Dienstag, 13. August 2013

‚Shoppen, Beten, Kinderkriegen' – Aufstand in der Türkei


Von Errol Babacan

‚Shoppen, Beten, Kinderkriegen‘, so lautete ein Slogan auf dem Taksim-Platz, der die Leitlinien für die konforme Bevölkerung, die sich widerspruchslos in die kapitalistische Wachstumspolitik einreiht, parodierte. Gegen diese Zurichtung zeigt der Juni-Aufstand Wege auf, wie eine gesellschaftliche Opposition organisiert und eine politische Alternative aufgebaut werden könnte.

Der landesweite Aufstand im Anschluss an die Besetzung des Gezi-Parks in Istanbul kam für viele überraschend. Das relativ stabile Wirtschaftswachstum, kontrastiert mit einer krisenbedingten Verarmung großer Bevölkerungsgruppen in südeuropäischen Ländern, passte nicht zu den weit verbreiteten Erwartungen, nach denen Wachstum mit allgemeiner Zufriedenheit verbunden sein müsste. Die brutale Polizeigewalt widersprach dem hoch gelobten ‚Demokratiemodell Türkei‘, das den aufständischen arabischen Bevölkerungen als Vorbild präsentiert wurde. Insgesamt passte dieser Aufstand nicht in das etablierte Image der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), die sich auf einem Demokratisierungspfad befinde, indem sie das Militär in seine Schranken verwies und ‚Friedensverhandlungen‘ mit der kurdischen Bewegung aufnahm.

Mit der Parkbesetzung wurde eine Dynamik ausgelöst, die auch in der Türkei für Überraschung sorgte, allerdings aus gänzlich anderen Gründen als hierzulande. Was hier als Bruch wahrgenommen wurde, durch den sich das demokratische Vorbild zu einem vollkommen enthemmten Polizeistaat angeführt von einem autoritären Aufwiegler verwandelte, charakterisierte schon seit langem die sozialen Auseinandersetzungen in der Türkei. Wo immer sich Protest und Widerstand gegen ökologische Zerstörung, Vertreibung aus Stadtvierteln und Dörfern für Gentrifizierungs- und Energieprojekte, Enteignung und Entrechtung in all ihren Facetten, extreme bis tödliche Arbeitsbedingungen, Islamisierung und Autoritarismus entwickelte, die Reaktion der staatlichen Organe fiel stets gleich aus: Aufstandsbekämpfung.

Diese repressive Strategie funktionierte, ohne besonderes Aufsehen im Ausland zu erregen, solange die Proteste fragmentiert blieben, sie voneinander isoliert keine landesweite Dynamik und Kontinuität entwickelten. Dass nun mit der Besetzung des Parks beinahe alle oppositionellen Gruppen gleichzeitig auf die Straße gingen, die Eigendynamik der Straße für eine Annäherung sonst voneinander isolierter oder gar verfeindeter Gruppen sorgte, macht die Besonderheit eines Aufstands aus, mit dem niemand gerechnet hatte.
Der Juni-Aufstand vereinte die Proteste gegen eine Partei,
  • die parlamentarisch-demokratische Entscheidungswege monopolisiert, die Gewaltenteilung de facto aufgehoben und polizeilich-richterliche Willkür systematisiert hat,
  • die eine historisch beispiellose Plünderung öffentlichen Eigentums und die Privatisierung gemeinschaftlicher Lebensgrundlagen vorantreibt,
  • und die der Bevölkerung ein islamisch-konservatives Korsett verpassen möchte.
Der Aufstand zeigt nun Wege auf, wie eine gesellschaftliche Opposition organisiert und wie eine politische Alternative zu diesen Entwicklungen aufgebaut werden könnte.

Autoritarismus trotz formaler Demokratie

So überraschend der Zeitpunkt des Aufstands war, so bedrückt war auch zuvor schon die Stimmung im Land. Denn entgegen der sich hartnäckig haltenden Meinung, die AKP habe die staatlichen Institutionen demokratisiert, passierte systematisch das Gegenteil. Nach bald elf Jahren Alleinregierung hat die AKP alle vormals von ihr kritisierten autoritären und zentralistischen Institutionen übernommen, die mit dem Militärputsch von 1980 eingeführt oder ausgebaut wurden. Die Partei kann zudem nach Belieben mit Gesetzen und Praktiken regieren, die für den Ausnahmezustand kennzeichnend sind, ohne die Gewaltenteilung formal aufzuheben.

Das Vorgehen der Behörden bei der versuchten Beseitigung des Parks ist symptomatisch für diese Entwicklung. Als Ende Mai die Bagger anrückten, gab es keinen genehmigten Bauplan. Die Behörden handelten illegal, was bei Bauprojekten, ob Wohnsiedlungen, Brücken, Straßen oder Staudämme eher die Regel als die Ausnahme ist. In der Vergangenheit konnten, häufig nach Protesten der betroffenen Bevölkerung, illegale Vorgehensweisen gerichtlich unterbunden, begonnene Projekte gestoppt werden. Inzwischen hat die AKP die politische Kontrolle über die Justiz hergestellt. Richterliche Baustopps stellen kaum noch ein Problem dar, sie werden ignoriert oder von einem höheren Gericht wieder aufgehoben. Eine Garantie, dass legale Planungswege und Gerichtsurteile eingehalten werden, gibt es nicht.

Dieser Zustand ist auch Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung, bei der die Staatsmacht in den Händen der regierenden Partei konzentriert wird, während den Oppositionsparteien systematisch der Zugang zu den staatlichen Institutionen und somit Einfluss auf die staatlichen Entscheidungsprozesse versagt wird. Den Höhepunkt dieses antidemokratischen Geschehens stellte ein Ermächtigungsgesetz im Jahr 2011 dar, mit dem die Regierung über sechs Monate unter Umgehung parlamentarischer Verfahren Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen konnte, die nur noch der Staatspräsident unterzeichnen musste, was jeweils umgehend geschah. Die Möglichkeit dieses Vorgehens war nach einer militärischen Intervention in die Verfassung eingeführt worden und die AKP machte von diesem Mittel ungeachtet ihrer schillernden Kritik am Militärputsch ungeniert Gebrauch. Das Gesetz diente der Reorganisation des öffentlichen Dienstes. Dahinter verbarg sich ein doppelter Zweck: Die beschleunigte Herstellung der Kontrolle über den öffentlichen Dienst durch die Besetzung mit loyalem Personal sowie eine Kompetenzverlagerung von kommunalen zu nationalen Behörden, also eine Zentralisierung politischer Entscheidungswege. Nachdem das Verfassungsreferendum von 2010 der Regierung die Kontrolle über die höchsten Justizorgane, wie das Verfassungs- und das Kassationsgericht, ermöglicht hatte, von dieser Seite der Regierung also keine Steine mehr in den Weg gelegt werden konnten, ging es darum, letzte Oppositionszentren in den nachrangigeren staatlichen Institutionen zu beseitigen.

Das Reorganisationsmuster des öffentlichen Dienstes steht in einer Linie mit der Verfassung von 1982, durch die demokratische Elemente der Selbstverwaltung in öffentlichen Einrichtungen stark beschnitten wurden. Der damals eingerichtete Hochschulrat etwa kontrolliert die Hochschulen und überwacht das wissenschaftliche Personal und die Lehrpläne. Der Rat (YÖK) selbst wird de facto durch den Staatspräsidenten Abdullah Gül dominiert, der auch die letzte Entscheidung bei der Ernennung von Hochschulrektoren trifft. Gül hat dafür gesorgt, dass an den Universitäten und den zentralen nationalen Forschungseinrichtungen regierungsnahes konservativ-islamisches Personal das Ruder übernommen hat. Seitdem hat eine Art sunnitischer Kreationismus Einzug in die wissenschaftlichen Leitlinien der Türkei genommen.

Die Systematik, mit der die Konzentration politischer Macht in den Händen der AKP durchgesetzt wurde, schlägt sich umgekehrt in der Ohnmacht der parlamentarischen Opposition nieder. Symptomatisch für diesen Zustand war der Boykott des Parlaments nach den Wahlen 2011. Sowohl die größte Oppositionspartei CHP als auch die kleinere kurdisch/sozialistische Oppositionspartei BDP boykottierten das Parlament, da gewählte Abgeordnete aus ihren Reihen nicht aus der (fragwürdigen) Untersuchungshaft entlassen wurden, obwohl dies bis dahin üblich war. Beide Parteien gaben nach anfänglich lautem Getöse den Boykott wieder auf, ohne die geringste Wirkung erzielt zu haben. Tragikomisch an dieser Situation war, dass der Boykott exakt in dem Zeitraum stattfand, in dem das Parlament sich in der Sommerpause befand.

Zahllose weitere Beispiele könnten angeführt werden, um die Ohnmacht der parlamentarischen Opposition zu demonstrieren, die permanent mit der Androhung konfrontiert ist, kriminalisiert zu werden. Mit dem Lob für die Demokratisierung im Rücken hat die AKP sich sehr früh für eine repressive Gangart entschieden. 2004 richtete sie mit Sondervollmachten ausgestattete Gerichte ein und 2006 verschärfte sie die Terrorbekämpfungsgesetze. Seitdem reicht schon die Teilnahme an einer Demonstration, auf der ‚illegale‘ Symbole gezeigt wurden aus, um wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt zu werden. In keinem anderen Land sind so viele GewerkschafterInnen, AnwältInnen, JournalistInnen, AkademikerInnen, Studierende, BürgermeisterInnen, Abgeordnete und Mitglieder der politischen Opposition auf der Grundlage von Terrorbekämpfungsgesetzen angeklagt oder inhaftiert worden (2005: 3.400 Personen; 2007: 7.700; 2010: 11.900).

Bezeichnend für den erreichten Stand der Konzentration politischer Macht ist die Aussage des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç, der mit dem Verfassungsreferendum im Jahr 2010 und der nachfolgenden Besetzung der höchsten Richterposten mit parteinahen Gewährsmännern hocherfreut einen Dankesgruß an Gott sendete: ‚Gott sei Dank‘ könne Opposition jetzt nur noch von der Straße kommen, die man als nächstes in den Griff bekommen werde. Während des Juni-Aufstands wurde diese Aussage durch die Hilflosigkeit der Opposition, die trotz der offensichtlichen Wirkungslosigkeit ihrer Anwesenheit im Parlament keine konsequente Kritik an diesem System formuliert, erneut bestätigt. Als die Regierung den Vorschlag unterbreitete, eine Volksbefragung über das Schicksal des Gezi-Parks abzuhalten, waren viele Oppositionelle spontan für ein Kräftemessen an der Wahlurne bereit, obwohl das Wahlergebnis keinerlei Verbindlichkeit gehabt hätte, während die Regierung sich generell nicht an Gesetze und Gerichtsurteile gebunden fühlt. Von einer Waffengleichheit im demokratischen Wettbewerb kann ohnehin keine Rede sein. Tausende Oppositionelle befinden sich in Haft, alle anderen sind permanent davon bedroht, eines Morgens verhaftet zu werden. Die Massenmedien gehorchen der Regierung, während alternative oder oppositionelle Medien zensiert und kritische JournalistInnen auf Geheiß der Regierung entlassen werden. Mit der Volksbefragung wäre dieser antidemokratische Zustand, der dazu führte, dass ‚die Straße‘ die Verteidigung des Parks gegen dessen illegale Beseitigung selbst in die Hand nehmen musste, mit scheinbar demokratischen Mitteln wiederhergestellt und die Bewegung passiviert worden. Wider besseres Wissen fiel den Oppositionsparteien nichts Besseres ein, als hierfür ihre Zustimmung zu geben.

Kapitalistische Landnahme und demokratische Mehrheiten

Der Vorschlag einer Volksbefragung hätte zudem dafür benutzt werden können, eine durch die Besetzung aufgeworfene grundlegende Frage aufzugreifen, nämlich inwieweit die materiellen Lebensgrundlagen eines Teils der Bevölkerung einer Mehrheitsmeinung geopfert werden dürfen. Die ParkbesetzerInnen verteidigten eine der wenigen öffentlichen Grünflächen im Stadtzentrum, die vielen zum Verschnaufen dient und deren Bäume Schatten in der heißen Jahreszeit bieten. Der Park ist einer der seltenen Orte, an dem verweilt werden kann, ohne konsumieren zu müssen. Heißt Demokratie, dass solche Orte abgeschafft werden, wenn eine Mehrheit dies beschließt?

Im Zusammenhang mit der Parkbesetzung von der Erhaltung materieller Lebensgrundlagen zu sprechen, erscheint auf den ersten Blick als eine Übertreibung. Allerdings steht der Bau einer Shopping Mall mit Hotels und Luxuswohnungen anstelle des Parks im Zusammenhang mit einem Wachstumsmodell, von dem das ganze Land bedroht wird. Wenn das stabile Wachstum betont wird, das im Fall der Türkei viele Leute so erstaunt, gerät dieser Zusammenhang häufig aus dem Blick. Denn zu diesem Wachstum tragen maßgeblich solche Mechanismen bei, in die sich auch die geplante Bebauung des Parks mit einem Konsumtempel einfügt: Die Enteignung von Gemeinbesitz, öffentlichen Gütern und natürlichen Ressourcen sowie eine kreditbasierte Expansion der konsumorientierten kapitalistischen Lebensweise.

In der letzten Dekade wurden kontinuierlich gesetzliche Schranken abgebaut, die der Privatisierung öffentlicher Güter sowie der Verwandlung von Gemeinbesitz in (ver-)käufliche Waren im Wege standen. Davon betroffen sind insbesondere Wasservorkommen, Waldbestände sowie von der ländlichen Bevölkerung gemeinschaftlich genutzte Flächen. Kleinteilige Land- und Viehwirtschaft ist mangels (inter-)nationaler Konkurrenzfähigkeit schon länger kaum noch eine ausreichende Existenzgrundlage. Die Privatisierung von Wald, Wasser und Weideflächen verschärft diesen Zustand und räumt zugleich letzte Grundlagen ergänzender Subsistenzwirtschaft aus der Welt. Die Privatisierung beschleunigt die Landflucht und entzieht gleichzeitig der sozial unabgesicherten städtischen Bevölkerung notwendige dörfliche Rückzugsräume im Falle ökonomischer Krisen und bedroht die Versorgung mit Lebensmitteln durch Familienangehörige in den Dörfern.

In den Städten entsprechen dieser Politik sogenannte Stadterneuerungsprojekte, die den Raum nach Kaufkraft neu ordnen. Wenig kaufkräftige Bevölkerungsgruppen werden enteignet und aus den Stadtzentren in Wohnsilos an den Stadträndern umgesiedelt, um kaufkräftigen Gruppen Platz zu machen. Dabei werden über viele Jahre gewachsene Nachbarschafts- und informelle Versorgungs- bzw. Geschäftsbeziehungen auseinander gerissen, Wege zur Arbeitsstätte um ein Vielfaches verlängert und niemand wird gefragt, ob die neue Wohnform in uferlosen Betonblöcken den eigenen Vorstellungen entspricht. Die Bessergestellten verschanzen sich zunehmend hinter hohen Mauern und Stacheldraht in Gated Communities, zu denen kein öffentlicher Zugang besteht.

Derselbe Mechanismus der Privatisierung, Einhegung und Vertreibung trifft auf öffentliche Plätze und bislang unbebaute Flächen zu, falls sich ein Investor findet, der sie bebaut und verwertet. Die Vorstellungskraft kennt keine Grenzen. Mega-Projekte wie die Errichtung einer vollkommen neuen Millionenstadt im Norden Istanbuls oder der Bau eines Kanals, der parallel zum Bosporus eine zweite Wasserverbindung zwischen Schwarzem Meer und dem Marmara-Becken schaffen soll, mit Luxuswohnungen und Yachthäfen, gehören zu dieser Wachstumsvision. Daneben wird eine dritte Brücke über den Bosporus gebaut, für die Millionen Bäume in einem ohnehin waldarmen Land gefällt werden, und die die Frischluftzufuhr und die Wasserreservoire der gesamten Stadt gefährdet. Die Regierung selbst bezeichnet ihre Projekte als ‚verrückt‘, im Sinne von ‚das unmöglich erscheinende möglich machen‘. Tatsächlich ist das absehbare Wachstum der Bevölkerung Istanbuls von derzeit 14 auf dann 20 oder mehr Millionen EinwohnerInnen auch im herkömmlichen Sinne verrückt, denn es bedeutet eine Konzentration von 1/4 der Gesamtbevölkerung der Türkei auf einen Prozent der Gesamtfläche. Ein dritter Flughafen im Norden der Stadt, der weltweit größte - darunter geht es nicht - soll folgen. Unabhängig davon, ob diese ‚verrückten‘ Wachstumsvisionen sich umsetzen lassen, einen gesetzlich vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsplan für diese Projekte gibt es genauso wenig wie eine Antwort auf die Frage, wie diese Stadt eigentlich versorgt werden soll. Tatsache ist, dass nicht nur in Istanbul unter staatlicher Federführung ‚Stadterneuerungsprogramme‘ durchgeführt werden, die den festen Willen bezeugen, den Bausektor um jeden Preis zu fördern.

Dass diese Nach-mir-die-Sintflut-Logik trotz der vielfältigen Betroffenheiten und durchaus stattfindender lokaler Proteste dennoch so viele AnhängerInnen findet - schließlich erhielt die AKP die Unterstützung von einer Hälfte der WählerInnen und zugleich ist nicht erkennbar, dass die andere Hälfte komplett gegen diese Logik stünde - liegt offenbar auch an einem Konsumboom, der seit nahezu einer Dekade anhält und selbst denjenigen eine gewisse Kompensation zu bieten scheint, die an anderer Stelle Einschnitte hinnehmen müssen. Allerdings wird ein erheblicher Teil dieses Booms auf Pump finanziert. In der vergangenen Dekade hat eine rasant beschleunigte Verschuldung von Privathaushalten stattgefunden, deren Verschuldungsstand von etwa 4,5 Mrd. $ im Jahr 2003 auf 140 Mrd. $ im Jahr 2012 angewachsen ist. Die Verschuldung ist eine Bedingung des Wachstums und ermöglicht trotz unzureichender Einkommen auch denjenigen Partizipation, die es sich eigentlich nicht leisten können. Die Konsequenz ist eine langfristige Verschuldung und der immanente Zwang, diese Art des Wachstums durch kapitalistische Landnahme fortzusetzen. Der Bausektor ist zur zentralen ökonomischen Triebfeder geworden, an der direkt oder indirekt Millionen Arbeitsplätze hängen. Kommt der Bauboom zu einem Ende oder wird aus anderen Gründen eine ökonomische Krise ausgelöst, droht vielen der Einkommensverlust und die Gefahr, von ihren historisch einzigartigen Schuldenbergen erdrückt zu werden.

Gesellschaftsprojekt islamischer Konservatismus

Mit der Besetzung des Gezi-Parks wurde dieser Raum dem kapitalistischen Verwertungsprozess zunächst entzogen und ein zentraler Nerv des ökonomischen Entwicklungsmodells getroffen. Die Besetzung war gleichzeitig das einzige zur Verfügung stehende Mittel, um das illegale Bauvorhaben zu verhindern. Die Polizeigewalt gegen die Parkbesetzung und der darin zum Ausdruck kommende Autoritarismus waren ein Grund für die Transformation der Besetzung zu einem Aufstand im ganzen Land. Ausschlaggebend für die landesweite Solidarisierung war jedoch, dass die AKP alle Schleier auf einmal fallen ließ und sich, anders als in den Jahren zuvor, nicht mal mehr den Anschein einer dialogbereiten Partei gab. Stattdessen ging sie in die Offensive und kündigte weitere Schritte zur Umsetzung ihres islamisch-konservativen Gesellschaftsprojekts an. Der islamische Konservatismus bildet das kulturelle Bindeglied zwischen der Erziehung zu einer berechenbaren Gesellschaft und der kapitalistischen Wachstumslogik.

Der angekündigte Nachbau einer osmanischen Kaserne, deren Architektur die Shopping Mall übernehmen sollte, symbolisiert dieses Projekt und zeigt exemplarisch auf, wie die AKP kapitalistisches Wachstum und islamischen Konservatismus in der Umstrukturierung des Raums miteinander verbindet. Die Aggressivität dieses Projekts und die in ihm enthaltenen Eroberungsfantasien - mit freimütigem Bezug zu osmanischen Feldzügen - wurden noch drastischer während der Grundsteinlegung der dritten Brücke über den Bosporus offengelegt. Am Tag der Parkbesetzung verkündete der Staatspräsident Gül in einer staatlichen Zeremonie, mit dem Ministerpräsidenten Erdoğan zur Seite und dem obersten staatlich-sunnitischen Religionswächter im Rücken, dass die neue Brücke den Namen des osmanischen Sultans Yavuz Sultan Selim tragen werde. Der Sultan ist in das kollektive Gedächtnis der AlevitInnen eingegraben als derjenige, der die größten Massaker an der alevitischen Bevölkerung Anatoliens ausrichten ließ. Die Unverfrorenheit, mit der die AKP sich dieser Figur bemächtigte, krönt ihr Islamisierungsprojekt. Es folgte die Ankündigung, eine Moschee anstelle des seit Jahren stillgelegten Atatürk-Kulturzentrums am Taksim-Platz zu bauen, womit der sich ohnehin ohnmächtig vorkommenden säkularen Bevölkerung erneut deutlich gemacht wurde, dass die neue Türkei nicht die ihre ist.

Der Verweis des Ministerpräsidenten auf den Koran zur Begründung des Verbots von Alkoholkonsum im Freien erhob kurz zuvor die Scharia zur legitimen Grundlage gesetzlicher Regelungen. Es handelte sich hierbei nicht um einen Ausrutscher. Die AKP legte schon sehr früh offen, welche Rolle Religion für ihre Politik spielt. Bereits 2004 initiierte sie ein Gesetz, das Ehebruch unter Strafe stellen sollte mit Bezugnahme auf islamische Rechtstraditionen. Dieser erste Vorstoß scheiterte nach heftigen Protesten, was nicht bedeutete, dass die Formierung der Gesellschaft mittels religiöser Inhalte als Entwicklungsziel aufgegeben wurde. Die laizistische Opposition in der Türkei, die nationalistische Demonstrationen gepaart mit einer Atatürkmanie organisierte, hat sehr dazu beigetragen, dass eine fundierte Kritik an dieser schleichenden Islamisierung in hysterischer Manier überdeckt werden konnte.

Um einen Eindruck von der Zielstrebigkeit und dem Ausmaß der Sunnitisierungspolitik zu erlangen, ist ein Blick auf die zentrale, aber nicht einzige Institution für die Umsetzung dieser Politik hilfreich. Gemeint ist die sunnitische Religionsbehörde, die mit 120.000 Angestellten alle Moscheen des Landes personell besetzt und mit einem Budget ausgestattet ist, das seit einer Dekade jedes Jahr überdurchschnittlich (ca. 20% pro Jahr) erhöht wird. Unter der AKP wurde der Aufgabenbereich der Behörde kontinuierlich erweitert. Die neue Institution des Familienpredigers soll religiöse Dienstleistungen aus den Mauern der Moschee hinaus auf die Straße und in die Häuser tragen. Neue Kooperationsabkommen mit dem Familien- und Sozialministerium sowie dem Gesundheitsministerium verbinden die Pflege- und Sorgearbeit ebenso wie staatliche Unterstützungsleistungen an Mütter mit ‚religiöser Seelsorge‘. Daneben laufen Pilotprojekte, die die Regulierung sozialer Konflikte durch Religionswächter vorsehen. Als Teil eines integralen Projekts kommt der Behörde die Aufgabe zu, keinen Lebensbereich von der Religion unberührt zu lassen. Die Kanalisierung allgemeiner Steuermittel für den Ausbau sunnitischer Institutionen - darunter Religionsschulen, an denen seit den 1970er Jahren mehrere Millionen religiöse Intellektuelle ausgebildet wurden, sowie Korankurse für Kinder - ist ein zentrales Mittel des Islamisierungsprojekts, das die AKP zwar nicht initiiert, aber enorm ausgebaut hat.

Die Verquickung des islamischen Konservatismus mit kapitalistischem Wachstum und nationalem Aufschwung kommt schließlich auch in der Bevölkerungspolitik zum Ausdruck. Die Türkei ist ein Niedriglohnland mit einem großen informellen Arbeitssektor, der nahezu die Hälfte der Werktätigen umfasst. Die Konkurrenz unter ihnen ist groß und das soll nach dem Willen der Regierung so bleiben. Auch zu diesem Zweck propagiert und fördert die Regierung eine sunnitisch-konservative Bevölkerungspolitik. Der Konservatismus tritt in der Förderung der Kernfamilie als einzig legitime Form des Zusammenlebens besonders deutlich hervor. Die Familie soll der Hort sein, in dem sunnitische Werte weitergegeben und vor allen Dingen viele Kinder - mindestens drei - gezeugt werden. Auf diese Weise soll ein stetiges Bevölkerungswachstum erreicht werden, um den Nachschub an Arbeitskräften zu sichern. Frauen werden in dieser Perspektive auf die Funktion des Kinderkriegens und -hütens reduziert, außerhalb der heterosexuellen Norm stehende sexuelle Orientierungen werden dagegen als krankhaft bezeichnet und kriminalisiert.

Jede organisierte Alternative zu dieser bevölkerungspolitischen Herausforderung wird von der Regierung als Gefahr wahrgenommen. Sozialistische und feministische Kritik ebenso wie die von LGBT-Organisationen[1] wird als Störfaktor gegenüber einer aufstrebenden Nation wahrgenommen, die noch Großes vorhat. Denn auf der anderen Seite ist für den heterosexuellen Mann vorgesehen, dass er für die Expansion der Türkei streitet. Die Regierung formuliert das Ziel der Reproduktion einer kriegerischen Nation, die sunnitisch ist und danach strebt, Patin für den gesamten Nahen und Mittleren Osten zu werden. Die neue Nation wird in der Tradition osmanischer Feldzüge offen auf Eroberung eingeschworen. Hinter diesen Expansionszielen stehen deutliche Interessen von Unternehmen, die die südlichen Nachbarstaaten mit Waren und Dienstleistungen beliefern und nach Wegen suchen, an der Ausbeutung der regionalen Energiereserven teilzuhaben. Die ideologische Artikulation und kulturelle Erziehung für diese Ziele sind der AKP anvertraut.

‚Shoppen, Beten, Kinderkriegen‘ – Widerstand an der Basis

Die Entwicklungsziele der Regierung sind sehr ambitioniert. Sie rufen gleichzeitig eine Reihe von Konflikten und Widersprüchen hervor. Mit der Besetzung des Parks wurden die Fragen aufgeworfen, ob die kapitalistische Wachstumslogik um jeden Preis hingenommen werden soll und wo die Grenzen von ‚demokratischen‘ Mehrheiten liegen. Mit der landesweiten Solidarisierung wurde deutlich, dass der Versuch, die Bevölkerung in ein konservativ-islamisches Korsett einzuzwängen, noch massiveren Widerstand hervorruft. Warum soll eine alevitische Bevölkerung für eine sunnitisch artikulierte Expansionsstrategie, die möglicherweise in einen regionalen Krieg führen wird, mobilisierbar sein? Warum soll die große säkulare Bevölkerungsgruppe sich diesen Zielen anschließen? Weshalb sollen Frauen sich einer Viele-Kinder-Politik und einem Platz am Herd beugen?

Mit dem Aufstand sind die Widersprüche der islamisch-konservativ artikulierten Wachstumslogik sichtbarer geworden. ‚Shoppen, Beten, Kinderkriegen‘, so lautete ein Slogan auf dem Taksim-Platz, der die Leitlinien für die konforme Bevölkerung, die sich widerspruchslos in die Wachstums- und Expansionspolitik einreiht, parodierte. Gegen diese Zurichtung bot der Juni-Aufstand zum ersten Mal verschiedenen Gruppen – SozialistInnen, AnarchistInnen, FeministInnen, KemalistInnen, LGBT-Gruppen, alevitischen und kurdischen Organisationen sowie sehr vielen, die sich politisch nicht eindeutig zuordnen lassen - eine gemeinsame Plattform, um ihre spezifischen Anliegen einzubringen, während die staatlichen Institutionen ihnen versperrt sind.

Der Aufstand vermittelte eine Vorstellung, wie eine Opposition aussehen könnte, die verschiedene Belange miteinander verbindet, und wie der kemalistische Nationalismus aus seiner Verhärtung gelöst werden könnte. Vor dem Aufstand protestierten diverse Gruppen oftmals nur neben- oder gar gegeneinander. Protestierte die kurdische Bewegung, so war die ansonsten zwischen konservativen Islamisten, türkistischen Kemalisten und Faschisten gespaltene politische Landschaft wieder vereint. Protestierte die alevitische Bevölkerung gegen die staatliche sunnitische Assimilationspolitik, stand sie zumeist alleine da. Feministinnen und LGBT-Organisationen standen oftmals einem teilnahmslosen bis feindlichen patriarchalen Block gegenüber. Säkulare Gruppen, die gegen die reale Bedrohung ihrer Lebensweise durch islamistische Tugendwacht demonstrierten, isolierten sich selbst, da sie in einer chauvinistischen Überheblichkeit gegenüber der restlichen Bevölkerung feststeckten. Von der kapitalistischen Landnahme betroffene Gruppen kämpften hingegen zumeist isoliert voneinander; diverse linke Gruppierungen und kritische Gewerkschaften engagierten sich zwar unermüdlich, hinsichtlich ihrer Mobilisierungsfähigkeit waren sie jedoch an einem historischen Tiefpunkt angelangt.

Die Bebauung des Gezi-Parks wurde zumindest vorläufig verhindert. Dies ist ein Erfolg. Die Erfüllung weiterer Forderungen, wie die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit auf öffentlichen Plätzen, ein Ende der Polizeigewalt und der Repression sind dagegen nicht in Sicht. Daneben fehlt weiterhin eine breit diskutierte Alternative zum kapitalistischen Wachstumsmodell, die einen Ausweg aus der Spirale von Landnahme und Verschuldung bieten könnte. Dies wäre jedoch dringend notwendig, um der zügellosen Zerstörung ökologischer Grundlagen Einhalt zu gebieten und die inneren Zwänge einer Politik zu überwinden, durch die soziale Reproduktionszusammenhänge ländlicher wie städtischer Bevölkerungsgruppen permanent umgewälzt werden.

Der größte bisherige Gewinn besteht darin, dass oppositionelle Gruppen zusammenkamen, voneinander lernten und sich annäherten. Dies macht die Brisanz des Aufstands aus und erklärt zugleich, warum die Reaktion der Regierung so scharf ausfällt. Zumal die Präsenz organisierter anti-kapitalistischer Muslime auf dem Taksim-Platz, die zahlenmäßig zwar eine winzige Gruppe darstellen, dennoch eine hörbare islamische Kritik gegen zügellose Bereicherung formulieren, die AKP sehr beunruhigt hat, gerade weil gläubige Teile der Unterschichten weiterhin zu ihrer sozialen Basis zählen. Die ungebrochene Anbindung der gläubigen Unterschichten an die AKP trotz einer offensichtlichen sozialen Kluft zur Kernklientel der Partei, die von der gut situierten religiösen Mittelklasse gebildet wird, liegt auch an der kemalistischen Borniertheit, die Religiosität mit Rückständigkeit gleichsetzt. Die von den KemalistInnen ausgeübte alltägliche Erniedrigung bindet die gläubigen Unterschichten an die konservativen IslamistInnen, von denen sie zumindest kulturelle Anerkennung erfahren.

Welche langfristigen Schlüsse die kemalistische Bevölkerung aus dieser Erfahrung gemeinsamer Widerstandstage zieht, an denen sie Seite an Seite mit der ansonsten als feindlich wahrgenommenen kurdischen Bewegung und anti-kapitalistischen Muslimen kämpfte, wird sich noch zeigen müssen. Sicher ist, dass der bornierte Laizismus den islamisch-konservativen Block festigt, indem Feindbilder aufrechterhalten werden, während die Spaltung der Opposition es der Regierung leicht macht, verschiedene Anliegen einzeln zu bekämpfen oder gar gegeneinander auszuspielen. Der Aufstand hat gezeigt, wie eine Gegenstrategie aussehen könnte: Indem eine Bewegung entsteht, die sich öffentliche Räume auf kollektive Weise wieder aneignet und dabei gemeinsam Lernprozesse durchmacht. Die erlebte Solidarität während der brutalen Polizeieinsätze, die wenn auch nur für kurze Zeit ausprobierten Formen der Selbstermächtigung und Selbstorganisierung sind möglich geworden, indem ein Park besetzt wurde, der enteignet und privatisiert werden sollte. Wenn es solche Orte kollektiver Praxis geben soll, durch die es möglich wird, die vielzähligen ideologischen Spaltungslinien zu überwinden und neue Kompromisse im Zusammenleben zu erproben, dann braucht es offenbar auch räumliche Grenzüberschreitungen, die sowohl der Privatisierung des Öffentlichen als auch der sozialen Segregation nach Kaufkraft entgegentreten.

Die polizeiliche Niederschlagung und die anschließenden Verhaftungen konnten bislang nicht verhindern, dass solche Überschreitungen und Zusammenkünfte weiterhin stattfinden. In regelmäßigen öffentlichen Versammlungen in vielen Stadtparks, hauptsächlich, aber nicht nur in Istanbul, wird derzeit rege debattiert, wie es gelingen kann, die Praxis des Widerstands aufrechtzuerhalten und sie gleichzeitig gezielter und bewusster einzusetzen. Die Parkforen sind Stätten, aus denen neue Initiativen gegen lokale Gentrifizierungsprojekte und den Vormarsch des Islamisierungsprojekts in Schulen und anderen Institutionen hervorgehen, die einen Austausch über verhärtete Spaltungslinien hinaus ermöglichen und verschiedenen Gruppen eine Plattform bieten, ihre Anliegen breiter zu thematisieren als dies bisher möglich war. Noch ist unklar, ob diese Dynamik sich halten und weiter entwickeln wird, ob aus den Foren möglicherweise Stadtteilräte erwachsen können, die sich untereinander vernetzen, sich gar mit den Dörfern solidarisieren. Dass die üblichen Formen professionalisierter Politik sich in einer Sackgasse befinden und rechtsstaatliche Mittel de facto ausgehebelt sind, macht das Entstehen einer Bewegung an der Basis nicht nur zur hoffnungsvollen Alternative sondern zur Notwendigkeit.


[1] LGBT steht für »Lesbian, Gay, Bi, Trans«.

Der Artikel erschien zuerst bei: www.links-netz.de