Eine Intervention von Murat Çakır
Obwohl Militäroperationen
unvermindert fortgeführt werden, die Opposition in der Türkei einer anhaltenden
Repression ausgesetzt ist und Abdullah Öcalan weiterhin in Isolationshaft sitzt,
haben die jüngsten Besuche von BDP-Abgeordneten auf Imralı teils euphorische
Reaktionen in türkischen Medien ausgelöst. Kurze Gespräche mit Öcalan und die
Übermittlung seiner Briefe an die PKK-Führung reichten dafür aus. Zumindest als
PR-Coup ist die jüngste Stufe des Oslo-Prozesses ein großer Erfolg.
Nicht nur kritische Linke, auch
kurdische Nationalisten betrachten dies mit großer Skepsis. Letztere
beschäftigen sich allerdings prominent mit der Frage, wie ein mehr oder minder
klassischer kurdischer Nationalstaat in der Region zu organisieren wäre.
Zumindest suggeriert dies ein kurzer Blick in ihre Debatten:
Eine prominente Rolle spielt darin
der türkische Soziologe İsmail Beşikçi. Beşikçi, der sich in der Forschung
zur kurdischen Geschichte zweifelsohne große Verdienste erworben hat, wirft
Öcalan und der kurdischen Bewegung »Verrat an der kurdischen Sache« vor. Mit
Bezug auf Öcalans Verteidigungsschriften [1], in denen dieser sein Konzept
eines »demokratischen Konföderalismus jenseits von Staat, Macht und Gewalt«
vorstellt, meint Beşikçi, Öcalan begehe mit der Ablehnung eines unabhängigen
kurdischen Nationalstaates einen großen Fehler. Ist dies wirklich ein
großer Fehler?
Ein naturgegebenes Recht?
Beşikçi und seine Anhänger
begründen ihre Forderung nach einem unabhängigen kurdischen Nationalstaat weder
mit der historischen Entwicklung, noch mit materiellen Voraussetzungen, sondern
alleine mit dem »naturgegebenen Recht von 50 Millionen Kurden, die von vier
Kolonialstaaten unterjocht werden« [2]. Der junge Staat Kosovo dient dabei als
Beweis für die Möglichkeit einer nationalstaatlichen Gründung auch im 21.
Jahrhundert.
Da die kritische Literatur reich
an Abhandlungen über die Entstehung der »Nation« ist, können auch kurdische
Nationalisten, wie Recep Maraşlı, die
Probleme eines kurdischen Nationalismus nicht ignorieren. So schreibt Maraşlı
an Beşikçi:
»Ich teile Ihre Kritik
vollständig. Aber es ist auch eine sehr wichtige Frage, welchen Weg die Kurden
beim Aufbau des Nationalstaates verfolgen werden. Wie werden z.B., wenn ein
solcher Nationalstaat aufgebaut ist, die Türken, Araber, Aramäer, Tscherkessen,
Armenier innerhalb der Gefüge des kurdischen Nationalstaates einbezogen? (…) Es
ist bekannt, dass Zwangsumsiedlungen, Massaker und Assimilierungspolitiken beim
Aufbau von Nationalstaaten im Namen der Homogenisierung der Heimat legitimiert
wurden. Wie können die Kurden ihren Nationalstaat aufbauen, ohne diese
Verbrechen zu begehen?« [4]
Maraşlıs Fragen sind berechtigt.
Doch seine Vorstellung, dass eben diese »Verbrechen durch einen inneren
Föderalismus bzw. kantonale Staatsstrukturen verhindert« werden könnten, da der
»kurdische Nationalstaat sowieso einen allumfassenden Nationalitätsbegriff haben«
würde, bleibt ein frommer Wunsch. Beşikçi wiederum ist der Auffassung, »jeder wisse, dass
die Kurden so etwas nie machen würden«.
Wenn, wie Maraşlı meint, »die
Beziehungen zwischen Nationen, die im gleichen Land leben, demokratisch und
partizipativ gestaltet und so das nationalstaatliche Denken überwunden werden«
können, stellt sich die Frage, warum dies nicht innerhalb der gegebenen
nationalstaatlichen Grenzen verfolgt wird und stattdessen die Gründung eines
kurdischen Nationalstaats erforderlich ist? Wenn das »Selbstbestimmungsrecht
der Kurden« richtig und ein kurdischer Nationalstaat unverzichtbar sein soll,
da die Kurd*innen sich dem »umfassenden Nationalitätsbegriff« der Türkei, des
Irans, Iraks und von Syrien »nicht unterordnen wollen«, warum sollten dann
arabische, aramäische, armenische oder türkische Ethnien, die in Kurdistan
leben, diesem Recht auf Selbstbestimmung abschwören und sich einem
»allumfassenden kurdischen Nationalstaat« unterordnen? Was, wenn sie sich,
ebenso wie die Kurd*innen in den jeweils existierenden Staaten auch, der
Unterordnung widersetzen? Wer könnte garantieren, dass ein kurdischer
Nationalstaat nicht genau dieselben Verbrechen begeht wie zuvor die Türkei, der
Iran, Irak oder Syrien?
Befriedigende Antworten auf solche
Fragen werden weder von Beşikçi noch
von Maraşlı oder anderen kurdischen Nationalisten geliefert. Denn die Gründung
eines unabhängigen kurdischen Nationalstaats, den sie als »naturgegebenes Recht
der Kurden« fordern, ist vom Charakter nichts anderes als der von ihnen
verhasste bürgerliche Nationalstaat. Eben diesen wollen sie in der Türkei, im
Iran, Irak und Syrien zerschlagen sehen, während zugleich die
Gründung eines kurdischen Nationalstaates heute realistischer denn je geworden
ist, wie sich am »Kurdischen
Autonomiegebiet« in Nordirak zeigt.
Kurdistan: Ein Satellitenstaat
des türkischen Regionalimperialismus?
Bezeichnenderweise sind sowohl kurdische Nationalisten
als auch die türkische Regierung, die ja ansonsten penibel darauf achtet, das
Wort »Kurdistan« nicht auszusprechen, in ihren Positionen zum »Kurdischen
Autonomiegebiet« in Nordirak nahezu deckungsgleich: Während beide Seiten
Barsani und seine Behörde unterstützen, auch in deren Bestrebung, die kurdische
»Unabhängigkeit« auszurufen, lehnen beide Seiten die demokratischen
Autonomiestrukturen der syrischen Kurd*innen vehement ab. Verständlich wird
dies aber erst durch die Betrachtung des politisch-ökonomischen Hintergrunds.
Für große Teile des türkischen Kapitals hat sich das
kurdische Autonomiegebiet unter Barsani in eine wahre Goldgrube verwandelt.
Innerhalb eines Jahres (2011-2012) erhöhte sich das türkische Exportvolumen in
den Nordirak um 30 Prozent – damit ist Nordirak mit 11 Mrd. Dollar der
zweitgrößte türkische Exportmarkt nach Deutschland geworden. Bei einem gesamten
türkischen Exportvolumen von 134 Mrd. Dollar (Import: 240 Mrd. Dollar) sind das
immerhin über 8 Prozent. Die gesamte Infrastruktur des kurdischen
Autonomiegebiets wird von türkischen Firmen aufgebaut. Laut Haydar Mustafa
Said, Vorsitzender der Informationsabteilung der kurdischen
Investitionsbehörde, belegen die türkischen Investitionen im Nordirak den
Spitzenplatz und sind doppelt so hoch wie britische Investitionen, die den
zweiten Platz einnehmen [5]. 75 Prozent des Bausektors und 10 Prozent des
Energiesektors sind in der Hand von türkischen Firmen. Jeden Tag bringen rund
1.500 LKWs Waren aus der Türkei in den Nordirak.
Für türkische Investitionen ist Energie ein
Schlüsselbegriff. Im kurdischen Autonomiegebiet werden rund 45 Mrd. Barrel
Rohöl vermutet. Das sind rund 20 Prozent des gesamten Erdölvorkommens im Irak.
Laut derzeitiger Planungen sollen in den nächsten 4 Jahren im Nordirak täglich
1 Million Barrel Öl gefördert werden, was nach WTI-Preisen rund 33 Mrd. Dollar
Jahreseinnahmen entspricht [6]. Damit würde die kurdische Autonomiebehörde zum
24. größten Erdöllieferant der Welt aufsteigen. Das ist u. a. der Grund, warum
die größten türkischen Energiekonzerne wie Pet Holding, Genel Enerji oder
Türkerler Holding inzwischen mehrere Mrd. Dollar im Nordirak investiert und
weshalb die staatliche Pipelinegesellschaft der Türkei BOTAS schon 2008 mit dem
türkischen Erdölförderungsgesellschaft TPAO und Shell den Bau einer Pipeline
von Irak in die Türkei vertraglich vereinbart haben. Zudem soll laut einer
irakisch-türkischen Energievereinbarung vom 15. Oktober 2009, »mittelfristig 10
bis 12 Mrd. Kubikmeter Erdgas jährlich nach Europa transportiert werden« [7].
Die irakisch-türkische Pipeline Kirkuk-Yumurtalık kann diese Kapazitäten nicht
decken. Derzeit stellt sich als kostengünstigste Variante der Transport über
Syrien ans Mittelmeer dar. Für die Türkei hat diese Variante eine immense
Bedeutung: Zum einen kann sie das irakische Erdöl und Erdgas für den Eigenverbrauch
günstiger ausschöpfen, zum anderen aber eine Schlüsselrolle für den Transport
in den europäischen Markt einnehmen. Dies wiederum verschafft der Türkei
Vorteile gegenüber den Mitkonkurrentinnen USA und Israel. Ihre Position als
maßgeblicher Energieumschlagplatz würde gefestigt.
Darüber hinaus spielt der Nordirak für das sunnitische
Hegemonieprojekt der AKP-Regierung und der Golfkooperationsstaaten eine
besondere Rolle. Die schiitisch dominierte Zentralregierung des Irak ist sowohl
den türkischen Entscheidungsträgern als auch den sunnitischen Despoten am Golf
ein Dorn im Auge. Die prowestliche Haltung des Sunniten Barsani und dessen
wirtschaftliche Interessen machen ihn zum idealen Partner. Die sunnitischen
Despoten und die Türkei verfolgen zwei wesentliche Ziele: Zum einen wollen sie
den Einfluss der »Schiitischen Achse« (Iran, irakische Zentralregierung, das
Assad-Regime und die libanesische Hisbollah) zurückdrängen, zum anderen durch
die Verbindung von Bevölkerung, Energieressourcen und Kapitalkonzentration die
politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft in der
Region anstreben. Für diese Ziele sind sie, insbesondere die Türkei, bereit,
einen unabhängigen kurdischen Nationalstaat unter der Führung von Barsani zu
akzeptieren. Es ist auch im strategischen Interesse westlicher Staaten, wenn
die nordirakischen Erdölfelder unter der Kontrolle Barsanis stehen und in
Zusammenarbeit mit der Türkei die Förderung, der Transport und Vertrieb der
Energieträger sichergestellt wären.
Für Barsani, aber auch für die kurdische Bourgeoisie
im Irak und in der Türkei, die nun offen nationalstaatliche Bestrebungen
unterstützen, ist erstmals eine realistische Chance entstanden, als
unmittelbare Partner in die regionalen und globalen Strategien eingebunden zu
werden und davon zu profitieren. So erklären sich auch die Versuche von
Barsani, über seine Behörde die Autonomiebemühungen der syrischen Kurd*innen
mit aller Macht zu verhindern. Es geht um einen von der militärisch starken
Türkei kontrollierten Korridor in Nordsyrien, über den Erdöl und Erdgas aus
nordirakischen Feldern ans Mittelmeer transportiert werden kann. Daher hat
Barsani die Grenze zu Syrien, also zu Westkurdistan, sogar für humanitäre
Hilfen schließen lassen. So kann er die syrisch-kurdische Partei der
demokratischen Union (PYD) schwächen. Die PYD spricht sich gegen eine
militärische Intervention von außen aus und streitet für eine nichtmilitärische
innersyrische Lösung. Die politische Nähe der PYD zu Öcalan, ihre derzeit
aufgebauten bewaffneten Kräfte, mit deren Hilfe die Autonomiestrukturen in
Nordsyrien vor islamistischen Terrorgruppen geschützt werden, stellen für
Barsanis Interessen ein Hindernis dar. Aus diesem Grund unterstützt Barsani
jene kurdischen Parteien in Nordsyrien, die keinerlei Rückhalt in der
Bevölkerung haben. Anstatt die Freiheitsbemühungen der syrischen Kurd*innen zu
unterstützen, spekuliert Barsani auf die Zerschlagung der territorialen Einheit
Syriens und baut auf die Hilfe der Türkei.
Die kurdische Bourgeoisie macht sich derweil bereit
für die »neue Ordnung« in der Region. Sie ist sich der »Attraktivität« der
kurdischen Gebiete für das türkische und internationale Kapital durchaus
bewusst. Seit 2 Jahren berichten z.B. türkische Zeitungen, wie nationale und
internationale Firmen sich mit großen Investitionen in der Region auf die
Veränderungen vorbereiten. Die türkische Regierung unterstützt diese
Entwicklung mit Subventionen. Jede 100 Lira Investition wird mit 116,40 Lira
(Steuerbefreiungen, Zuschüsse, Investitionsgelder, Prämiennachlässe usw.)
staatlich gefördert. An den Arbeits- und Lebensbedingungen der dortigen
Bevölkerung ändert dies nichts, im Gegenteil: Kurdistan wird zum
Billiglohnparadies. Der Vorsitzende des Unternehmerverbands DGIAD, Toksan Kadooğlu, erläutert die »Vorzüge« der kurdischen Gebiete
für das Kapital wie folgt: »Die hohe Arbeitslosigkeit führt zu Vorteilen in den
Lohnkosten. Während in Istanbul ein Arbeiter mit 1.000,00 Lira entlohnt wird,
kann hier für die gleiche Arbeit 600,00 Lira bezahlt werden. Es ist von einem
Kostenvorteil von 30 bis 35 Prozent auszugehen.« [8] Daher versäumen es
regierungsnahe Medien nicht, immer wieder zu betonen: »Eine Türkei, die ihr
kurdisches Problem löst, wird Weltspitze.«
Schon 2006 hatte der ehem. US-Botschafter Peter
Galbraith in einem Interview vorausgesagt: »Ja, ein unabhängiges Kurdistan ist
unvermeidlich. (...) Die Kurden werden die engsten Verbündeten, sogar ein
Satellitenstaat der Türkei sein.« [9] Der gleiche Journalist, der Galbraith
interviewte, schrieb Ende Januar 2013 aus dem Nordirak, wie weit sich der
»Satellitenstaat« bereits entwickelt habe und hält etwaige Sorgen, dass sich
die Kurd*innen in der Türkei daran ein Beispiel nehmen könnten, für
unbegründet. Auch der Gouverneur Dr. Necmettin Kerim ist der Auffassung, dass
»ein unabhängiger kurdischer Staat unvermeidlich« sei, aber »die Türkei sich
deswegen keine Sorgen zu machen« brauche. Denn: »Jeder Staat muss sein eigenes
kurdisches Problem selbst lösen. Die Bedingungen sind überall anders. Z.B. in
Aserbaidschan: Nur weil im Iran viel mehr Aseris leben als im Aserbaidschan,
müssen sie nicht gleich nach Unabhängigkeit streben. Wer im Iran nicht leben
will, kann ja nach Aserbaidschan übersiedeln. Genau das gleiche gilt auch für
die Menschen im türkischen und irakischen Kurdistan«. [10]
Der Gouverneur lässt an Deutlichkeit nichts vermissen.
Seine Botschaft an die Kurd*innen in der Türkei ist klar: »Seid ruhig und beugt
euch eurem Schicksal. Wenn ihr in einem unabhängigen Kurdistan leben wollt,
müsst ihr hierher kommen«. Hieran wird deutlich: Beim ersten Anzeichen einer
nationalstaatlichen Gründung wird der Ausverkauf der »hehren Ziele« und des
»naturgegebenen Rechts aller Kurden« stattfinden.
Jegliches Bestreben nach Freiheit, Gleichberechtigung und dem Recht, das eigene
Leben selbstbestimmt zu gestalten, wird den »nationalen Interessen« der
kurdischen Bourgeoisie geopfert werden. Was sind soziale Gerechtigkeit,
Demokratie und Frieden schon wert, wenn für deren Ausverkauf ein vermeintlich
unabhängiges »Investorenparadies« Kurdistan zu gewinnen ist?
***
[1] Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und
Gewalt. Mezopotamien Verlags GmbH, Köln 2010, ISBN: 978-3-941012-20-2
[2] Siehe: www.serbesti.net/?id=2471,
27. Januar 2013
[3] Rosa Luxemburg: Nationalitätenfrage und
Autonomie, Herausgegeben von Holger Politt, Karl Dietz Verlag 2012, ISBN:
978-3-320-02274-7, S.60.
[4] Siehe: www.serbesti.net, 28. Januar 2013
[5] Selen Tonkus Kareem in der Zeitschrift des
Zentrums für strategische Studien im Nahen Osten (ORSAM) »Ortadoğu Analiz
Dergisi«, März 2012, Nr. 39, S. 22.
[6] WTI Rohöl Realtimekurs in Dollar je Barrel (159
Liter): 91,93 Dollar am 11. März 2013, um 15:30 Uhr. Siehe: www.boerse.de/rohstoffe/WTI-Rohoel/XD0015948363
[7] Siehe: www.botas.gov.tr/index.asp
[9] Siehe: Die Tageszeitung Vatan vom 26. Dezember
2006: http://rusencakir.com/Peter-Galbraith-Bagimsiz-bir-Kurt-devleti-Turkiyenin-uydusu-olur/665