Von
Fehim Taştekin
Was für die Allianz des Westens mit den Golfstaaten
der „Fall Aleppos“ ist, ist für andere die „Befreiung Aleppos“. Währenddessen ist
die Türkei, die die Patenschaft für die Dschihadisten in Aleppo übernommen
hatte, mit einem Bumerang-Effekt konfrontiert. Der Abzug aus Aleppo hat viele
Kämpfer frei gesetzt, für die eine neue Verwendung gesucht wird.
Rund um Aleppo fand ein großer Sturm statt, angefangen
mit den menschlichen Tragödien. Wenn es um die Menschlichkeit geht, sollte es
eigentlich keine zwei Meinungen geben. Doch leider ist das nicht der Fall. Natürlich
sollte uns jedes Leben berühren, das in diesem Krieg verloren wurde. Jeder
Krieg hat eine humanitäre Dimension, die nicht übergangen oder gering geschätzt
werden darf. Doch dürfen wir aufgrund unseres Mitgefühls zulassen, dass wir für
dumm verkauft oder geblendet werden?
Es ist höchst entrüstend, dass diejenigen, die arglistig
diesen Krieg betreiben, über ihre Stellvertreter Öl ins Feuer gießen, zusehen
wie Städte ausgeplündert werden, die, um einen Interventionsgrund zu
fabrizieren, nicht davor zurückschrecken, chemische Waffen einzusetzen und hemmungslos
dschihadistische Gruppen finanzieren, gleichzeitig meisterhaft ihre Krokodilstränen
zur Schau stellen.
Aleppo
ist gefallen! Aleppo wurde gerettet!
Einige müssen über ihre eigenen Verbrechen einen
dicken Schleier legen. Aleppo war der Ort, an dem ihr Spielchen endete, wo die
Masken gefallen sind. Das ist der Grund, weshalb sie die UNO anriefen, die
Straßen in Bewegung setzten und die Schlagzeilen in rote Tinte tauchten.
Humanitäre Sorgen sind für viele Parteien nur eine
Maske. Wer fragt danach, woher die Sympathie des Westens mit Al-Kaida herrührt?
Lassen wir die Aufregung der Scheiche aus den Golfstaaten, die die dschihadistischen
Gruppen als ein außenpolitisches Instrument benutzen, mal beiseite. Doch was soll
man zu den Abendländern sagen, die aufgrund der Niederlage von Al-Kaida, seiner
Ableger und Verbündeten in Aleppo bestürzt sind? Sind Zivilisten wirklich ihre Sorge?
Warum verlieren sie dann kein Wort über die Massaker der Saudis im Jemen? Warum
unterstützen sie dann die Al-Nusra-Front, die Ahrar al-Scham und die Nureddin
Zengi, die mit den Raketen, die sie in Gebiete unter Regierungskontrolle
schießen, täglich Leben vernichten? Haben allein die Fassbomben Aleppo zerstört?
Was soll man zu den Aposteln einer Zivilisation sagen, die Dschihadisten beistehen,
die historische Gebäude in die Luft jagen und daraus Propagandafilme drehen?
Krieg tötet, zerstört und korrumpiert. Aus diesem
Grund ist es grundlegend, gegen den Krieg zu sein. Aufrichtigkeit erfordert,
nicht Öl ins Feuer zu gießen, sondern alles zu tun, um den Krieg aufzuhalten. Es
sei auch empfohlen, den eigenen Standpunkt nicht für absolut zu halten. Was für
die eine Seite ein „revolutionärer Krieg“ ist, ist für die andere Seite die
„Verteidigung des Heimatlandes“. Was für die Allianz des Westens mit den
Golfstaaten der „Fall Aleppos“ ist, ist für Syrien die „Befreiung Aleppos“.
Aufrichtigkeit erfordert, die trotz zweifelhafter
Informationsquellen ausgesprochene Warnung eines UN-Offiziellen, die
eingekesselten Zivilisten in Ost-Aleppo würden massakriert werden, genauso
ernst zu nehmen, wie den Bericht der UN-Untersuchungskommission zu Syrien,
wonach die Oppositionellen Zivilisten am Verlassen Ost-Aleppos hindern und sie
zu menschlichen Schutzschilden machen.
Aufrichtigkeit erfordert, neben der Situation in Ost-Aleppo
wahrzunehmen, dass die vom Westen und den Golfstaaten unterstützten Gruppen
fortdauernd die von ihnen eingekesselten Gemeinden Fua und Kefraya mit Raketen
beschießen. Aufrichtigkeit erfordert auch, zu berichten, dass Zivilisten, die
Ost-Aleppo verlassen wollen, von Milizionären beschossen werden.
Vor langer Zeit habe ich auf die Verderbnis in Syrien hingewiesen:
„Zuerst wurde die Wahrheit geopfert“. Vor jeder UN-Sicherheitsratssitzung, vor
jedem Rendezvous der Freunde Syriens, vor jedem Treffen in Genf wurden in Lügen
verpackte grausame Spielchen aufgeführt. Dass das Ende dieses Spiels besonders
lautes Getöse auslöst, verwundert daher nicht.
Der Regimewechsel in Syrien sollte über Aleppo laufen,
nun fand dieses Ansinnen sein Ende in Aleppo. Aleppo sollte für die Allianz des
Westens mit den Golfstaaten die Hauptstadt der Revolution werden. Die Rolle,
die Bengasi in Libyen spielte, sollte in Syrien Aleppo einnehmen. Doch die
Bürger von Aleppo haben die Pseudorevolutionäre nicht mit offenen Armen
empfangen. Sie hatten die salafistischen Dschihadisten, die zwischen 1977 und 1982
einen Konfessionskrieg betrieben hatten, Menschen entführten und ihnen die
Gliedmaßen abtrennten, nicht vergessen.
Die
Chiffren der Niederlage
Obwohl die Operation in Aleppo nicht neu gestartet
worden war, warum wurde die internationale Öffentlichkeit erst im letzten Akt
mit der Behauptung von Massakern und Vergewaltigungen in Aufruhr versetzt?
Offensichtlich sind einige mit dem blutigen Pokerspiel
in Syrien noch nicht fertig. Dass der US-Präsident Barack Obama, kurz vor seinem
Abtritt, dem Haushaltsentwurf für 2017 nebenbei ein Gesetz hinzufügte, das
erlaubt, der Opposition hochentwickelte Waffen zu liefern, ist ein Zeichen.
Derweil versuchen diejenigen, die ihr Spiel beenden
müssen, den Bumerang-Effekt zu minimieren. Es ist klar, wen der Bumerang treffen
wird: die Türkei. Ein Trümmerhaufen rückt immer näher auf das Land zu.
Die Niederlage in Aleppo verlief parallel zu zwei
Ereignissen. Die Türkei, die sich in einer außenpolitischen Sackgasse befand,
musste sich mit Russland einigen, um neuen Spielraum zu gewinnen. Als der Staatspräsident
Tayyip Erdoğan an die Tür des russischen Präsidenten Vladimir Putin klopfte, um
eine neue Seite in den Beziehungen aufzuschlagen, musste er dies mit einem
Kurswechsel in Syrien bezahlen. Den Verbündeten in Syrien, für die Erdoğan
einst seine Hand ins Feuer gelegt hatte, die gemeinsam mit dem CIA ausgebildet
und ausgerüstet worden waren, die logistische Hilfe erhalten hatten, musste
Einhalt geboten werden.
Die Einstellung der Hilfe war nicht genug. Erdoğan verpflichtete
sich gegenüber Putin, dafür zu sorgen, dass die Al-Nusra-Front aus Aleppo abzieht.
Als die von ehemaligen Al-Kaida-Mitgliedern gegründete Ahrar al-Scham, die der
Türkei nahesteht, sich auf Geheiß zurückzog, konnte die Al-Nusra-Front alleine nicht
durchhalten. Es wird nicht lange dauern, bis sich diese Aktion der Türkei auf
die dschihadistische Front auswirken wird.
Das zweite Ereignis, das parallel zur Niederlage in
Aleppo verlief, war der Wechsel der Richtung und der Ziele des Krieges durch
die Türkei. Die Zerschlagung Rojavas, der Autonomie-Region, die von KurdInnen gemeinsam
mit Arabern, Assyrerinnen, Chaldäern, Armenierinnen, Tschetschenen, Tscherkessinnen
und Turkmenen gegründet worden war, erhielt Priorität. Mit der türkischen
Militäroffensive in Syrien wurden Kapazitäten aus Aleppo abgezogen und nach
Al-Bab verschoben. Das schwächte die Aleppo-Front. Aus diesem Grund machen
einige die Türkei für ihre Niederlage in Aleppo verantwortlich [1].
Wer
nimmt die restlichen Kämpfer?
Anscheinend möchte Ankara seine Rolle beim Debakel in
Aleppo nicht nur verheimlichen, sondern noch einen Vorteil daraus ziehen. Diejenigen,
die bisher mit den Worten „Wenn Aleppo fällt, fliehen mindestens 500.000
Menschen an unsere Grenze“ Angst geschürt haben, führen nun eine neue Kampagne:
„Öffnet die Tore für Aleppo, lasst die Menschen kommen“. Etwa 100.000
evakuierte Zivilisten sind natürlich nicht in die Türkei gegangen, das werden
sie auch nicht tun. Die syrische Regierung hat für sie ein separates Camp errichtet.
Die Behauptung, bis zu 600.000 Menschen hätten bis zuletzt in Ost-Aleppo
ausgeharrt, war ohnehin manipulativ.
Der eigentliche Punkt drehte sich um die Evakuierung
der bewaffneten Milizen und ihrer Familien aus Aleppo. Bei Evakuierungen aus
anderen Gebieten wurden Dschihadisten nach Idlib gebracht. Das Problem ist, dass
Idlib das Zentrum des Emirats der Al-Nusra-Front ist. Die sieht es zwar gerne,
wenn sich gleichgesinnte Milizen ihr anschließen, doch mit konkurrierenden
Organisationen will sie ihr Emirat nicht teilen.
Während die Türkei Verhandlungen mit Russland und dem
Iran zur Evakuierung der Milizen führte, war bestechend, dass sie sich als
„Retterin der Zivilisten“ präsentierte. Ankaras Sorge bestand aber darin, die Kämpfer,
die aus Aleppo herauskamen, in die türkische Militäroffensive zu integrieren.
Es ist unwahrscheinlich, dass alle Kämpfer diesem Plan folgen werden. Viele hatten
den Sturz Assads zum Ziel und waren nicht losgezogen, um den IS oder Rojava zu bekämpfen.
Für einige ist der Kampf nun zu Ende. Es wird von Hunderten berichtet, die ihre
Waffen niedergelegt haben. Aber diejenigen Dschihadisten, die aus einer starken
ideologischen Überzeugung heraus in den Kampf gezogen sind, werden ihre eigene
Agenda weiterverfolgen. Das ist das eigentliche Problem.
Kurz, Erdoğan hatte 2012 verkündet, die „Einwohner“ Aleppos,
als die er die angekarrten Dschihadisten bezeichnete, würden Assad die
notwendige Antwort geben. Nun zieht er die Kämpfer zurück. Welche Verwendung
hat er für sie? Aktuelle Adresse ist die türkische Militäroffensive in Syrien.
Und danach? Der Krieg wurde in Aleppo nicht beendet. Assad hat Aleppo nicht
gegen Idlib, Azaz oder Al-Bab eingetauscht. Wenn diese Gebiete an die Reihe
kommen, wohin werden die zehntausenden Milizionäre dann evakuiert?
_________________________________
[1] Anm. d. Red.: Eine Auswirkung könnte die Ermordung
des russischen Botschafters in Ankara durch einen türkischen Polizisten, der
offenbar Anhänger der Al-Nusra-Front war, gewesen sein.
Fehim Taştekin ist Journalist. Er schreibt u.a. für die
Websites Al-Monitor und Gazete Duvar.
Dieser Artikel basiert auf einer Veröffentlichung in
Gazete Duvar vom 16.12.2016 und wurde von Infobrief Türkei aus dem Türkischen
übersetzt.