Die aus der Besetzung
des Gezi Parks erwachsenden neuen Formen kollektiver Praxis stellen eine
Herausforderung für den Anspruch der AKP dar, einzige politische Kraft zu sein,
die Dinge erbauen und Dienstleistungen erbringen kann. Noch während der
ereignisreichen Tage der Besetzung geschrieben, befragt der Artikel den Protest
nach seinem Potential, der städtischen Enteignungs- und Vertreibungspolitik Alternativen
entgegenzusetzen, die quer zu den bisherigen politischen Trennlinien der
Betroffenen verlaufen.
In einer Rede am 1. Juni, in der er der türkeiweit angestoßenen Protestwelle antwortete, erklärte Premier Recep Tayyip Erdoğan: „Das Thema sind nicht die fünf bis zehn zu fällenden Bäume.” Es ging ihm darum, die Protestierenden zu diskreditieren, indem er sie als „ideologisch“ diffamierte und nahelegte, sie seien bloß Kader der Opposition oder opportunistische Randalierer, die die Debatte um die Gestaltung von Istanbuls Gezi Park ausnutzten, um Unruhe gegen seine Regierung zu stiften. Allerdings waren sich der Premier und die Menschenmassen in den Straßen, die seinen Rücktritt forderten, an diesem Punkt einig: Es geht jetzt um viel mehr als um ein paar hundert Bäume, bedroht von dem Plan, anstelle des Parks eine Kaserne aus der osmanischen Zeit wiederzuerrichten, oder als um die Bewahrung einer kleinen Grünfläche im Zentrum der ausufernden Stadt aus Beton.
Am Dienstag, den 28. Mai, begannen die Demonstrierenden, sich
im Park zu versammeln, nachdem ein Aufruf dazu aufgefordert hatte, den Park
gegen die Bulldozer zu verteidigen, welche dort mitten in der davorliegenden
Nacht aufgetaucht waren. Der ursprüngliche Alarmruf kam von Taksim Solidarität (Taksim Dayanışması), einer im Jahr 2012 gegen das Bauprojekt der
Umgestaltung des Taksim Platzes gebildeten Dach-Plattform. An der Spitze von Taksim Solidarität steht der Berufsverband
der Architekten und Ingenieure. Die Plattform ist lose verbunden mit einem breiten
Bündnis von Bewegungen, die sich um das Motiv „Recht auf Stadt“ und gegen Projekte
städtischer Umgestaltung (Urban Transformation) – ein Charakteristikum der
AKP-Stadtpolitik – herum organisieren. Diese Stadtpolitik betrifft unter
anderem die Zwangsräumung von für die Aufwertung vorgesehenen Armutsvierteln
und Nachbarschaften der arbeitenden Klassen und von Minderheiten, sie betrifft
die Zustimmung zu ökologisch desaströsen Infrastrukturprojekten wie z.B. der
dritten Brücke über den Bosporus und dem Projekt Kanal Istanbul, sowie die Privatisierung ehemals öffentlicher
Einrichtungen und Räume, einschließlich des berühmten Bahnhofs von Haydarpaşa und eben des Gezi Parks. Was
als kleine Ansammlung von Menschen begann, die nach den Bäumen schauten, wuchs
schnell zu einer Rund-um-die-Uhr-Besetzung des nördlichen Parkendes, mit
aufgebauten Zelten am zweiten Tag und dann mit jeder weiteren Nacht immer mehr
Menschen, die die Kundgebungen besuchten und deren Zahl am Donnerstagabend
bereits einige Zehntausend erreichte. Als die Polizei am 31. Mai zum zweiten Mal
den Park erstürmte, die Besetzer*innen mit Tränengas eindeckte und Barrikaden
errichtete, um diese aus dem Park fernzuhalten, entfachte die Besetzung eine
breitere Protestwelle – die seither andauert.
Bislang war keine einzelne Ideologie oder Partei vollkommen
in der Lage, diese Bewegung zu kapern und sie wieder in die gewohnten
politischen Bahnen zu lenken. Der Ansatz und die Inhalte der Proteste waren von
Viertel zu Viertel und von Stadt zu Stadt sehr verschieden, mit verschiedenen
Slogans und Symbolen (z.B. säkulare, nationalistische, linke, anarchistische)
in den unterschiedlichen Kontexten. Die Millionen Menschen, die sich landesweit an den Protesten
beteiligten, sind vielleicht in nur zwei breiten Anliegen vereint: Erstens, das
bohrende Gefühl der Frustration gegenüber Erdoğan und dem autokratischen
Regierungsstil seiner Amtsführung (anfänglich mit Blick auf die im
Taksim-Projekt symbolisierten Prozesse städtischer Umgestaltung, aber auch
bezüglich zahlreicher anderer Konflikte), und zweitens der Ärger über die
gewaltsame Antwort der Polizei sowie das Versagen der türkischen
Mainstream-Presse, darüber zu berichten.
Mittlerweile haben die Gezi-Proteste Beteiligte fast aller
ideologischen Schattierungen der türkischen Politik angezogen, mit Ausnahme der
Unterstützer*innen von Erdoğans AKP. Die Mehrheit der daran Teilnehmenden sind
aus den säkularen Mittelschichten, aber die Beteiligung von Arbeiter*innen,
praktizierenden Muslimen sowie ethnischen und religiösen Minderheiten straft
jeden vereinfachenden Versuch Lügen, diese Bewegung als eine simple
Wiederholung der existierenden Spaltungen zwischen säkular und religiös,
städtisch und ländlich, Türkisch und nicht-Türkisch etc. zu beschreiben. Die
Positionen und Ziele der an den Demonstrationen beteiligten Menschen sind
divers und manchmal unvereinbar, aber der gemeinsame Satz, den sie überall
rufen, lautet „überall ist Taksim, überall ist Widerstand“ („her yer Taksim,
her yer direniş“) – ein Slogan, der sich auf den Taksim Platz und den
angrenzenden Gezi Park bezieht, sowie auf die umkämpften Auffassungen und
Nutzungsweisen des öffentlichen Raums, den diese repräsentieren.
Öffentlicher Raum und
das Herstellen von Öffentlichkeiten
Am 2. Juni stellte Taksim
Solidarität vier fundamentale Forderungen an die Regierung. Die vierte und
letzte Forderung verlangt die Beendigung der Protest- und Versammlungsverbote
auf allen Plätzen und öffentlichen Räumen der Türkei, zuallererst auf dem
Taksim Platz. Wie die Forderung nahelegt, sind diese Proteste teilweise von dem
Willen getragen, öffentlichen Raum „zurückzugewinnen“ – ein Bestreben, in dem
es nicht nur um den Widerstand gegen eine Reihe kontroverser Projekte der städtischen
Umgestaltung geht, sondern darum, überhaupt das Recht auf eine bestimmte Form
öffentlichen Engagements zu untermauern. Manche verstehen darunter, sich ohne
Angst vor Polizeigewalt an politischem Protest beteiligen zu können (ein Recht,
das – nicht zu vergessen – Kurd*innen und anderen Minderheiten in der Türkei
jahrzehntelang abgesprochen wurde). Für andere wiederum ist dies verbunden mit
dem kürzlichen Aufschrei angesichts der neuen, den Verkauf und Konsum von
Alkohol betreffenden Gesetze sowie mit den Verwarnungen gegen „unmoralisches“
Verhalten in der Metro von Ankara (also damit, welche Lebensstile und
Verhaltensweisen von staatlicher Seite gefördert bzw. erlaubt sind). Die
lebendige, selbstorganisierte Gemeinschaft, die in der vergangenen Woche im
Gezi Park entstanden ist, mit ihrer Bücherei, ihrem Garten, Volksküchen und
Zeltnachbarschaften, ist zu einem weiteren Anschauungsunterricht für die
Neuerfindung des öffentlichen Raums geworden. Dennoch sollten wir aufpassen,
wie wir diese Frage formulieren: Anstatt diese Proteste nur als Kämpfe um einen
einzelnen gewöhnlichen „öffentlichen Raum“ zu interpretieren, wäre es
produktiver danach zu fragen, um was für Räume es sich dabei handelt und um
welche Arten von Öffentlichkeit es geht, die in ihnen und durch sie hergestellt
werden.
Ziehen wir diese Aufzeichnungen von Timurs Feldforschung in
Eyüp, einem überwiegend religiösen und konservativen Viertel in Istanbul, in
Betracht:
Ich habe heute mit
Zehra Hanım [Name geändert] gesprochen. Wir hatten gestern Nacht darüber
gesprochen, uns vielleicht am Taksim zu treffen. Heute sagt sie mir, sie konnte
sich nicht treffen, weil sie stattdessen zu einer Mavi Marmara-Fahrt gegangen
war. „Aber“, fügte sie hinzu, „Ich bin wirklich froh, nicht zum Taksim gegangen
zu sein – als ich nach Hause kam und all die Nachrichten sah und die Dinge, die
die Leute darüber schrieben, die Gewalt, das Steinewerfen auf Polizisten, die
Zerstörung von Eigentum.“ Wir diskutierten über den Platz und über die
Protestformen, darüber, welche dort erlaubt sein sollten und welche nicht. „Ich
bin dort schon mal gewesen, um für etwas zu protestieren“, sagte sie, „aber
sowas, das sollte dort nicht erlaubt sein.“ „Aber“, entgegnete ich, „wo sollten
sie dann stattfinden?“ „Küçükçekmece“, sagte sie, Bezug nehmend auf ein Viertel
westlich hinter dem Flughafen und in einiger Distanz zum Taksim. Ausgerechnet
nach Küçükçekmece hatte die Regierung vorgeschlagen, die Feierlichkeiten zum 1.
Mai zu verlegen. Ich antwortete: „Aber es geht doch darum, gesehen zu werden.
Deswegen protestieren die Leute doch auf dem Taksim!“ „Aber ich bin nicht
deswegen auf dem Taksim. Es gibt dort keine Moschee, immerzu trinkende Leute,
ich erinnere mich, dass meine Tante früher um die Ecke vom Galatasaray wohnte
[auf der İstiklal Caddesi, der Hauptfußgängerzone, die zum Taksim führt], da
gab es ein Café voll mit Linken, die immer loszogen und Unruhe stifteten.“ [31. Mai 2013]
Aus ihrer Sicht waren die Wiedererrichtung der Kaserne am
Taksim – „ohne“, wie sie betonte, „irgendwelche Bäume zu fällen“ – und die
Beschränkung von Protesten auf dem Platz absolut notwendig, um einen
gesünderen, offeneren und angenehmeren Raum zu schaffen. Der Taksim, den sie
vor Augen hat, ist auch ein öffentlicher Raum, aber einer, der für und von
einer anderen Öffentlichkeit hergestellt wird, im Einklang mit konservativeren
Normen. Das ist eine Öffentlichkeit, die in großer Übereinstimmung zum sozialen
und politischen Programm der AKP steht, wenngleich wir die Veränderungen von
politischer Öffentlichkeit seit dem 1980er-Putsch auch breiter fassen können.
In der Tat beziehen sich viele der Personen, mit denen wir im Verlauf der
letzten Tage gesprochen haben, auf die politische Gewalt der späten 1970er
Jahre, in denen die Kämpfe um den öffentlichen Raum eng entlang der politischen
Trennlinien verliefen.
Öffentlicher Raum ist immer politisch, insofern er eine
spezifische Vorstellung des Öffentlichen, der Menschen und ihrer Autorität bedingt.
Was auf dem Taksim begann und seither weit darüber hinausging, ist zum Teil
eine Debatte darüber, welche Art von politischem Auftreten sich aus spezifischen
Räumen herausbilden kann. Auch wenn wir die neuen Formen der
Gemeinschaftlichkeit bestaunen, die sich gegenwärtig an Orten wie dem Gezi Park
entwickeln können, ist es wichtig, weiterhin nach den (materiellen,
ökonomischen, kulturellen und religiösen) Grenzen dieser Öffentlichkeiten, den Modalitäten,
zu denen Menschen mit einbezogen sind, sowie nach dem Vermögen spezifischer
Räume, multiplen Öffentlichkeiten Rechnung zu tragen, zu fragen. Wenn „Taksim
uns gehört“, wie viele mittlerweile sagen, ist es notwendig, weiter danach zu
fragen, wer dieses „wir“ ist, wie es sich zusammensetzt und wie inklusiv es ist,
bzw. werden kann oder nicht.
Ein Baum oder seine
Bedeutung
Vielleicht gerade weil die anfängliche Mobilisierung rund um
den Gezi Park überwiegend getrennt von den Standardkategorien politischer
Organisation und Parteizugehörigkeit in der Türkei vonstatten ging, war sie in
der Lage, sich zu einer derart breiten und unvorhergesehenen Protestbewegung zu
mausern. Während der Taksim Platz lange Zeit sowohl als politisches Symbol
(besonders für die türkische Linke und die Arbeiterbewegung) als auch als Ort
öffentlicher politischer Praxis große Bedeutung hatte, war der Gezi Park – bis
letzte Woche – ein deutlich weniger politisch und emotional aufgeladener Ort.
Die Bewegung gegen seine Zerstörung war anfänglich ausgerichtet auf die
Erhaltung von Grünflächen – darauf, einen nefes
alınacak bir yer (Ort zum Durchatmen) zu haben – und auf den Widerstand
gegen die Einzäunung von Gemeingütern, nachdem verkündet worden war, dass die
rekonstruierte Kaserne voraussichtlich eine Shopping Mall, ein Hotel und
Privatwohnungen beherbergen würde. In diesem Kontext sind die bedrohten
Gezi-Bäume – sowie der Park, in dem sie standen – zu einem mächtigen und
flexiblen Symbol geworden – offen genug, um von unterschiedlichen Menschen und
politischen Standpunkten nutzbar gemacht zu werden. In den frühen Tagen der
Besetzung drückte sich dieser Facettenreichtum in den Bannern und Postern um
den Park herum aus: Plakate, die eine Zeile des kommunistischen Dichters Nazim
Hikmet zitierten – „wie ein Baum zu leben, einzeln und frei, und wie ein Wald, geschwisterlich,
das ist unsere Sehnsucht“ – hingen neben dem Banner einer Organisation
„revolutionärer Muslime“, das mit einem Zitat aus dem Koran geschmückt war: „die
Bäume verneigen sich vor Gott“. Ganz in der Nähe gab es gesprühte Slogans über
die Wichtigkeit von Grünflächen – „Parks, kein Beton“ – und ähnliche
Forderungen der Umweltschützer*innen, emphatische Verurteilungen des
renditesuchenden Kapitals und neoliberaler Urbanisierung, wie auch eine Reihe
von bildschirmgedruckten Bannern mit dem riesigen laufenden Baumgeist Ents aus
der Filmfassung von Herr der Ringe.
Seit der Zurückdrängung der Polizei und der Wiederbesetzung
des Parks am 1. Juni wurden die Bäume mit Spruchbändern und Zeichen geschmückt
– „Hör auf dein Gewissen, töte mich nicht“ – und mit den Namen (in manchen
Fällen auch Fotos) derjenigen versehen, die bei dem Roboski/Uludere Massaker
und dem Bombenattentat in Reyhanlı getötet wurden. Zum Ausdruck kommt das
Bemühen, eine Verbindung zur Bewegung für kurdische Rechte und zur anhaltenden
Kontroverse über die Rolle der Türkei im syrischen Konflikt herzustellen. Nach
dem Tod eines jungen Demonstranten in Antakya am 3. Juni wurden sein Name -
Abdullah Cömert – und Foto mit der Beschriftung „Märtyrer des Gezi Parks“ den
Bäumen hinzugefügt. Die Bäume sind zu einer Art flottierendem Marker geworden,
scheinbar a-politisch genug, um einer ganzen Reihe von Bewegungen, Parteien und
Positionen zu dienen, während sie zugleich greifbar und verwurzelt an einem
besonderen Ort stehen. Am 31. Mai twitterte ein Aktivist aus Ankara eine Zeile
aus Orhan Pamuks Roman Mein Name ist Rot:
„Ben bir ağacın kendisi değil, manası olmak istiyorum“ („Ich möchte nicht der
Baum selbst, sondern seine Bedeutung sein“). Da die Frage, was ein Baum
bedeutet, eine offene ist, konnte dieser zu einem Symbol werden, um das sich die
Leute versammelten, die kein Interesse an den etablierten Parteien haben oder
von diesen verprellt wurden. Während diejenigen Organisationen, die eine lange
Tradition politischer Mobilisierung vorweisen können, den Protesten Energie und
Zuspruch verliehen, wurden zugleich Menschen angezogen, die sich selbst als
unpolitisch oder bewegungsfern bezeichnen. Daneben wurde verschiedenen Parteien
und Bewegungen, die die Energie des Protests für ihre eigenen Zwecke
vereinnahmen wollten – allen voran der Republikanischen Volkspartei (CHP) sowie
ihrer kemalistischen und säkularistischen Anhängerschaft –, ein beachtlicher
Widerstand von den Organisierten im Park entgegengesetzt.
All dies bedeutet jedoch nicht, dass die symbolische
Offenheit des Gezi Parks universell verfügbar ist. Die Aufwertung des Parks
durch die Bewegung zu einem öffentlichen Platz, der allen gehört, lässt einen
anderen Teil seiner Geschichte außer Acht. Die Lage des Parks überlappt mit dem
Armenischen Surp Agop Friedhof, der in den 1930er Jahren enteignet und zerstört
wurde, um Platz für den Bau des Istanbuler Radios der Türkischen Radio- und
Fernsehanstalt und für Hotels zu machen, die heute den Park an seiner Nord- und
Ostseite umgeben. Die Stufen in den Park wurden aus entwendeten Grabsteinen aus
dem Friedhof gefertigt. Einige Mitglieder der armenischen Gemeinschaft
Istanbuls haben sich der Besetzung angeschlossen und versuchen diese
unsichtbare Vergangenheit mit Schildern wie „Ihr habt uns unseren Friedhof
genommen – ihr werdet uns nicht unseren Park nehmen“ zurückzuholen. Andere
fühlen sich jedoch von der initialen Auslöschung dieser Geschichte durch die
rhetorische Forderung der Bewegung „Gezi gehört uns allen“ abgestoßen.
Infrastruktur als
Performanz
Da die andauernde Besetzung des Parks und des Platzes sowie
der Umgebung diese Räume verändert hat, sind auch die sichtbaren Spuren dieser
durch den Protest erzeugten Umwandlung zu einer Quelle von Debatten geworden.
„Trümmer bleiben zurück“, so lautete die Schlagzeile der regierungsfreundlichen
Zeitung Star am 3. Juni.
„Umweltbewusstsein“, ergänzte die konservative Zaman, „wurde zu Brand und Zerstörung“. Das Bild eines
ausgebrannten Fahrzeugs auf dem Taksim, mit zerbrochenen Scheiben und mit
Graffiti übersprüht, wurde von beiden Blättern exponiert dargestellt. Die
tendenziell liberale Radikal brachte
ein Foto vom selben Platz, die Aufmachung war jedoch deutlich verschieden in
Inhalt und Botschaft. Im Hintergrund war dasselbe Auto zu sehen, im Vordergrund
jedoch eine Gruppe von Aktivist*innen, die Seite an Seite mit der Aufräumung
des Platzes befasst waren. Die dazugehörige Schlagzeile lautete: „Jetzt wird es
Zeit, Lehren zu ziehen“. Die Bilder von Zerstörung und Wiederaufbau lenken unsere
Aufmerksamkeit nicht nur auf die umkämpften Narrative über die böswilligen oder
gutwilligen Motive der Protestierenden, sondern auch auf die Rolle, die
Eigentum und Raum im öffentlichen Diskurs in der Türkei einnehmen.
Eine der beachtlichen Fertigkeiten von Erdoğan und der AKP
über die letzte Dekade besteht in der Art und Weise wie die Partei
Infrastrukturprojekte (große und kleine) benutzte, um sowohl ihre Autorität zu
begründen als auch ein bestimmtes Projekt zur Produktion von Wert zu
naturalisieren. Ob auf der kommunalen oder der nationalen Ebene, die Einweihung
neuer Gebäude, Straßen, Brücken, Kulturzentren, Kanalisationsnetze,
Freizeitparks und Wohnsiedlungen dient jeweils als Gelegenheit, die Umwandlung
der bebauten Umwelt mit dem fortgesetzten Erfolg der AKP zu verknüpfen. In der
Tat, durch die enge Anbindung ihrer politischen Wirkkraft an die Umwandlung städtischer
Umgebungen und die Bereitstellung von Dienstleistungen an die städtische
Bevölkerung hat die AKP ein politisches Vokabular entwickelt, das lokale
Erfahrungen mit einer weit breiteren, nationalen Koalition verknüpft. Die Eröffnungszeremonie für die dritte Brücke am 29. Mai liefert
ein weiteres Exempel für diesen Vorgang. Die Rhetorik dieser Veranstaltung
bestand aus einer aufsteigenden Nation und einem prosperierenden, entwickelten
Istanbul. Das Publikum bestand überwiegend aus Parteikadern, die mit Fähren aus
allen Teilen der Stadt herbeigebracht wurden. Die ungezügelte Landspekulation,
mit der Geld in private Hände gespült wird - in diesem Fall die Entwicklung der
nördlichen Gebiete Istanbuls, durch die ein großer Teil der verbliebenen Wälder
und Wasserreservoire zerstört wird -, soll als die natürliche Ordnung der Dinge
hingenommen werden.
In unseren Gesprächen in der vergangenen Woche mit
Sympathisanten der AKP aus der Istanbuler Bevölkerung bezogen viele den Erfolg
der Partei auf diese (Infra)Strukturen. Ein Cafébesitzer im überwiegend
säkularen Stadtviertel Kadıköy, wo die oppositionelle CHP Kundgebungen zur
Unterstützung der Proteste organisierte, griff einige dieser Ansichten in einem
Gespräch mit Elizabeth auf, indem er das ökonomische Wachstum der letzten
Dekade und den Ausbau öffentlicher Verkehrsnetze in Istanbul mit dem Stillstand
und der Inflation der 1990er Jahre verglich. Während er viele jüngere Reformen
der AKP-Regierung missbilligte, wie die Restriktion des Alkoholverkaufs und von
Rauchen im öffentlichen Raum, sagte er zugleich, „eine schlechte Entscheidung
ist immer noch besser als Unentschlossenheit“. Die Aussage entspricht einer
rhetorischen Figur, die Erdoğan häufig zu seiner Verteidigung anbringt: dass er
ein entschlossener Anführer ist, dass seine Administration effektiv in der
Breitstellung von Dienstleistungen ist, und dass er ein Macher ist. Istanbul,
so seine Argumentation, ist sauberer und besser organisiert, funktioniert
besser als zu Zeiten als noch die Opposition an der Macht war. Die AKP, so
weiter, will eine schönere, modernere Stadt schaffen – Ansprüche, die auch in
seiner Rede widerhallten, die er unmittelbar nach seiner Rückkehr von einer Auslandsreise
in der Nacht vom 6./7. Juli vor seiner Anhängerschaft hielt. So sehr wir diesen
Argumenten über die Wirkkraft und den Nutzen der städtischen Politik der AKP
widersprechen mögen, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass sie auf die
politische Basis Erdoğans rhetorisch und ästhetisch verlockend wirken.
Sofern der Erfolg der AKP auf so etwas wie einer Performanz
der (Infra)strukturen gründet, wird es aufschlussreich sein zu erfahren, ob
diese Proteste in der Lage sein werden, eine alternative Denkweise über sowohl
urbane Transformation als auch die Produktion von Wert zu entwickeln, und ob es
gelingen wird, diese Kritik einer breiteren Öffentlichkeit, die bislang mit solchen
Projekten sympathisierte, auch wenn die Partizipation an ihnen sehr ungleich
gestaltet war, zu vermitteln. In der Tat ist der langatmige Kampf von Aktivist*innen
von Taksim Solidarität für einen
gerechteren und nachhaltigeren Ansatz städtischer Planung und Politik eines der
Dinge, die das Fundament für diese Proteste legten. Ihr kritisches Vokabular
wurde Bestandteil der gemeinsamen Sprache der jüngsten Proteste. Neben den
Forderungen nach einem Rücktritt Erdoğans und für Solidarität gegen autoritäre
Politik besteht eine wachsende Unzufriedenheit mit der Art und Weise wie die
Stadt umgestaltet wird, mit den sich ausbreitenden Betontürmen, Einkaufszentren
und Luxushotels, mit der Ästhetik des neo-osmanisch neoliberalen Urbanismus.
Die städtischen Visionen, die im Gezi Park artikuliert werden, mit der Betonung
auf Organisierung an der Basis und gegenseitiger Solidarität, stellen eine
Herausforderung für den Anspruch der AKP dar, einzige politische Kraft zu sein,
die Dinge erbauen und Dienstleistungen erbringen kann. Es ist nicht ausgemacht,
ob die Bewegung erfolgreich darin sein wird, diese Vision über den einzelnen
Ort hinaus zu tragen, der Vielfalt an Leuten näher zu bringen, die überall in
der Stadt und im Land auf die Straßen gehen oder bislang zuhause geblieben
sind.
Schlussfolgerungen:
zukünftige Pfade?
Seinen Besuch des Taksim Platzes über das Wochenende
erinnernd nannte derselbe Mann, der zuvor Erdoğans Entschlossenheit lobte, ihn
einen „Platz der Freiheit“. Er staunte über die Bandbreite der ko-existierenden
politischen Strömungen auf dem Platz und über die Unterschiede zwischen seiner
Generation und den jungen Leuten, die einen großen (bei weitem jedoch nicht
einzigen) Teil der Protestierenden ausmachten. „Das ist etwas Neues“, sagte er.
Es ist unmöglich, sichere Aussagen über den zukünftigen Werdegang der Proteste
und die neuen Formen politischer Praxis und Gemeinsamkeit, die aus dem Terrain
erwachsen, zu treffen. Eine der interessantesten Dimensionen dieser Bewegung
besteht darin, wie intensiv die selbständige Dokumentation betrieben wurde, zum
Teil in Reaktion auf das Versagen eines großen Teils der etablierten türkischen
Medien, über die Demonstrationen zu berichten. Was wird passieren, wenn die
Graffitis übermalt werden, und wenn – sofern – die Konfrontationen auf der
Straße an Intensität abnehmen? Wir haben argumentiert, dass der Anspruch der
AKP auf politische Autorität zum Teil aus der Produktion materieller
Infrastruktur stammt, die ihre Effektivität bezeugt. Die offensichtliche
Beständigkeit dieser Objekte und Räume untermauert die scheinbare Beständigkeit
der AKP – und von Erdoğan selbst – an der Macht. Über die letzten anderthalb
Wochen sind der Taksim Platz und der Gezi Park als lebhafte Möglichkeitsräume
entstanden. Es wird sich noch erweisen, welche dauerhaften Effekte aus dieser
Transformation erfolgen werden.
Doch selbst wenn die Zukunft des Gezi Parks und des Taksim
Platzes – der Möglichkeiten und Paradoxien, die sie repräsentieren –
zweifelhaft ist, eines wissen wir zumindest: sie sind zu einem Schauplatz einer
ungewöhnlichen und bemerkenswerten Annäherung von Leuten und Perspektiven
geworden, für die es keinen Vorläufer in der Geschichte der Türkei gibt. Wir
wissen noch nicht, welche Art von Öffentlichkeit aus diesen Orten erwachsen
wird und wie offen diese sein wird. Die Orte selbst bezeugen jedoch das Recht
auf Protest, das Recht Anders zu sein und das Recht andere Ansprüche an die
Straße und die Stadt zu erheben. Unsere Hoffnung – so wie die vieler anderer,
die auf dem Taksim und im Gezi Park versammelt sind – ist, dass die Proteste in
der Lage sein werden, das integrative und ermöglichende Potential zu erweitern,
Räume zu erschaffen, die unterschiedliche Öffentlichkeiten zulassen, anstelle
von engen und polarisierenden Postulaten, die in der Vergangenheit nur eine
einzige Sorte Raum und Mensch zulassen wollten. Das, so unser Gedanke, könnte
ein überall Taksim sein.
*Das englische Original des Artikels erschien am 9. Juni 2013
bei Jadaliyya:
http://www.jadaliyya.com/pages/index/12143/is-everywhere-taksim_public-space-and-possible-pub
Wir danken Jadaliyya sowie dem Autor und der Autorin für die
freundliche Erlaubnis, eine Übersetzung veröffentlichen zu dürfen. Übersetzung von Errol Babacan und Anne Steckner.