Die neoliberale AKP räumt alles aus
dem Weg, das sich einer Vermarktlichung in den Weg stellt. Ideologische und
soziale Spaltungslinien zwischen den Akteuren des Protests und Widerstands gegen
diese Politik bedingten lange Zeit eine Fragmentierung und gegenseitige
Isolation. Die Gezi-Proteste bergen das Potential zur Überwindung der Spaltungslinien,
obgleich die Gegenmobilisierung, die die neoliberale Hegemonie hervorbringen
könnte, nicht unterschätzt werden sollte.
Um zu verstehen, wodurch die bahnbrechenden Proteste auf dem
Taksim Platz in Istanbul angestoßen wurden, und wie sie sich so schnell
ausbreiten konnten, scheinen mir zwei Aspekte wichtig, die oft aus dem Blick
geraten: Die Proteste entstanden als Reaktion auf das von der neoliberalen
Regierung vorangetriebene Projekt einer Umstrukturierung der Städte; Und: sobald
die Proteste massiver wurden, traten die stadtpolitischen Fragen schnell in den
Hintergrund. Beide Aspekte erhellen die Frage, was grade in der Türkei passiert
und warum.
Was die regierende Partei
für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) heuchlerisch „Stadterneuerung“
nennt, ist in Wirklichkeit eine Zerstörung öffentlicher Räume, historischer
Orte und der letzten verbleibenden Grünflächen, sowie eine Verdrängung armer
Bevölkerungsgruppen, um die Stadt nach dem Bild des Kapitals umzugestalten. All
diese unerwünschten Orte und Menschen sollen Einkaufszentren, Hochhäusern,
Büroflächen und glänzenden Nachbildungen historischer Gebäude weichen. Dagegen
organisiert sich schon seit geraumer Zeit Widerstand, der von nationalen und
internationalen Mainstream-Medien allerdings kaum wahrgenommen wurde. Die
Unsichtbarkeit der bisherigen Proteste liegt jedoch nur zum Teil am mangelnden
Medieninteresse oder einer Feindseligkeit des Mainstream. Die Regierungspartei samt
ihrem sorgfältig errichteten hegemonialen Apparat war ausgesprochen erfolgreich,
die Proteste zu spalten und zu marginalisieren. So wurden beispielsweise bei
der Räumung besetzter Gebäude und Grundstücke die Gegner*innen jeweils höchst
unterschiedlich kompensiert: Hausbesitzer*innen besser als Mieter*innen, und
Familien, die gute Kontakte hatten oder der Politik nahe standen, wurden
großzügig entschädigt – all das, um die Widerstandsfähigkeit in den
Nachbarschaften zu schwächen. Wenn Geld nicht ankam, säte das Regime Keime religiöser
oder ethnischer Spaltungen. Liefen derartige Tricks alle ins Leere, fanden sich
die Besetzer*innen der ganzen Härte polizeilicher Repression gegenüber. Im Großraum
Istanbul gelang es bislang nur einer einzigen Nachbarschaft dem Druck
standzuhalten und der Umstrukturierung immer wieder entgegen zu treten. Obwohl
die „Stadterneuerung“ Millionen von Menschen betrifft, konnte sich der Widerstand
nur in kleinen Nischen organisieren, statt auf gesamtstädtischer Ebene. Geschweige
denn auf Landesebene – denn obwohl das Projekt irreführender Weise das Wort
‚Stadt’ im Titel trägt, wird es in abgeschwächter Form auch auf dem Land
durchgesetzt und zerstört ländliche wie städtische Lebensgrundlagen und die
Gesundheit vieler Menschen.
Die Proteste rund um den Taksim Platz schienen sich zunächst in
eine Folge isolierter Widerstände einzureihen. Als Intellektuelle und
KünstlerInnen vor einiger Zeit gegen den Abriss eines Cafés und später auch
eines historischen Kinos mobilisierten, machte es den Eindruck, als kämpften sie
elitäre Rückzugsgefechte um Orte, die für die breite Bevölkerung keine Rolle
spielten. Vereinzelte Proteste blieben marginal, entweder in den Vierteln der
Elite oder denen der Besetzer*innen – solange bis die Polizei brutal gegen
einige dutzend Demonstrierende vorging, die den Gezi Park verteidigen wollten,
die letzte Grünfläche in der Nähe des zentralen Taksim Platzes im Istanbuler
Vergnügungsviertel. Occupy Gezi wurde
aus der Entschlossenheit geboren, diesen Park zu retten und das dort geplante
Einkaufszentrum zu verhindern.
Ausbreitung der Proteste und Erweiterung ihrer Agenda
Zunächst strömten tausende Menschen auf den Taksim Platz, um
ihre Solidarität mit den Angegriffenen zu bekunden. Dadurch rückte die Polizeigewalt
auf der Agenda der Proteste ganz nach oben. Am ersten Tag der Verbreitung des
Protests ging es auch noch um den Umbau der Städte. Doch schon nach wenigen
Tagen verdrängten die Polizeigewalt, der zunehmende Autoritarismus der AKP und
das anhaltende Demokratiedefizit die ursprünglich stadtpolitischen Themen. Viele
Tweets und andere Berichte im Netz betonten, dass es bei den Protesten „nicht
um ein paar Bäume, sondern um Demokratie“ ginge. Dies war eine stark
vereinfachte und letztlich kontraproduktive Gegenüberstellung. Die Bedeutung
der Bäume lag darin, dass sie für kurze Zeit außerhalb der ökonomischen Logik
des Landes standen, derzufolge alles ungehindert ge- und verkauft werden kann.
Es gibt nach wie vor Transparente, die auf die Bedeutung der Bäume
hinweisen – nicht nur als Symbol für die Natur, sondern auch für das
demokratische Aufbegehren der Bevölkerung. Sie zeugen vom ursprünglichen Geist
der Proteste. Occupy Gezi begann als Revolte von Menschen, die sich weigerten,
rund um die Uhr an Geld zu denken. Dies führte sie unweigerlich in eine
Konfrontation mit Regierung und Polizeigewalt, die alles aus dem Weg räumen, was
sich einer Vermarktlichung entgegen zu stellen wagt. Die Bäume sind ein Symbol
der Einheit zwischen betroffenen Besetzer*innen, Studierenden mit düsteren Jobaussichten,
streikenden Arbeiter*innen und Staatsbediensteten, Intellektuellen und der
Natur. Gleichzeitig ist es wichtig, die Dynamiken zu verstehen, die die
Aufmerksamkeit von den Stadterneuerungsprozessen weg lenkten.
Der Kontext der zunehmenden Repression
Teile der Regierung haben in den letzten Monaten ein riskantes
Kalkül angestellt. Die Regierung bereitet die Türkei auf einen regionalen Krieg
vor und in solchen empfindlichen Zeiten braucht
sie ein geeintes Land ohne bedrohliche Opposition. Aus diesem Grund ging sie
nach Jahrzehnten unerbittlicher Marginalisierung auf die Kurd*innen zu. Die
türkischen Machthaber sahen in den Kurd*innen (verständlicherweise) die einzige
Kraft, die die Vorhaben der Regierung gefährden könnte. Ihr Kalkül geht davon
aus, dass sie, wenn sie die Kurd*innen erst auf ihrer Seite haben, den Rest der
Bevölkerung spalten, marginalisieren und unterdrücken können, da er im
Vergleich zu den Kurd*innen ohnehin schlechter organisiert sei. Der
Friedensprozess ermöglichte es der Regierung außerdem, viele Liberale zurück zu
gewinnen, die sich seit 2010 enttäuscht abgewandt hatten. Bestimmte Regierungskreise
dachten, mit einem so erneuerten hegemonialen Block mühelos alle anderen zum
Schweigen bringen zu können. Daher bedienten sie sich immer hemmungsloser polizeilicher
Gewalt und anderer konservativer Maßnahmen (wie einer verschärften Regulierung
des Alkoholkonsums). Alle anderen, die diesem erneuerten Block nicht angehörten,
fühlten sich bedroht – seien sie aus der Ober- und Mittelschicht oder den
unteren Klassen, Säkulare oder Alevit*innen, Männer oder Frauen, rechte
Nationalist*innen oder Sozialist*innen. Als Occupy Gezi sich zu einem Protest
gegen die Polizei ausweitete, schlossen sich hunderttausende von ihnen an, um
ihren Frust über den zunehmenden Autoritarismus auf die Straße zu tragen.
Damit kommen zahlreiche Menschen ins Spiel, die vom Stadtumbau
eigentlich profitiert hatten. Die meisten hatten bisher kein Problem mit
Polizeigewalt oder Autoritarismus, so lange diese sich gegen Arbeiter*innen,
Kurd*innen, Sozialist*innen oder Alevit*innen richteten. Einige skandieren
derzeit nationalistische Slogans in Istanbul und über die gesamte Türkei hinweg.
Es ist mir jedoch wichtig zu betonen, dass es sich hier um unterschiedliche
Kreise handelt, die sich nur zum Teil überschneiden. Die verschiedenen
Strömungen bilden nicht unbedingt eine Einheit, obwohl sie von fast allen
abkürzend “ulusalcı” (extreme Nationalist*innen) genannt werden. Entgegen der
Regierungspropaganda stellen sie auf dem Taksim Platz eine Minderheit dar; in
gehobenen Vierteln sind sie jedoch zweifellos in der Mehrheit. Unter ihnen gibt
es auch besser organisierte Kräfte, die die Proteste gerne übernehmen würden.
Aber die Mehrheit der unorganisierten Masse versteht den Protest und die ihm
zugrunde liegenden Themen kaum. Meist beteiligen sie sich, um ihre Interessen
oder ihren Lebensstil zu verteidigen. Diese Menschen bestimmen Occupy Gezi
nicht, aber sie lassen die Lage etwas unübersichtlicher werden. In gewisser
Hinsicht hat ihre Teilnahme Occupy Gezi sogar gestärkt. Gleichzeitig gefährden sie
auf nationaler wie internationaler Ebene die Klarheit der Botschaft.
Schwankende Blöcke
Die Initiator*innen der Proteste (die jetzt den Taksim Platz
kontrollieren) sind sich dieser Gefahren sehr wohl bewusst, viele von ihnen
können auf jahrelange Erfahrung als Aktivist*innen zurückgreifen. In den
Erklärungen, die sie veröffentlichen, sprechen sie bewusst von
Stadtumstrukturierung, Polizeigewalt und Autoritarismus – nur gehen diese
Erklärungen in der Gemengelage des riesigen, landesweiten Protests oftmals unter.
Die erfahrenen Aktivist*innen kämpfen dabei gegen zwei schwankende Blöcke:
Den ersten Komplex bilden die strukturellen Probleme und die erfolgreichen
hegemonialen Schachzüge, die bisher die Proteste gegen die Umstrukturierung der
Stadt gespalten haben. Aus Gründen, die ich hoffe an anderer Stelle ausführen zu
können, ist es nach wie vor sehr schwierig, einen konsistenten Block gegen die
„Stadterneuerung“ zu schmieden, der alternative Visionen von Entwicklung,
Urbanisierung und Natur einschließt. Klassengegensätze, Kulturen, Lokalitäten
und viele andere Faktoren spalten diejenigen, die unter demselben Projekt einer
Umstrukturierung der Städte leiden. Im Gegensatz zur Regierungspartei und ihren
Technokraten, die die Zusammenhänge des Leidens aus der Vogelperspektive
betrachten, wissen die Betroffenen oft wenig voneinander. Es ist schwierig,
Occupy Gezi allein durch die Thematisierung stadtpolitischer Fragen
aufrechtzuerhalten oder auszuweiten.
Der zweite und vielleicht ebenso wichtige Aspekt ist der
Friedensprozess mit den Kurd*innen. Die Regierung und ihre liberalen
Verbündeten verbreiten das Gerücht, die derzeitigen Proteste richteten sich
gegen den Friedensprozess. Es ist durchaus möglich, dass sich ein Teil der oben
erwähnten unorganisierten türkischen Massen (neben vielen anderen Dingen, wie
z.B. den Alkoholvorschriften) auch deshalb an den Protesten beteiligt, weil sie
einen Frieden mit den Kurd*innen ablehnen. Die Gruppen, die den Taksim Platz kontrollieren
treten jedoch seit Jahrzehnten für
einen Frieden mit den Kurd*innen ein. Und dies schon zu Zeiten, als der
türkische Staat (das derzeitige Regime inbegriffen) noch blutige Kämpfe gegen
die Kurd*innen führte. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als unaufrichtig,
dass die liberalen Ideologen des aktuellen Regimes den Protestierenden nun Kriegstreiberei
vorwerfen. Auch wenn sich bereits viele kurdische Aktivist*innen auf dem Taksim
Platz und andernorts an den Protesten beteiligen, halten sich die meisten
Kurd*innen noch zurück – aus Furcht durch ihre Teilnahme den Friedensprozess zu
gefährden. Das kann den Kurd*innen unmöglich vorgeworfen werden. Sie haben lange
Zeit einen hohen Preis gezahlt. Eine der größte Herausforderung für Occupy Gezi
wird es sein, Wege zu finden, wie die Kurd*innen eingebunden werden können, ohne
die Mehrheit der nicht links gerichteten Kräfte, die bisher einen wichtigen
Teil der Bewegung ausgemacht haben, vor den Kopf zu stoßen. Die Bewegung wendet
sich über ideologische und Klassengegensätze hinweg gegen Autoritarismus und
Ökonomisierung. Es besteht kein Anlass, Gruppierungen der oberen Mittelschicht
oder der Eliten (die in unterschiedlichem Maße von den Auswirkungen der Ökonomisierung
und des Autoritarismus profitieren oder betroffen sind) auszuschließen. Diese Gruppierungen
würden sich jedoch möglicherweise von der Bewegung abwenden, würden die Kurd*innen
voll einsteigen (was allerdings ohnehin unwahrscheinlich ist).
Occupy Gezi ist in einer günstigen Position, um diesen
Herausforderungen zu begegnen. Einerseits sind viele der Aktivist*innen
traditionellen Formen politischer Organisierung und Strategie nicht so abgeneigt,
wie es bei Occupy Wall Street und ähnlichen Bewegungen im Westen der Fall war
(auch wenn diese Haltung unter den jüngeren Protestierenden auch auf dem Taksim
Platz zu finden ist). Für diese Ablehnung organisierter Politik haben die Bewegungen
der letzten Jahre teuer bezahlt. Andererseits unterscheiden sich die türkischen
und kurdischen Aktivist*innen von den Protestierenden in den arabischen Ländern
dahingehend, dass sie in einer semi-demokratischen Gesellschaft gelebt haben
und daher viel politische Alltagserfahrung sammeln konnten. Es ist also nicht
die "führungslose Revolution", die hier in der Türkei angekommen
wäre. Im Vergleich zu den westlichen und arabischen Ländern steht Occupy Gezi
jedoch einem weitaus hegemonialeren neoliberalen Regime gegenüber. Verglichen
mit ihren fanatischen oder flachen Entsprechungen im Westen oder gar ihren
völlig unerfahrenen Entsprechungen in der arabischen Welt, ist es den türkischen
Konservativen deutlich erfolgreicher gelungen, eine breite Basis in der
Bevölkerung aufzubauen und eine kämpferische aber pragmatische
liberal-konservative Intelligentsia um sich zu scharen. Dieser Konsens ist
multidimensional, umfasst Kompromisse und Artikulationen auf ideologischer,
religiöser, politischer und wirtschaftlicher Ebene. Doch auch die
Demobilisierungen und Gegenmobilisierungen, die diese neoliberale Hegemonie hervorbringen
könnte, sind nicht zu unterschätzen. Sollten die türkischen und kurdischen
AktivistInnen kreative Wege finden, um diese Hindernisse zu überwinden, könnte
die Türkei der globalen Welle der post-2011 Revolten eine neue Wendung geben.
*Das englische Original des Artikels erschien am 10. Juni
2013 bei Jadaliyya:
http://www.jadaliyya.com/pages/index/12009/occupy-gezi_the-limits-of-turkey’s-neoliberal-succ
Wir danken Jadaliyya sowie dem Autor für die freundliche
Erlaubnis, eine Übersetzung veröffentlichen zu
dürfen.