die es sich eigentlich nicht leisten
können. Die Konsequenz ist eine langfristige Verschuldung und der immanente
Zwang, diese Art des Wachstums durch kapitalistische Landnahme fortzusetzen.
Der Bausektor ist zur zentralen ökonomischen Triebfeder geworden, an der direkt
oder indirekt Millionen Arbeitsplätze hängen. Kommt der Bauboom zu einem Ende
oder wird aus anderen Gründen eine ökonomische Krise ausgelöst, droht vielen
der Einkommensverlust und die Gefahr, von ihren historisch einzigartigen
Schuldenbergen erdrückt zu werden.
Gesellschaftsprojekt islamischer Konservatismus
Gesellschaftsprojekt islamischer Konservatismus
Mit der Besetzung des Gezi-Parks wurde dieser Raum dem kapitalistischen Verwertungsprozess zunächst entzogen und ein zentraler Nerv des ökonomischen Entwicklungsmodells getroffen. Die Besetzung war gleichzeitig das einzige zur Verfügung stehende Mittel, um das illegale Bauvorhaben zu verhindern. Die Polizeigewalt gegen die Parkbesetzung und der darin zum Ausdruck kommende Autoritarismus waren ein Grund für die Transformation der Besetzung zu einem Aufstand im ganzen Land. Ausschlaggebend für die landesweite Solidarisierung war jedoch, dass die AKP alle Schleier auf einmal fallen ließ und sich, anders als in den Jahren zuvor, nicht mal mehr den Anschein einer dialogbereiten Partei gab. Stattdessen ging sie in die Offensive und kündigte weitere Schritte zur Umsetzung ihres islamisch-konservativen Gesellschaftsprojekts an. Der islamische Konservatismus bildet das kulturelle Bindeglied zwischen der Erziehung zu einer berechenbaren Gesellschaft und der kapitalistischen Wachstumslogik.
Der angekündigte Nachbau einer osmanischen Kaserne,
deren Architektur die Shopping Mall übernehmen sollte, symbolisiert dieses
Projekt und zeigt exemplarisch auf, wie die AKP kapitalistisches Wachstum und
islamischen Konservatismus in der Umstrukturierung des Raums miteinander
verbindet. Die Aggressivität dieses Projekts und die in ihm enthaltenen
Eroberungsfantasien - mit freimütigem Bezug zu osmanischen Feldzügen - wurden
noch drastischer während der Grundsteinlegung der dritten Brücke über den
Bosporus offengelegt. Am Tag der Parkbesetzung verkündete der Staatspräsident
Gül in einer staatlichen Zeremonie, mit dem Ministerpräsidenten Erdoğan zur
Seite und dem obersten staatlich-sunnitischen Religionswächter im Rücken, dass
die neue Brücke den Namen des osmanischen Sultans Yavuz Sultan Selim tragen
werde. Der Sultan ist in das kollektive Gedächtnis der AlevitInnen eingegraben
als derjenige, der die größten Massaker an der alevitischen Bevölkerung
Anatoliens ausrichten ließ. Die Unverfrorenheit, mit der die AKP sich dieser
Figur bemächtigte, krönt ihr Islamisierungsprojekt. Es folgte die Ankündigung,
eine Moschee anstelle des seit Jahren stillgelegten Atatürk-Kulturzentrums am
Taksim-Platz zu bauen, womit der sich ohnehin ohnmächtig vorkommenden säkularen
Bevölkerung erneut deutlich gemacht wurde, dass die neue Türkei nicht die ihre
ist.
Der Verweis des Ministerpräsidenten auf den Koran
zur Begründung des Verbots von Alkoholkonsum im Freien erhob kurz zuvor die
Scharia zur legitimen Grundlage gesetzlicher Regelungen. Es handelte sich
hierbei nicht um einen Ausrutscher. Die AKP legte schon sehr früh offen, welche
Rolle Religion für ihre Politik spielt. Bereits 2004 initiierte sie ein Gesetz,
das Ehebruch unter Strafe stellen sollte mit Bezugnahme auf islamische
Rechtstraditionen. Dieser erste Vorstoß scheiterte nach heftigen Protesten, was
nicht bedeutete, dass die Formierung der Gesellschaft mittels religiöser
Inhalte als Entwicklungsziel aufgegeben wurde. Die laizistische Opposition in
der Türkei, die nationalistische Demonstrationen gepaart mit einer Atatürkmanie
organisierte, hat sehr dazu beigetragen, dass eine fundierte Kritik an dieser
schleichenden Islamisierung in hysterischer Manier überdeckt werden konnte.
Um einen Eindruck von der Zielstrebigkeit und dem
Ausmaß der Sunnitisierungspolitik zu erlangen, ist ein Blick auf die zentrale,
aber nicht einzige Institution für die Umsetzung dieser Politik hilfreich.
Gemeint ist die sunnitische Religionsbehörde, die mit 120.000 Angestellten alle
Moscheen des Landes personell besetzt und mit einem Budget ausgestattet ist,
das seit einer Dekade jedes Jahr überdurchschnittlich (ca. 20% pro Jahr) erhöht
wird. Unter der AKP wurde der Aufgabenbereich der Behörde kontinuierlich
erweitert. Die neue Institution des Familienpredigers soll religiöse
Dienstleistungen aus den Mauern der Moschee hinaus auf die Straße und in die
Häuser tragen. Neue Kooperationsabkommen mit dem Familien- und
Sozialministerium sowie dem Gesundheitsministerium verbinden die Pflege- und
Sorgearbeit ebenso wie staatliche Unterstützungsleistungen an Mütter mit
‚religiöser Seelsorge‘. Daneben laufen Pilotprojekte, die die Regulierung
sozialer Konflikte durch Religionswächter vorsehen. Als Teil eines integralen
Projekts kommt der Behörde die Aufgabe zu, keinen Lebensbereich von der
Religion unberührt zu lassen. Die Kanalisierung allgemeiner Steuermittel für
den Ausbau sunnitischer Institutionen - darunter Religionsschulen, an denen
seit den 1970er Jahren mehrere Millionen religiöse Intellektuelle ausgebildet
wurden, sowie Korankurse für Kinder - ist ein zentrales Mittel des
Islamisierungsprojekts, das die AKP zwar nicht initiiert, aber enorm ausgebaut
hat.
Die Verquickung des islamischen Konservatismus mit
kapitalistischem Wachstum und nationalem Aufschwung kommt schließlich auch in
der Bevölkerungspolitik zum Ausdruck. Die Türkei ist ein Niedriglohnland mit
einem großen informellen Arbeitssektor, der nahezu die Hälfte der Werktätigen
umfasst. Die Konkurrenz unter ihnen ist groß und das soll nach dem Willen der
Regierung so bleiben. Auch zu diesem Zweck propagiert und fördert die Regierung
eine sunnitisch-konservative Bevölkerungspolitik. Der Konservatismus tritt in
der Förderung der Kernfamilie als einzig legitime Form des Zusammenlebens
besonders deutlich hervor. Die Familie soll der Hort sein, in dem sunnitische
Werte weitergegeben und vor allen Dingen viele Kinder - mindestens drei -
gezeugt werden. Auf diese Weise soll ein stetiges Bevölkerungswachstum erreicht
werden, um den Nachschub an Arbeitskräften zu sichern. Frauen werden in dieser
Perspektive auf die Funktion des Kinderkriegens und -hütens reduziert,
außerhalb der heterosexuellen Norm stehende sexuelle Orientierungen werden
dagegen als krankhaft bezeichnet und kriminalisiert.
Jede organisierte Alternative zu dieser
bevölkerungspolitischen Herausforderung wird von der Regierung als Gefahr
wahrgenommen. Sozialistische und feministische Kritik ebenso wie die von
LGBT-Organisationen[1]
wird als Störfaktor gegenüber einer aufstrebenden Nation wahrgenommen, die noch
Großes vorhat. Denn auf der anderen Seite ist für den heterosexuellen Mann
vorgesehen, dass er für die Expansion der Türkei streitet. Die Regierung
formuliert das Ziel der Reproduktion einer kriegerischen Nation, die sunnitisch
ist und danach strebt, Patin für den gesamten Nahen und Mittleren Osten zu
werden. Die neue Nation wird in der Tradition osmanischer Feldzüge offen auf
Eroberung eingeschworen. Hinter diesen Expansionszielen stehen deutliche
Interessen von Unternehmen, die die südlichen Nachbarstaaten mit Waren und
Dienstleistungen beliefern und nach Wegen suchen, an der Ausbeutung der
regionalen Energiereserven teilzuhaben. Die ideologische Artikulation und
kulturelle Erziehung für diese Ziele sind der AKP anvertraut.
‚Shoppen, Beten, Kinderkriegen‘ – Widerstand an der Basis
‚Shoppen, Beten, Kinderkriegen‘ – Widerstand an der Basis
Die Entwicklungsziele der Regierung sind sehr ambitioniert. Sie rufen gleichzeitig eine Reihe von Konflikten und Widersprüchen hervor. Mit der Besetzung des Parks wurden die Fragen aufgeworfen, ob die kapitalistische Wachstumslogik um jeden Preis hingenommen werden soll und wo die Grenzen von ‚demokratischen‘ Mehrheiten liegen. Mit der landesweiten Solidarisierung wurde deutlich, dass der Versuch, die Bevölkerung in ein konservativ-islamisches Korsett einzuzwängen, noch massiveren Widerstand hervorruft. Warum soll eine alevitische Bevölkerung für eine sunnitisch artikulierte Expansionsstrategie, die möglicherweise in einen regionalen Krieg führen wird, mobilisierbar sein? Warum soll die große säkulare Bevölkerungsgruppe sich diesen Zielen anschließen? Weshalb sollen Frauen sich einer Viele-Kinder-Politik und einem Platz am Herd beugen?
Mit dem Aufstand sind die Widersprüche der
islamisch-konservativ artikulierten Wachstumslogik sichtbarer geworden.
‚Shoppen, Beten, Kinderkriegen‘, so lautete ein Slogan auf dem Taksim-Platz,
der die Leitlinien für die konforme Bevölkerung, die sich widerspruchslos in
die Wachstums- und Expansionspolitik einreiht, parodierte. Gegen diese
Zurichtung bot der Juni-Aufstand zum ersten Mal verschiedenen Gruppen –
SozialistInnen, AnarchistInnen, FeministInnen, KemalistInnen, LGBT-Gruppen,
alevitischen und kurdischen Organisationen sowie sehr vielen, die sich
politisch nicht eindeutig zuordnen lassen - eine gemeinsame Plattform, um ihre
spezifischen Anliegen einzubringen, während die staatlichen Institutionen ihnen
versperrt sind.
Der Aufstand vermittelte eine Vorstellung, wie eine
Opposition aussehen könnte, die verschiedene Belange miteinander verbindet, und
wie der kemalistische Nationalismus aus seiner Verhärtung gelöst werden könnte.
Vor dem Aufstand protestierten diverse Gruppen oftmals nur neben- oder gar
gegeneinander. Protestierte die kurdische Bewegung, so war die ansonsten
zwischen konservativen Islamisten, türkistischen Kemalisten und Faschisten
gespaltene politische Landschaft wieder vereint. Protestierte die alevitische
Bevölkerung gegen die staatliche sunnitische Assimilationspolitik, stand sie
zumeist alleine da. Feministinnen und LGBT-Organisationen standen oftmals einem
teilnahmslosen bis feindlichen patriarchalen Block gegenüber. Säkulare Gruppen,
die gegen die reale Bedrohung ihrer Lebensweise durch islamistische Tugendwacht
demonstrierten, isolierten sich selbst, da sie in einer chauvinistischen
Überheblichkeit gegenüber der restlichen Bevölkerung feststeckten. Von der
kapitalistischen Landnahme betroffene Gruppen kämpften hingegen zumeist
isoliert voneinander; diverse linke Gruppierungen und kritische Gewerkschaften
engagierten sich zwar unermüdlich, hinsichtlich ihrer Mobilisierungsfähigkeit
waren sie jedoch an einem historischen Tiefpunkt angelangt.
Die Bebauung des Gezi-Parks wurde zumindest
vorläufig verhindert. Dies ist ein Erfolg. Die Erfüllung weiterer Forderungen,
wie die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit auf öffentlichen Plätzen, ein
Ende der Polizeigewalt und der Repression sind dagegen nicht in Sicht. Daneben
fehlt weiterhin eine breit diskutierte Alternative zum kapitalistischen
Wachstumsmodell, die einen Ausweg aus der Spirale von Landnahme und
Verschuldung bieten könnte. Dies wäre jedoch dringend notwendig, um der
zügellosen Zerstörung ökologischer Grundlagen Einhalt zu gebieten und die
inneren Zwänge einer Politik zu überwinden, durch die soziale
Reproduktionszusammenhänge ländlicher wie städtischer Bevölkerungsgruppen
permanent umgewälzt werden.
Der größte bisherige Gewinn besteht darin, dass
oppositionelle Gruppen zusammenkamen, voneinander lernten und sich annäherten.
Dies macht die Brisanz des Aufstands aus und erklärt zugleich, warum die
Reaktion der Regierung so scharf ausfällt. Zumal die Präsenz organisierter
anti-kapitalistischer Muslime auf dem Taksim-Platz, die zahlenmäßig zwar eine
winzige Gruppe darstellen, dennoch eine hörbare islamische Kritik gegen
zügellose Bereicherung formulieren, die AKP sehr beunruhigt hat, gerade weil
gläubige Teile der Unterschichten weiterhin zu ihrer sozialen Basis zählen. Die
ungebrochene Anbindung der gläubigen Unterschichten an die AKP trotz einer
offensichtlichen sozialen Kluft zur Kernklientel der Partei, die von der gut
situierten religiösen Mittelklasse gebildet wird, liegt auch an der
kemalistischen Borniertheit, die Religiosität mit Rückständigkeit gleichsetzt.
Die von den KemalistInnen ausgeübte alltägliche Erniedrigung bindet die
gläubigen Unterschichten an die konservativen IslamistInnen, von denen sie zumindest
kulturelle Anerkennung erfahren.
Welche langfristigen Schlüsse die kemalistische
Bevölkerung aus dieser Erfahrung gemeinsamer Widerstandstage zieht, an denen
sie Seite an Seite mit der ansonsten als feindlich wahrgenommenen kurdischen
Bewegung und anti-kapitalistischen Muslimen kämpfte, wird sich noch zeigen
müssen. Sicher ist, dass der bornierte Laizismus den islamisch-konservativen
Block festigt, indem Feindbilder aufrechterhalten werden, während die Spaltung
der Opposition es der Regierung leicht macht, verschiedene Anliegen einzeln zu
bekämpfen oder gar gegeneinander auszuspielen. Der Aufstand hat gezeigt, wie
eine Gegenstrategie aussehen könnte: Indem eine Bewegung entsteht, die sich
öffentliche Räume auf kollektive Weise wieder aneignet und dabei gemeinsam
Lernprozesse durchmacht. Die erlebte Solidarität während der brutalen Polizeieinsätze,
die wenn auch nur für kurze Zeit ausprobierten Formen der Selbstermächtigung
und Selbstorganisierung sind möglich geworden, indem ein Park besetzt wurde, der
enteignet und privatisiert werden sollte. Wenn es solche Orte kollektiver
Praxis geben soll, durch die es möglich wird, die vielzähligen ideologischen
Spaltungslinien zu überwinden und neue Kompromisse im Zusammenleben zu
erproben, dann braucht es offenbar auch räumliche Grenzüberschreitungen, die
sowohl der Privatisierung des Öffentlichen als auch der sozialen Segregation
nach Kaufkraft entgegentreten.
Die polizeiliche Niederschlagung und die
anschließenden Verhaftungen konnten bislang nicht verhindern, dass solche
Überschreitungen und Zusammenkünfte weiterhin stattfinden. In regelmäßigen öffentlichen
Versammlungen in vielen Stadtparks, hauptsächlich, aber nicht nur in Istanbul,
wird derzeit rege debattiert, wie es gelingen kann, die Praxis des Widerstands
aufrechtzuerhalten und sie gleichzeitig gezielter und
bewusster einzusetzen. Die Parkforen sind Stätten, aus denen neue Initiativen
gegen lokale Gentrifizierungsprojekte und den Vormarsch des
Islamisierungsprojekts in Schulen und anderen Institutionen hervorgehen, die
einen Austausch über verhärtete Spaltungslinien hinaus ermöglichen und verschiedenen
Gruppen eine Plattform bieten, ihre Anliegen breiter zu thematisieren als dies
bisher möglich war. Noch ist unklar, ob diese Dynamik sich halten und weiter
entwickeln wird, ob aus den Foren möglicherweise Stadtteilräte erwachsen
können, die sich untereinander vernetzen, sich gar mit den Dörfern
solidarisieren. Dass die üblichen Formen professionalisierter Politik sich in
einer Sackgasse befinden und rechtsstaatliche Mittel de facto ausgehebelt sind,
macht das Entstehen einer Bewegung an der Basis nicht nur zur hoffnungsvollen
Alternative sondern zur Notwendigkeit.