Donnerstag, 18. April 2013

Eine kurdische Nation: Um welchen Preis?


Eine Intervention von Murat Çakır
Obwohl Militäroperationen unvermindert fortgeführt werden, die Opposition in der Türkei einer anhaltenden Repression ausgesetzt ist und Abdullah Öcalan weiterhin in Isolationshaft sitzt, haben die jüngsten Besuche von BDP-Abgeordneten auf Imralı teils euphorische Reaktionen in türkischen Medien ausgelöst. Kurze Gespräche mit Öcalan und die Übermittlung seiner Briefe an die PKK-Führung reichten dafür aus. Zumindest als PR-Coup ist die jüngste Stufe des Oslo-Prozesses ein großer Erfolg.

Nicht nur kritische Linke, auch kurdische Nationalisten betrachten dies mit großer Skepsis. Letztere beschäftigen sich allerdings prominent mit der Frage, wie ein mehr oder minder klassischer kurdischer Nationalstaat in der Region zu organisieren wäre. Zumindest suggeriert dies ein kurzer Blick in ihre Debatten:
Eine prominente Rolle spielt darin der türkische Soziologe İsmail Beşikçi. Beşikçi, der sich in der Forschung zur kurdischen Geschichte zweifelsohne große Verdienste erworben hat, wirft Öcalan und der kurdischen Bewegung »Verrat an der kurdischen Sache« vor. Mit Bezug auf Öcalans Verteidigungsschriften [1], in denen dieser sein Konzept eines »demokratischen Konföderalismus jenseits von Staat, Macht und Gewalt« vorstellt, meint Beşikçi, Öcalan begehe mit der Ablehnung eines unabhängigen kurdischen Nationalstaates einen großen Fehler. Ist dies wirklich ein großer Fehler?
Ein naturgegebenes Recht?
Beşikçi und seine Anhänger begründen ihre Forderung nach einem unabhängigen kurdischen Nationalstaat weder mit der historischen Entwicklung, noch mit materiellen Voraussetzungen, sondern alleine mit dem »naturgegebenen Recht von 50 Millionen Kurden, die von vier Kolonialstaaten unterjocht werden« [2]. Der junge Staat Kosovo dient dabei als Beweis für die Möglichkeit einer nationalstaatlichen Gründung auch im 21. Jahrhundert.
Da die kritische Literatur reich an Abhandlungen über die Entstehung der »Nation« ist, können auch kurdische Nationalisten, wie Recep Maraşlı, die Probleme eines kurdischen Nationalismus nicht ignorieren. So schreibt Maraşlı an Beşikçi:
»Ich teile Ihre Kritik vollständig. Aber es ist auch eine sehr wichtige Frage, welchen Weg die Kurden beim Aufbau des Nationalstaates verfolgen werden. Wie werden z.B., wenn ein solcher Nationalstaat aufgebaut ist, die Türken, Araber, Aramäer, Tscherkessen, Armenier innerhalb der Gefüge des kurdischen Nationalstaates einbezogen? (…) Es ist bekannt, dass Zwangsumsiedlungen, Massaker und Assimilierungspolitiken beim Aufbau von Nationalstaaten im Namen der Homogenisierung der Heimat legitimiert wurden. Wie können die Kurden ihren Nationalstaat aufbauen, ohne diese Verbrechen zu begehen?« [4]
Maraşlıs Fragen sind berechtigt. Doch seine Vorstellung, dass eben diese »Verbrechen durch einen inneren Föderalismus bzw. kantonale Staatsstrukturen verhindert« werden könnten, da der »kurdische Nationalstaat sowieso einen allumfassenden Nationalitätsbegriff haben« würde, bleibt ein frommer Wunsch.  Beşikçi wiederum ist der Auffassung, »jeder wisse, dass die Kurden so etwas nie machen würden«.
Wenn, wie Maraşlı meint, »die Beziehungen zwischen Nationen, die im gleichen Land leben, demokratisch und partizipativ gestaltet und so das nationalstaatliche Denken überwunden werden« können, stellt sich die Frage, warum dies nicht innerhalb der gegebenen nationalstaatlichen Grenzen verfolgt wird und stattdessen die Gründung eines kurdischen Nationalstaats erforderlich ist? Wenn das »Selbstbestimmungsrecht der Kurden« richtig und ein kurdischer Nationalstaat unverzichtbar sein soll, da die Kurd*innen sich dem »umfassenden Nationalitätsbegriff« der Türkei, des Irans, Iraks und von Syrien »nicht unterordnen wollen«, warum sollten dann arabische, aramäische, armenische oder türkische Ethnien, die in Kurdistan leben, diesem Recht auf Selbstbestimmung abschwören und sich einem »allumfassenden kurdischen Nationalstaat« unterordnen? Was, wenn sie sich, ebenso wie die Kurd*innen in den jeweils existierenden Staaten auch, der Unterordnung widersetzen? Wer könnte garantieren, dass ein kurdischer Nationalstaat nicht genau dieselben Verbrechen begeht wie zuvor die Türkei, der Iran, Irak oder Syrien?
Befriedigende Antworten auf solche Fragen werden weder von Beşikçi noch von Maraşlı oder anderen kurdischen Nationalisten geliefert. Denn die Gründung eines unabhängigen kurdischen Nationalstaats, den sie als »naturgegebenes Recht der Kurden« fordern, ist vom Charakter nichts anderes als der von ihnen verhasste bürgerliche Nationalstaat. Eben diesen wollen sie in der Türkei, im Iran, Irak und Syrien zerschlagen sehen, während zugleich die Gründung eines kurdischen Nationalstaates heute realistischer denn je geworden ist, wie sich am »Kurdischen Autonomiegebiet« in Nordirak zeigt.
Kurdistan: Ein Satellitenstaat des türkischen Regionalimperialismus?
Bezeichnenderweise sind sowohl kurdische Nationalisten als auch die türkische Regierung, die ja ansonsten penibel darauf achtet, das Wort »Kurdistan« nicht auszusprechen, in ihren Positionen zum »Kurdischen Autonomiegebiet« in Nordirak nahezu deckungsgleich: Während beide Seiten Barsani und seine Behörde unterstützen, auch in deren Bestrebung, die kurdische »Unabhängigkeit« auszurufen, lehnen beide Seiten die demokratischen Autonomiestrukturen der syrischen Kurd*innen vehement ab. Verständlich wird dies aber erst durch die Betrachtung des politisch-ökonomischen Hintergrunds.
Für große Teile des türkischen Kapitals hat sich das kurdische Autonomiegebiet unter Barsani in eine wahre Goldgrube verwandelt. Innerhalb eines Jahres (2011-2012) erhöhte sich das türkische Exportvolumen in den Nordirak um 30 Prozent – damit ist Nordirak mit 11 Mrd. Dollar der zweitgrößte türkische Exportmarkt nach Deutschland geworden. Bei einem gesamten türkischen Exportvolumen von 134 Mrd. Dollar (Import: 240 Mrd. Dollar) sind das immerhin über 8 Prozent. Die gesamte Infrastruktur des kurdischen Autonomiegebiets wird von türkischen Firmen aufgebaut. Laut Haydar Mustafa Said, Vorsitzender der Informationsabteilung der kurdischen Investitionsbehörde, belegen die türkischen Investitionen im Nordirak den Spitzenplatz und sind doppelt so hoch wie britische Investitionen, die den zweiten Platz einnehmen [5]. 75 Prozent des Bausektors und 10 Prozent des Energiesektors sind in der Hand von türkischen Firmen. Jeden Tag bringen rund 1.500 LKWs Waren aus der Türkei in den Nordirak.
Für türkische Investitionen ist Energie ein Schlüsselbegriff. Im kurdischen Autonomiegebiet werden rund 45 Mrd. Barrel Rohöl vermutet. Das sind rund 20 Prozent des gesamten Erdölvorkommens im Irak. Laut derzeitiger Planungen sollen in den nächsten 4 Jahren im Nordirak täglich 1 Million Barrel Öl gefördert werden, was nach WTI-Preisen rund 33 Mrd. Dollar Jahreseinnahmen entspricht [6]. Damit würde die kurdische Autonomiebehörde zum 24. größten Erdöllieferant der Welt aufsteigen. Das ist u. a. der Grund, warum die größten türkischen Energiekonzerne wie Pet Holding, Genel Enerji oder Türkerler Holding inzwischen mehrere Mrd. Dollar im Nordirak investiert und weshalb die staatliche Pipelinegesellschaft der Türkei BOTAS schon 2008 mit dem türkischen Erdölförderungsgesellschaft TPAO und Shell den Bau einer Pipeline von Irak in die Türkei vertraglich vereinbart haben. Zudem soll laut einer irakisch-türkischen Energievereinbarung vom 15. Oktober 2009, »mittelfristig 10 bis 12 Mrd. Kubikmeter Erdgas jährlich nach Europa transportiert werden« [7]. Die irakisch-türkische Pipeline Kirkuk-Yumurtalık kann diese Kapazitäten nicht decken. Derzeit stellt sich als kostengünstigste Variante der Transport über Syrien ans Mittelmeer dar. Für die Türkei hat diese Variante eine immense Bedeutung: Zum einen kann sie das irakische Erdöl und Erdgas für den Eigenverbrauch günstiger ausschöpfen, zum anderen aber eine Schlüsselrolle für den Transport in den europäischen Markt einnehmen. Dies wiederum verschafft der Türkei Vorteile gegenüber den Mitkonkurrentinnen USA und Israel. Ihre Position als maßgeblicher Energieumschlagplatz würde gefestigt.
Darüber hinaus spielt der Nordirak für das sunnitische Hegemonieprojekt der AKP-Regierung und der Golfkooperationsstaaten eine besondere Rolle. Die schiitisch dominierte Zentralregierung des Irak ist sowohl den türkischen Entscheidungsträgern als auch den sunnitischen Despoten am Golf ein Dorn im Auge. Die prowestliche Haltung des Sunniten Barsani und dessen wirtschaftliche Interessen machen ihn zum idealen Partner. Die sunnitischen Despoten und die Türkei verfolgen zwei wesentliche Ziele: Zum einen wollen sie den Einfluss der »Schiitischen Achse« (Iran, irakische Zentralregierung, das Assad-Regime und die libanesische Hisbollah) zurückdrängen, zum anderen durch die Verbindung von Bevölkerung, Energieressourcen und Kapitalkonzentration die politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft in der Region anstreben. Für diese Ziele sind sie, insbesondere die Türkei, bereit, einen unabhängigen kurdischen Nationalstaat unter der Führung von Barsani zu akzeptieren. Es ist auch im strategischen Interesse westlicher Staaten, wenn die nordirakischen Erdölfelder unter der Kontrolle Barsanis stehen und in Zusammenarbeit mit der Türkei die Förderung, der Transport und Vertrieb der Energieträger sichergestellt wären.
Für Barsani, aber auch für die kurdische Bourgeoisie im Irak und in der Türkei, die nun offen nationalstaatliche Bestrebungen unterstützen, ist erstmals eine realistische Chance entstanden, als unmittelbare Partner in die regionalen und globalen Strategien eingebunden zu werden und davon zu profitieren. So erklären sich auch die Versuche von Barsani, über seine Behörde die Autonomiebemühungen der syrischen Kurd*innen mit aller Macht zu verhindern. Es geht um einen von der militärisch starken Türkei kontrollierten Korridor in Nordsyrien, über den Erdöl und Erdgas aus nordirakischen Feldern ans Mittelmeer transportiert werden kann. Daher hat Barsani die Grenze zu Syrien, also zu Westkurdistan, sogar für humanitäre Hilfen schließen lassen. So kann er die syrisch-kurdische Partei der demokratischen Union (PYD) schwächen. Die PYD spricht sich gegen eine militärische Intervention von außen aus und streitet für eine nichtmilitärische innersyrische Lösung. Die politische Nähe der PYD zu Öcalan, ihre derzeit aufgebauten bewaffneten Kräfte, mit deren Hilfe die Autonomiestrukturen in Nordsyrien vor islamistischen Terrorgruppen geschützt werden, stellen für Barsanis Interessen ein Hindernis dar. Aus diesem Grund unterstützt Barsani jene kurdischen Parteien in Nordsyrien, die keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung haben. Anstatt die Freiheitsbemühungen der syrischen Kurd*innen zu unterstützen, spekuliert Barsani auf die Zerschlagung der territorialen Einheit Syriens und baut auf die Hilfe der Türkei.
Die kurdische Bourgeoisie macht sich derweil bereit für die »neue Ordnung« in der Region. Sie ist sich der »Attraktivität« der kurdischen Gebiete für das türkische und internationale Kapital durchaus bewusst. Seit 2 Jahren berichten z.B. türkische Zeitungen, wie nationale und internationale Firmen sich mit großen Investitionen in der Region auf die Veränderungen vorbereiten. Die türkische Regierung unterstützt diese Entwicklung mit Subventionen. Jede 100 Lira Investition wird mit 116,40 Lira (Steuerbefreiungen, Zuschüsse, Investitionsgelder, Prämiennachlässe usw.) staatlich gefördert. An den Arbeits- und Lebensbedingungen der dortigen Bevölkerung ändert dies nichts, im Gegenteil: Kurdistan wird zum Billiglohnparadies. Der Vorsitzende des Unternehmerverbands DGIAD, Toksan Kadooğlu, erläutert die »Vorzüge« der kurdischen Gebiete für das Kapital wie folgt: »Die hohe Arbeitslosigkeit führt zu Vorteilen in den Lohnkosten. Während in Istanbul ein Arbeiter mit 1.000,00 Lira entlohnt wird, kann hier für die gleiche Arbeit 600,00 Lira bezahlt werden. Es ist von einem Kostenvorteil von 30 bis 35 Prozent auszugehen.« [8] Daher versäumen es regierungsnahe Medien nicht, immer wieder zu betonen: »Eine Türkei, die ihr kurdisches Problem löst, wird Weltspitze.«
Schon 2006 hatte der ehem. US-Botschafter Peter Galbraith in einem Interview vorausgesagt: »Ja, ein unabhängiges Kurdistan ist unvermeidlich. (...) Die Kurden werden die engsten Verbündeten, sogar ein Satellitenstaat der Türkei sein.« [9] Der gleiche Journalist, der Galbraith interviewte, schrieb Ende Januar 2013 aus dem Nordirak, wie weit sich der »Satellitenstaat« bereits entwickelt habe und hält etwaige Sorgen, dass sich die Kurd*innen in der Türkei daran ein Beispiel nehmen könnten, für unbegründet. Auch der Gouverneur Dr. Necmettin Kerim ist der Auffassung, dass »ein unabhängiger kurdischer Staat unvermeidlich« sei, aber »die Türkei sich deswegen keine Sorgen zu machen« brauche. Denn: »Jeder Staat muss sein eigenes kurdisches Problem selbst lösen. Die Bedingungen sind überall anders. Z.B. in Aserbaidschan: Nur weil im Iran viel mehr Aseris leben als im Aserbaidschan, müssen sie nicht gleich nach Unabhängigkeit streben. Wer im Iran nicht leben will, kann ja nach Aserbaidschan übersiedeln. Genau das gleiche gilt auch für die Menschen im türkischen und irakischen Kurdistan«. [10]
Der Gouverneur lässt an Deutlichkeit nichts vermissen. Seine Botschaft an die Kurd*innen in der Türkei ist klar: »Seid ruhig und beugt euch eurem Schicksal. Wenn ihr in einem unabhängigen Kurdistan leben wollt, müsst ihr hierher kommen«. Hieran wird deutlich: Beim ersten Anzeichen einer nationalstaatlichen Gründung wird der Ausverkauf der »hehren Ziele« und des »naturgegebenen Rechts aller Kurden« stattfinden. Jegliches Bestreben nach Freiheit, Gleichberechtigung und dem Recht, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten, wird den »nationalen Interessen« der kurdischen Bourgeoisie geopfert werden. Was sind soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden schon wert, wenn für deren Ausverkauf ein vermeintlich unabhängiges »Investorenparadies« Kurdistan zu gewinnen ist?

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[1] Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt. Mezopotamien Verlags GmbH, Köln 2010, ISBN: 978-3-941012-20-2
[2] Siehe: www.serbesti.net/?id=2471, 27. Januar 2013
[3] Rosa Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, Herausgegeben von Holger Politt, Karl Dietz Verlag 2012, ISBN: 978-3-320-02274-7, S.60.
[4] Siehe: www.serbesti.net, 28. Januar 2013
[5] Selen Tonkus Kareem in der Zeitschrift des Zentrums für strategische Studien im Nahen Osten (ORSAM) »Ortadoğu Analiz Dergisi«, März 2012, Nr. 39, S. 22.
[6] WTI Rohöl Realtimekurs in Dollar je Barrel (159 Liter): 91,93 Dollar am 11. März 2013, um 15:30 Uhr. Siehe: www.boerse.de/rohstoffe/WTI-Rohoel/XD0015948363