Die kurdische Bewegung hat Frauen politisch mobilisiert und ihnen den Weg zu einer emanzipativen Transformation patriarchaler Strukturen eröffnet. Die aktive Beteiligung von Frauen geschieht jedoch zu bestimmten Bedingungen. Denn nur wer kämpft, ist in die Erzählung der Bewegung integriert. Während die nationale Dimension der kurdischen Frage heute eine dominante Rolle in der kurdischen Erzählung einnimmt, ist die Klassendimension – trotz einer verschärften Klassenspaltung der kurdischen Bevölkerung – in den Hintergrund getreten.
Die erfolgreiche Mobilisierung von Frauen stellt
eine Besonderheit der kurdischen Bewegung dar. Aus weiter zurückliegenden
kurdischen Aufständen erfahren wir zwar auch von beteiligten Frauen, es waren jedoch
wenige und zumeist Angehörige – wie Ehefrauen oder Töchter – der rebellierenden
Führungskräfte. Die Beteiligung von Frauen an der kurdischen Bewegung hat nach
1980 dagegen eine Dimension angenommen, die die Geschlechterverhältnisse der gesamten
Bewegung prägt. In den 1990er Jahren gingen viele Frauen zur Guerilla in die
Berge, um am bewaffneten Kampf teilzunehmen, während andere den Weg in die
legalen politischen Parteien fanden, in deren Gremien sie einflussreiche
Positionen einnahmen. Sie wurden zu Bürgermeisterinnen und
Parlamentsabgeordneten gewählt. Daneben ist es ihnen gelungen, die Gleichstellung
von Frauen betreffende Belange auf die politische Agenda der Bewegung zu heben.
Im Folgenden wird die politische Partizipation von kurdischen Frauen im
Zusammenspiel mit den Besonderheiten der Bewegung näher betrachtet.
Die vergeschlechtlichte Dimension von Staat und
Nation
Obgleich einzelne Fälle von Nationalstaatsbildung
unterschiedliche Verlaufsformen annehmen, besteht ihre Gemeinsamkeit darin, dass
die Herausbildung nationaler Identitäten zugleich ein vergeschlechtlichter
Prozess ist. Dabei werden Frauen gewisse Rollen oder Missionen auferlegt: Als
kulturelle und biologische Reproduzentinnen der Nation, als Trägerinnen einer
authentischen Kultur, zur Markierung der Differenz gegenüber anderen Nationen.
In manchen Fällen wird ihnen auch eine aktive Beteiligung am Prozess der
Nationalstaatsbildung zugesprochen. All dies hat mit dem konstruierten
Charakter einer „Nation“ tun, der die Vorstellung von Einzigartigkeit im
Unterschied zu den „Anderen“ sowie von einer in sich homogenen Gemeinschaft
beinhaltet. Soziale Geschlechterkonstruktionen, Frauen- und Männerrollen kommen
insbesondere bei der Herstellung von Differenz zu den „Anderen“ ins Spiel. Das
Verständnis von Nation und die Unterschiede zu den „Anderen“ sind mit der
Definition von Weiblichkeit, Männlichkeit und Familie verwoben.
Aus post-kolonialen Staatsbildungsprozessen ist
bekannt, dass diese Definitionen durch das angestrebte Staatsprojekt bestimmt
sind. Wenn bspw. die Bildung eines modernen Staates angestrebt wird, müssen
auch Frauen als Bedeutungsträgerinnen dieser Modernität positioniert werden. Die
Familie, Heiratsregelungen, die Kindererziehung und ähnliche Dinge werden
entlang des staatlichen Herrschaftsprojekts neu reguliert. Frauen stehen
unvermeidlich im Zentrum solcher Regulierungen. Post-koloniale feministische
Analysen heben hervor, dass solche Regulierungen neben positiven Resultaten,
wie auf gegenseitiger Übereinkunft beruhende Eheschließungen, Zugang zu Bildung
und professionellen Berufen für Frauen, oftmals unsichtbare Belastungen für
Frauen bergen. Sicherlich ist die Geschichte nicht so einseitig. Obgleich
Frauen nicht die Urheberinnen solcher Regulierungen und nationaler Szenarien
sind, sind sie auch nicht vollkommen passiv. Die Erfüllung der ihnen
zugewiesenen Rollen kann Teil eines patriarchalen Handels sein.
Im popularen Diskurs der kurdischen Bewegung
erscheint zwar von Zeit zu Zeit die Figur der „leidenden Mutter“, die mit der
„Heimat“ gleichgesetzt wird. Dennoch erscheinen Frauen auf der ideologischen
Ebene gerade nicht als Trägerinnen einer authentischen Kultur, als kulturelle
und biologische Reproduzentinnen der Nation oder als mit dem „Heimatboden“
identifizierte und von den Männern der Nation zu schützende passive Körper.
Stattdessen treten sie als aktiv Beteiligte am Prozess der
Nationalstaatsbildung hervor. Die Bewegung setzte sich von Beginn an das Ziel,
Frauen aus Heim und Familie zu lösen. Sowohl das linke, auf Geschlechtergleichheit
beruhende politische Programm als auch die Mobilisierungsstrategie machten dies
notwendig.
Beteiligung
von Frauen: Ideologie und Mobilisierungsstrategie
Kurdische Aufstände zu Beginn des 20. Jahrhunderts
wurden unter der Ägide traditioneller kurdischer Herrscher vorwiegend über
Stammesbeziehungen und religiöse Symbole geführt. Indes ging die im letzten
Viertel des 20. Jahrhunderts in Erscheinung tretende neue kurdische Bewegung
aus den sich proletarisierenden armen Gesellschaftsschichten hervor. Dieser
Wandel geht auf die kapitalistische Modernisierung zurück, die die
sozioökonomische Struktur der kurdischen Gesellschaft veränderte. Diese
Entwicklung hat sich auf den Klassencharakter der kurdischen Opposition sowie
auf deren politisch-ideologische Eigenschaften ausgewirkt. Im politischen
Projekt der neuen kurdischen Bewegung, die sich in einer linken säkularen
Konjunktur herausbildete, finden sich Forderungen der werktätigen Klassen
ebenso wie eine auf Geschlechtergleichheit zielende Perspektive. Dieses
Programm erwuchs aus der kritischen Haltung gegenüber der Ungleichheit von
Frauen in der kurdischen Gesellschaft.
Die Mobilisierungsstrategie sah dagegen vor, Frauen aus den auferlegten Zwängen
von Heim und Herd zu lösen. Die kurdische Bewegung initiierte eine breite
Kampagne gegen die patriarchalen Hindernisse, die der Beteiligung von Frauen
entgegen standen, insbesondere gegen die über den Körper von Frauen definierte
„Ehre“. Ab Anfang der 1990er Jahre zeitigte diese Kampagne erste Erfolge. Frauen
konnten sich offen an politischen Aktivitäten beteiligen, ohne an der Barriere
„Ehre“ zu scheitern.
Sich
wandelnde Frauenbilder: Kämpferin und Göttin
In den 1980er Jahren lässt sich beobachten, dass
im Zuge gesamtgesellschaftlicher Umbrüche auch die Frauenbilder im Diskurs der
kurdischen Bewegung einem Wandel unterliegen. Nach dem Militärputsch vom 12.
September 1980 tritt bspw. die vor den Gefängnistoren stehende „leidende
Mutter“ hervor. Dieses Bild ist einerseits direkter Ausdruck des Erlebten. Andererseits
wurde es als die Quintessenz des erlebten Leids schlechthin herausgestrichen
und in Umlauf gebracht. In den 1990er Jahren treten dann die „politische Frau“
und die „kämpferische Frau“ auf den Plan. Auch das basiert auf realem
Geschehen. Die von der Aktivistin und Politikerin Leyla Zana symbolisierte
politische Frau tritt auf die Bühne. Zur gleichen Zeit gehen Tausende Frauen in
die Berge, um sich der Guerilla anzuschließen. Die Figur „Weggefährtin Frau“
war Ausdruck dieser Beteiligung und demonstrierte zugleich die von der Bewegung
verfolgte Mission und ihren Gesellschaftsentwurf.
Eine weitere Figur ist die Figur der „Göttin“. Dem
Umstand, dass eine Figur aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit
hervorgeholt, gar wie aus dem Nichts im Dienste der nationalen Identität
erschaffen wird, begegnen wir häufiger im geographischen Raum zwischen Indien
und dem Iran. Im Prozess einer neuen kurdischen Identitätsbildung nimmt die
„Göttin“ eine symbolische Bedeutung ein und dient gleichzeitig der Mobilisierung.
Die „Göttin“ glorifiziert die Frauen auf der symbolischen Ebene, während sie
auf der praktischen Ebene eine Einladung zur stärkeren Aufopferung darstellt.
Bedingungen
der Beteiligung von Frauen
Es lässt sich also feststellen, dass der auf
Gleichheit beruhende ideologische Diskurs und die auf die Partizipation von
Frauen zielende Mobilisierungsstrategie den Weg für deren aktive Teilnahme am
Prozess ebneten. Allerdings ist diese Beteiligung an Bedingungen geknüpft, die
bestimmte Grenzen ziehen. Auf die Übertretung dieser Grenzen folgen Sanktionen
wie Nichtbeachtung, dem Vergessen anheim fallen lassen, Ausschluss aus der
nationalen Erzählung. Zu diesen Bedingungen gehört an allererster Stelle das
„Geschlechtslosmachen“. “Keuschheit“, das Setzen von Liebe zum Land an die
Stelle weltlicher Liebe, Kämpfen und Siegen als Voraussetzung fürs
Geliebtwerden sind weitere Bedingungen. Schließlich gehört „Wer kämpft, wird
frei; wer frei wird, wird schön; wer schön wird, wird geliebt“ zu einem der am
meisten in Umlauf gebrachten Slogans der kurdischen Bewegung. In meiner
Monographie „Mütter Weggefährtinnen Göttinnen“ (Analar Yoldaşlar Tanrıçalar)
arbeite ich heraus, inwiefern Frauen diese Identitäten und die ihnen
zugrundeliegenden Bedingungen nicht aufgezwungen wurden, es sich vielmehr um
eine bewusste und freiwillige Aneignung handelt. Diese Identitäten versprechen
kurdischen Frauen nämlich individuelle Unabhängigkeit und ermöglicht ihnen auf
diese Weise Selbstverwirklichung.
Dynamiken der Aktivierung
Es lassen sich drei grundlegende Dynamiken
identifizieren, durch die kurdische Frauen mobilisiert wurden: Erstens das durch
die Leugnung der kurdischen Sprache und Identität hervorgerufene Leid und die
damit verknüpften heftigen Kämpfe, mit denen die Räumung ganzer Siedlungen und
schwere Menschenrechtsverletzungen einhergingen. Zweitens der ideologische
Diskurs der Bewegung, der dem von den Einzelnen erfahrenen Leid eine neue
Bedeutung verlieh, es zur Motivationsquelle für politische Aktivierung machte
und Frauen zur Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Prozessen
ermutigte. Und schließlich drittens die transformierende Kraft der von den
Frauen selbst ausgeübten Tat, ihrer Praxis.
Zwischen der Beteiligung kurdischer Frauen an der
Bewegung und ihren Charakteristika besteht ein wechselseitiges Verhältnis. Der
Diskurs der Bewegung hat den Weg für die Teilnahme von Frauen geebnet, was
wiederum den Diskurs selbst verändert und seine Grenzen verschoben hat. So auch
in der Praxis. Zum jetzigen Zeitpunkt zeichnen die Beteiligung von Frauen und
der erreichte Repräsentationsgrad ein Gesamtbild, mit dem die Bewegung in höchstem
Maße zufrieden ist. Erreicht wurde dies unter schwierigen Bedingungen mit viel
Mühe und Tatkraft von Frauen. Solange kein Widerspruch zwischen der
übergeordneten politischen Agenda der Bewegung und der Agenda der Frauen
entsteht, steht den Frauen nichts im Wege. Andernfalls kommt es zu Spannungen
um die Frage, welcher Agenda an welchen Punkten Priorität verliehen werden
soll.
Fehlende Klassendimension
Die kurdische Bewegung war ursprünglich ein
Sprachrohr für die Forderungen der untersten Schichten der kurdischen
Gesellschaft. In den Gründungsjahren der Bewegung wurden die
großgrundbesitzenden Clans und das feudale Ağa-System zu Feinden erklärt. Mit
der Zeit wurde der klassenbasierte aber durch einen identitätsbasierten Diskurs
ersetzt. Zwar bilden auch heute noch die armen Gesellschaftsschichten die
breite Basis der Bewegung. Doch von einigen Ausnahmen abgesehen, werden
klassenbasierte Forderungen nicht erhoben, soziale Gerechtigkeit wird nicht
betont. Nicht anders verhält es sich in der kurdischen Frauenbewegung. Hierfür
können verständliche Gründe angeführt werden. Solange die mit der kurdischen
Identität zusammenhängenden Probleme andauern und Ereignisse wie Roboski [1]
stattfinden, werden identitätsbasierte Forderungen vermutlich alle anderen
Forderungen überlagern. So führten Kurden und Kurdinnen Roboski nicht auf ihre
Klassenposition, auf ihr Geschlecht oder ihre Glaubensrichtung zurück, sondern
auf ihr Kurdischsein. Solche Umstände können Klassenunterschiede und
-widersprüche überdecken. Dies ist auch ein Handicap. Wobei die Klassenspaltung
in der kurdischen Bevölkerung sich in den letzten Jahren vertieft hat. Zusammen
mit Şemsa Özar und Ayşe Tepe habe ich in Istanbul eine Feldforschung im
Hinblick auf die Situation von zur Migration aus dem kurdischen Südosten der
Türkei gezwungenen kurdischen Frauen durchgeführt. Insbesondere junge Frauen
arbeiteten in kleinen Textilklitschen zu sehr niedrigen Löhnen unter extrem
harten Bedingungen. Es kommt jedoch so gut wie nie vor, dass diese Bedingungen
thematisiert werden. Ähnliches gilt für Erntehelfer und -helferinnen. Oder auf
dem Bau. Das sind Sektoren, die überwiegend von armen kurdischen Werktätigen
getragen werden. Daneben gibt es natürlich auch wohl situierte Kurden und
Kurdinnen, schließlich ist die kurdische Gesellschaft nicht homogen. Vermutlich
können klassenbasierte Themen erst dann aufkommen, wenn die allgemeine Repression
aufhört – von ihr scheinen alle gleichermaßen betroffen – und eine
Normalisierung des Alltags eintritt und die Demokratisierung in der Türkei
weiter vorangetrieben wird.
[1] Im Dezember 2011 bombadierten türkische Kampfflugzeuge einen Konvoi
von kurdischen Schmugglern an der Grenze zwischen der Türkei und dem Irak, in
der Nähe des Ortes Roboski. Dabei wurden 34 Menschen getötet. Das türkische
Militär behauptete im Einklang mit der Regierung, dass es die Schmuggler für
Guerillas gehalten habe. Der Tathergang ließ jedoch starke Zweifel an dieser
Aussage aufkommen.