Donnerstag, 18. April 2013

Politische Beteiligung kurdischer Frauen in der Türkei

Von Handan Çağlayan

Die kurdische Bewegung hat Frauen politisch mobilisiert und ihnen den Weg zu einer emanzipativen Transformation patriarchaler Strukturen eröffnet. Die aktive Beteiligung von Frauen geschieht jedoch zu bestimmten Bedingungen. Denn nur wer kämpft, ist in die Erzählung der Bewegung integriert. Während die nationale Dimension der kurdischen Frage heute eine dominante Rolle in der kurdischen Erzählung einnimmt, ist die Klassendimension – trotz einer verschärften Klassenspaltung der kurdischen Bevölkerung – in den Hintergrund getreten.


Die erfolgreiche Mobilisierung von Frauen stellt eine Besonderheit der kurdischen Bewegung dar. Aus weiter zurückliegenden kurdischen Aufständen erfahren wir zwar auch von beteiligten Frauen, es waren jedoch wenige und zumeist Angehörige – wie Ehefrauen oder Töchter – der rebellierenden Führungskräfte. Die Beteiligung von Frauen an der kurdischen Bewegung hat nach 1980 dagegen eine Dimension angenommen, die die Geschlechterverhältnisse der gesamten Bewegung prägt. In den 1990er Jahren gingen viele Frauen zur Guerilla in die Berge, um am bewaffneten Kampf teilzunehmen, während andere den Weg in die legalen politischen Parteien fanden, in deren Gremien sie einflussreiche Positionen einnahmen. Sie wurden zu Bürgermeisterinnen und Parlamentsabgeordneten gewählt. Daneben ist es ihnen gelungen, die Gleichstellung von Frauen betreffende Belange auf die politische Agenda der Bewegung zu heben. Im Folgenden wird die politische Partizipation von kurdischen Frauen im Zusammenspiel mit den Besonderheiten der Bewegung näher betrachtet.

Die vergeschlechtlichte Dimension von Staat und Nation
Obgleich einzelne Fälle von Nationalstaatsbildung unterschiedliche Verlaufsformen annehmen, besteht ihre Gemeinsamkeit darin, dass die Herausbildung nationaler Identitäten zugleich ein vergeschlechtlichter Prozess ist. Dabei werden Frauen gewisse Rollen oder Missionen auferlegt: Als kulturelle und biologische Reproduzentinnen der Nation, als Trägerinnen einer authentischen Kultur, zur Markierung der Differenz gegenüber anderen Nationen. In manchen Fällen wird ihnen auch eine aktive Beteiligung am Prozess der Nationalstaatsbildung zugesprochen. All dies hat mit dem konstruierten Charakter einer „Nation“ tun, der die Vorstellung von Einzigartigkeit im Unterschied zu den „Anderen“ sowie von einer in sich homogenen Gemeinschaft beinhaltet. Soziale Geschlechterkonstruktionen, Frauen- und Männerrollen kommen insbesondere bei der Herstellung von Differenz zu den „Anderen“ ins Spiel. Das Verständnis von Nation und die Unterschiede zu den „Anderen“ sind mit der Definition von Weiblichkeit, Männlichkeit und Familie verwoben.
Aus post-kolonialen Staatsbildungsprozessen ist bekannt, dass diese Definitionen durch das angestrebte Staatsprojekt bestimmt sind. Wenn bspw. die Bildung eines modernen Staates angestrebt wird, müssen auch Frauen als Bedeutungsträgerinnen dieser Modernität positioniert werden. Die Familie, Heiratsregelungen, die Kindererziehung und ähnliche Dinge werden entlang des staatlichen Herrschaftsprojekts neu reguliert. Frauen stehen unvermeidlich im Zentrum solcher Regulierungen. Post-koloniale feministische Analysen heben hervor, dass solche Regulierungen neben positiven Resultaten, wie auf gegenseitiger Übereinkunft beruhende Eheschließungen, Zugang zu Bildung und professionellen Berufen für Frauen, oftmals unsichtbare Belastungen für Frauen bergen. Sicherlich ist die Geschichte nicht so einseitig. Obgleich Frauen nicht die Urheberinnen solcher Regulierungen und nationaler Szenarien sind, sind sie auch nicht vollkommen passiv. Die Erfüllung der ihnen zugewiesenen Rollen kann Teil eines patriarchalen Handels sein.
Im popularen Diskurs der kurdischen Bewegung erscheint zwar von Zeit zu Zeit die Figur der „leidenden Mutter“, die mit der „Heimat“ gleichgesetzt wird. Dennoch erscheinen Frauen auf der ideologischen Ebene gerade nicht als Trägerinnen einer authentischen Kultur, als kulturelle und biologische Reproduzentinnen der Nation oder als mit dem „Heimatboden“ identifizierte und von den Männern der Nation zu schützende passive Körper. Stattdessen treten sie als aktiv Beteiligte am Prozess der Nationalstaatsbildung hervor. Die Bewegung setzte sich von Beginn an das Ziel, Frauen aus Heim und Familie zu lösen. Sowohl das linke, auf Geschlechtergleichheit beruhende politische Programm als auch die Mobilisierungsstrategie machten dies notwendig.

Beteiligung von Frauen: Ideologie und Mobilisierungsstrategie
Kurdische Aufstände zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden unter der Ägide traditioneller kurdischer Herrscher vorwiegend über Stammesbeziehungen und religiöse Symbole geführt. Indes ging die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in Erscheinung tretende neue kurdische Bewegung aus den sich proletarisierenden armen Gesellschaftsschichten hervor. Dieser Wandel geht auf die kapitalistische Modernisierung zurück, die die sozioökonomische Struktur der kurdischen Gesellschaft veränderte. Diese Entwicklung hat sich auf den Klassencharakter der kurdischen Opposition sowie auf deren politisch-ideologische Eigenschaften ausgewirkt. Im politischen Projekt der neuen kurdischen Bewegung, die sich in einer linken säkularen Konjunktur herausbildete, finden sich Forderungen der werktätigen Klassen ebenso wie eine auf Geschlechtergleichheit zielende Perspektive. Dieses Programm erwuchs aus der kritischen Haltung gegenüber der Ungleichheit von Frauen in der kurdischen  Gesellschaft. Die Mobilisierungsstrategie sah dagegen vor, Frauen aus den auferlegten Zwängen von Heim und Herd zu lösen. Die kurdische Bewegung initiierte eine breite Kampagne gegen die patriarchalen Hindernisse, die der Beteiligung von Frauen entgegen standen, insbesondere gegen die über den Körper von Frauen definierte „Ehre“. Ab Anfang der 1990er Jahre zeitigte diese Kampagne erste Erfolge. Frauen konnten sich offen an politischen Aktivitäten beteiligen, ohne an der Barriere „Ehre“ zu scheitern.

Sich wandelnde Frauenbilder: Kämpferin und Göttin
In den 1980er Jahren lässt sich beobachten, dass im Zuge gesamtgesellschaftlicher Umbrüche auch die Frauenbilder im Diskurs der kurdischen Bewegung einem Wandel unterliegen. Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 tritt bspw. die vor den Gefängnistoren stehende „leidende Mutter“ hervor. Dieses Bild ist einerseits direkter Ausdruck des Erlebten. Andererseits wurde es als die Quintessenz des erlebten Leids schlechthin herausgestrichen und in Umlauf gebracht. In den 1990er Jahren treten dann die „politische Frau“ und die „kämpferische Frau“ auf den Plan. Auch das basiert auf realem Geschehen. Die von der Aktivistin und Politikerin Leyla Zana symbolisierte politische Frau tritt auf die Bühne. Zur gleichen Zeit gehen Tausende Frauen in die Berge, um sich der Guerilla anzuschließen. Die Figur „Weggefährtin Frau“ war Ausdruck dieser Beteiligung und demonstrierte zugleich die von der Bewegung verfolgte Mission und ihren Gesellschaftsentwurf.
Eine weitere Figur ist die Figur der „Göttin“. Dem Umstand, dass eine Figur aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit hervorgeholt, gar wie aus dem Nichts im Dienste der nationalen Identität erschaffen wird, begegnen wir häufiger im geographischen Raum zwischen Indien und dem Iran. Im Prozess einer neuen kurdischen Identitätsbildung nimmt die „Göttin“ eine symbolische Bedeutung ein und dient gleichzeitig der Mobilisierung. Die „Göttin“ glorifiziert die Frauen auf der symbolischen Ebene, während sie auf der praktischen Ebene eine Einladung zur stärkeren Aufopferung darstellt.

Bedingungen der Beteiligung von Frauen
Es lässt sich also feststellen, dass der auf Gleichheit beruhende ideologische Diskurs und die auf die Partizipation von Frauen zielende Mobilisierungsstrategie den Weg für deren aktive Teilnahme am Prozess ebneten. Allerdings ist diese Beteiligung an Bedingungen geknüpft, die bestimmte Grenzen ziehen. Auf die Übertretung dieser Grenzen folgen Sanktionen wie Nichtbeachtung, dem Vergessen anheim fallen lassen, Ausschluss aus der nationalen Erzählung. Zu diesen Bedingungen gehört an allererster Stelle das „Geschlechtslosmachen“. “Keuschheit“, das Setzen von Liebe zum Land an die Stelle weltlicher Liebe, Kämpfen und Siegen als Voraussetzung fürs Geliebtwerden sind weitere Bedingungen. Schließlich gehört „Wer kämpft, wird frei; wer frei wird, wird schön; wer schön wird, wird geliebt“ zu einem der am meisten in Umlauf gebrachten Slogans der kurdischen Bewegung. In meiner Monographie „Mütter Weggefährtinnen Göttinnen“ (Analar Yoldaşlar Tanrıçalar) arbeite ich heraus, inwiefern Frauen diese Identitäten und die ihnen zugrundeliegenden Bedingungen nicht aufgezwungen wurden, es sich vielmehr um eine bewusste und freiwillige Aneignung handelt. Diese Identitäten versprechen kurdischen Frauen nämlich individuelle Unabhängigkeit und ermöglicht ihnen auf diese Weise Selbstverwirklichung.

Dynamiken der Aktivierung
Es lassen sich drei grundlegende Dynamiken identifizieren, durch die kurdische Frauen mobilisiert wurden: Erstens das durch die Leugnung der kurdischen Sprache und Identität hervorgerufene Leid und die damit verknüpften heftigen Kämpfe, mit denen die Räumung ganzer Siedlungen und schwere Menschenrechtsverletzungen einhergingen. Zweitens der ideologische Diskurs der Bewegung, der dem von den Einzelnen erfahrenen Leid eine neue Bedeutung verlieh, es zur Motivationsquelle für politische Aktivierung machte und Frauen zur Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Prozessen ermutigte. Und schließlich drittens die transformierende Kraft der von den Frauen selbst ausgeübten Tat, ihrer Praxis.

Zwischen der Beteiligung kurdischer Frauen an der Bewegung und ihren Charakteristika besteht ein wechselseitiges Verhältnis. Der Diskurs der Bewegung hat den Weg für die Teilnahme von Frauen geebnet, was wiederum den Diskurs selbst verändert und seine Grenzen verschoben hat. So auch in der Praxis. Zum jetzigen Zeitpunkt zeichnen die Beteiligung von Frauen und der erreichte Repräsentationsgrad ein Gesamtbild, mit dem die Bewegung in höchstem Maße zufrieden ist. Erreicht wurde dies unter schwierigen Bedingungen mit viel Mühe und Tatkraft von Frauen. Solange kein Widerspruch zwischen der übergeordneten politischen Agenda der Bewegung und der Agenda der Frauen entsteht, steht den Frauen nichts im Wege. Andernfalls kommt es zu Spannungen um die Frage, welcher Agenda an welchen Punkten Priorität verliehen werden soll.

Fehlende Klassendimension
Die kurdische Bewegung war ursprünglich ein Sprachrohr für die Forderungen der untersten Schichten der kurdischen Gesellschaft. In den Gründungsjahren der Bewegung wurden die großgrundbesitzenden Clans und das feudale Ağa-System zu Feinden erklärt. Mit der Zeit wurde der klassenbasierte aber durch einen identitätsbasierten Diskurs ersetzt. Zwar bilden auch heute noch die armen Gesellschaftsschichten die breite Basis der Bewegung. Doch von einigen Ausnahmen abgesehen, werden klassenbasierte Forderungen nicht erhoben, soziale Gerechtigkeit wird nicht betont. Nicht anders verhält es sich in der kurdischen Frauenbewegung. Hierfür können verständliche Gründe angeführt werden. Solange die mit der kurdischen Identität zusammenhängenden Probleme andauern und Ereignisse wie Roboski [1] stattfinden, werden identitätsbasierte Forderungen vermutlich alle anderen Forderungen überlagern. So führten Kurden und Kurdinnen Roboski nicht auf ihre Klassenposition, auf ihr Geschlecht oder ihre Glaubensrichtung zurück, sondern auf ihr Kurdischsein. Solche Umstände können Klassenunterschiede und -widersprüche überdecken. Dies ist auch ein Handicap. Wobei die Klassenspaltung in der kurdischen Bevölkerung sich in den letzten Jahren vertieft hat. Zusammen mit Şemsa Özar und Ayşe Tepe habe ich in Istanbul eine Feldforschung im Hinblick auf die Situation von zur Migration aus dem kurdischen Südosten der Türkei gezwungenen kurdischen Frauen durchgeführt. Insbesondere junge Frauen arbeiteten in kleinen Textilklitschen zu sehr niedrigen Löhnen unter extrem harten Bedingungen. Es kommt jedoch so gut wie nie vor, dass diese Bedingungen thematisiert werden. Ähnliches gilt für Erntehelfer und -helferinnen. Oder auf dem Bau. Das sind Sektoren, die überwiegend von armen kurdischen Werktätigen getragen werden. Daneben gibt es natürlich auch wohl situierte Kurden und Kurdinnen, schließlich ist die kurdische Gesellschaft nicht homogen. Vermutlich können klassenbasierte Themen erst dann aufkommen, wenn die allgemeine Repression aufhört – von ihr scheinen alle gleichermaßen betroffen – und eine Normalisierung des Alltags eintritt und die Demokratisierung in der Türkei weiter vorangetrieben wird.


[1] Im Dezember 2011 bombadierten türkische Kampfflugzeuge einen Konvoi von kurdischen Schmugglern an der Grenze zwischen der Türkei und dem Irak, in der Nähe des Ortes Roboski. Dabei wurden 34 Menschen getötet. Das türkische Militär behauptete im Einklang mit der Regierung, dass es die Schmuggler für Guerillas gehalten habe. Der Tathergang ließ jedoch starke Zweifel an dieser Aussage aufkommen.