Donnerstag, 26. Januar 2017

Das Debakel von Aleppo und seine Effekte

Von Fehim Taştekin

Was für die Allianz des Westens mit den Golfstaaten der „Fall Aleppos“ ist, ist für andere die „Befreiung Aleppos“. Währenddessen ist die Türkei, die die Patenschaft für die Dschihadisten in Aleppo übernommen hatte, mit einem Bumerang-Effekt konfrontiert. Der Abzug aus Aleppo hat viele Kämpfer frei gesetzt, für die eine neue Verwendung gesucht wird.


Rund um Aleppo fand ein großer Sturm statt, angefangen mit den menschlichen Tragödien. Wenn es um die Menschlichkeit geht, sollte es eigentlich keine zwei Meinungen geben. Doch leider ist das nicht der Fall. Natürlich sollte uns jedes Leben berühren, das in diesem Krieg verloren wurde. Jeder Krieg hat eine humanitäre Dimension, die nicht übergangen oder gering geschätzt werden darf. Doch dürfen wir aufgrund unseres Mitgefühls zulassen, dass wir für dumm verkauft oder geblendet werden?

Es ist höchst entrüstend, dass diejenigen, die arglistig diesen Krieg betreiben, über ihre Stellvertreter Öl ins Feuer gießen, zusehen wie Städte ausgeplündert werden, die, um einen Interventionsgrund zu fabrizieren, nicht davor zurückschrecken, chemische Waffen einzusetzen und hemmungslos dschihadistische Gruppen finanzieren, gleichzeitig meisterhaft ihre Krokodilstränen zur Schau stellen.

Aleppo ist gefallen! Aleppo wurde gerettet!

Einige müssen über ihre eigenen Verbrechen einen dicken Schleier legen. Aleppo war der Ort, an dem ihr Spielchen endete, wo die Masken gefallen sind. Das ist der Grund, weshalb sie die UNO anriefen, die Straßen in Bewegung setzten und die Schlagzeilen in rote Tinte tauchten.

Humanitäre Sorgen sind für viele Parteien nur eine Maske. Wer fragt danach, woher die Sympathie des Westens mit Al-Kaida herrührt? Lassen wir die Aufregung der Scheiche aus den Golfstaaten, die die dschihadistischen Gruppen als ein außenpolitisches Instrument benutzen, mal beiseite. Doch was soll man zu den Abendländern sagen, die aufgrund der Niederlage von Al-Kaida, seiner Ableger und Verbündeten in Aleppo bestürzt sind? Sind Zivilisten wirklich ihre Sorge? Warum verlieren sie dann kein Wort über die Massaker der Saudis im Jemen? Warum unterstützen sie dann die Al-Nusra-Front, die Ahrar al-Scham und die Nureddin Zengi, die mit den Raketen, die sie in Gebiete unter Regierungskontrolle schießen, täglich Leben vernichten? Haben allein die Fassbomben Aleppo zerstört? Was soll man zu den Aposteln einer Zivilisation sagen, die Dschihadisten beistehen, die historische Gebäude in die Luft jagen und daraus Propagandafilme drehen?

Krieg tötet, zerstört und korrumpiert. Aus diesem Grund ist es grundlegend, gegen den Krieg zu sein. Aufrichtigkeit erfordert, nicht Öl ins Feuer zu gießen, sondern alles zu tun, um den Krieg aufzuhalten. Es sei auch empfohlen, den eigenen Standpunkt nicht für absolut zu halten. Was für die eine Seite ein „revolutionärer Krieg“ ist, ist für die andere Seite die „Verteidigung des Heimatlandes“. Was für die Allianz des Westens mit den Golfstaaten der „Fall Aleppos“ ist, ist für Syrien die „Befreiung Aleppos“.

Aufrichtigkeit erfordert, die trotz zweifelhafter Informationsquellen ausgesprochene Warnung eines UN-Offiziellen, die eingekesselten Zivilisten in Ost-Aleppo würden massakriert werden, genauso ernst zu nehmen, wie den Bericht der UN-Untersuchungskommission zu Syrien, wonach die Oppositionellen Zivilisten am Verlassen Ost-Aleppos hindern und sie zu menschlichen Schutzschilden machen.

Aufrichtigkeit erfordert, neben der Situation in Ost-Aleppo wahrzunehmen, dass die vom Westen und den Golfstaaten unterstützten Gruppen fortdauernd die von ihnen eingekesselten Gemeinden Fua und Kefraya mit Raketen beschießen. Aufrichtigkeit erfordert auch, zu berichten, dass Zivilisten, die Ost-Aleppo verlassen wollen, von Milizionären beschossen werden.

Vor langer Zeit habe ich auf die Verderbnis in Syrien hingewiesen: „Zuerst wurde die Wahrheit geopfert“. Vor jeder UN-Sicherheitsratssitzung, vor jedem Rendezvous der Freunde Syriens, vor jedem Treffen in Genf wurden in Lügen verpackte grausame Spielchen aufgeführt. Dass das Ende dieses Spiels besonders lautes Getöse auslöst, verwundert daher nicht.

Der Regimewechsel in Syrien sollte über Aleppo laufen, nun fand dieses Ansinnen sein Ende in Aleppo. Aleppo sollte für die Allianz des Westens mit den Golfstaaten die Hauptstadt der Revolution werden. Die Rolle, die Bengasi in Libyen spielte, sollte in Syrien Aleppo einnehmen. Doch die Bürger von Aleppo haben die Pseudorevolutionäre nicht mit offenen Armen empfangen. Sie hatten die salafistischen Dschihadisten, die zwischen 1977 und 1982 einen Konfessionskrieg betrieben hatten, Menschen entführten und ihnen die Gliedmaßen abtrennten, nicht vergessen.

Die Chiffren der Niederlage

Obwohl die Operation in Aleppo nicht neu gestartet worden war, warum wurde die internationale Öffentlichkeit erst im letzten Akt mit der Behauptung von Massakern und Vergewaltigungen in Aufruhr versetzt?

Offensichtlich sind einige mit dem blutigen Pokerspiel in Syrien noch nicht fertig. Dass der US-Präsident Barack Obama, kurz vor seinem Abtritt, dem Haushaltsentwurf für 2017 nebenbei ein Gesetz hinzufügte, das erlaubt, der Opposition hochentwickelte Waffen zu liefern, ist ein Zeichen.

Derweil versuchen diejenigen, die ihr Spiel beenden müssen, den Bumerang-Effekt zu minimieren. Es ist klar, wen der Bumerang treffen wird: die Türkei. Ein Trümmerhaufen rückt immer näher auf das Land zu.

Die Niederlage in Aleppo verlief parallel zu zwei Ereignissen. Die Türkei, die sich in einer außenpolitischen Sackgasse befand, musste sich mit Russland einigen, um neuen Spielraum zu gewinnen. Als der Staatspräsident Tayyip Erdoğan an die Tür des russischen Präsidenten Vladimir Putin klopfte, um eine neue Seite in den Beziehungen aufzuschlagen, musste er dies mit einem Kurswechsel in Syrien bezahlen. Den Verbündeten in Syrien, für die Erdoğan einst seine Hand ins Feuer gelegt hatte, die gemeinsam mit dem CIA ausgebildet und ausgerüstet worden waren, die logistische Hilfe erhalten hatten, musste Einhalt geboten werden.

Die Einstellung der Hilfe war nicht genug. Erdoğan verpflichtete sich gegenüber Putin, dafür zu sorgen, dass die Al-Nusra-Front aus Aleppo abzieht. Als die von ehemaligen Al-Kaida-Mitgliedern gegründete Ahrar al-Scham, die der Türkei nahesteht, sich auf Geheiß zurückzog, konnte die Al-Nusra-Front alleine nicht durchhalten. Es wird nicht lange dauern, bis sich diese Aktion der Türkei auf die dschihadistische Front auswirken wird.

Das zweite Ereignis, das parallel zur Niederlage in Aleppo verlief, war der Wechsel der Richtung und der Ziele des Krieges durch die Türkei. Die Zerschlagung Rojavas, der Autonomie-Region, die von KurdInnen gemeinsam mit Arabern, Assyrerinnen, Chaldäern, Armenierinnen, Tschetschenen, Tscherkessinnen und Turkmenen gegründet worden war, erhielt Priorität. Mit der türkischen Militäroffensive in Syrien wurden Kapazitäten aus Aleppo abgezogen und nach Al-Bab verschoben. Das schwächte die Aleppo-Front. Aus diesem Grund machen einige die Türkei für ihre Niederlage in Aleppo verantwortlich [1].

Wer nimmt die restlichen Kämpfer?

Anscheinend möchte Ankara seine Rolle beim Debakel in Aleppo nicht nur verheimlichen, sondern noch einen Vorteil daraus ziehen. Diejenigen, die bisher mit den Worten „Wenn Aleppo fällt, fliehen mindestens 500.000 Menschen an unsere Grenze“ Angst geschürt haben, führen nun eine neue Kampagne: „Öffnet die Tore für Aleppo, lasst die Menschen kommen“. Etwa 100.000 evakuierte Zivilisten sind natürlich nicht in die Türkei gegangen, das werden sie auch nicht tun. Die syrische Regierung hat für sie ein separates Camp errichtet. Die Behauptung, bis zu 600.000 Menschen hätten bis zuletzt in Ost-Aleppo ausgeharrt, war ohnehin manipulativ.

Der eigentliche Punkt drehte sich um die Evakuierung der bewaffneten Milizen und ihrer Familien aus Aleppo. Bei Evakuierungen aus anderen Gebieten wurden Dschihadisten nach Idlib gebracht. Das Problem ist, dass Idlib das Zentrum des Emirats der Al-Nusra-Front ist. Die sieht es zwar gerne, wenn sich gleichgesinnte Milizen ihr anschließen, doch mit konkurrierenden Organisationen will sie ihr Emirat nicht teilen.

Während die Türkei Verhandlungen mit Russland und dem Iran zur Evakuierung der Milizen führte, war bestechend, dass sie sich als „Retterin der Zivilisten“ präsentierte. Ankaras Sorge bestand aber darin, die Kämpfer, die aus Aleppo herauskamen, in die türkische Militäroffensive zu integrieren. Es ist unwahrscheinlich, dass alle Kämpfer diesem Plan folgen werden. Viele hatten den Sturz Assads zum Ziel und waren nicht losgezogen, um den IS oder Rojava zu bekämpfen. Für einige ist der Kampf nun zu Ende. Es wird von Hunderten berichtet, die ihre Waffen niedergelegt haben. Aber diejenigen Dschihadisten, die aus einer starken ideologischen Überzeugung heraus in den Kampf gezogen sind, werden ihre eigene Agenda weiterverfolgen. Das ist das eigentliche Problem.

Kurz, Erdoğan hatte 2012 verkündet, die „Einwohner“ Aleppos, als die er die angekarrten Dschihadisten bezeichnete, würden Assad die notwendige Antwort geben. Nun zieht er die Kämpfer zurück. Welche Verwendung hat er für sie? Aktuelle Adresse ist die türkische Militäroffensive in Syrien. Und danach? Der Krieg wurde in Aleppo nicht beendet. Assad hat Aleppo nicht gegen Idlib, Azaz oder Al-Bab eingetauscht. Wenn diese Gebiete an die Reihe kommen, wohin werden die zehntausenden Milizionäre dann evakuiert?

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[1] Anm. d. Red.: Eine Auswirkung könnte die Ermordung des russischen Botschafters in Ankara durch einen türkischen Polizisten, der offenbar Anhänger der Al-Nusra-Front war, gewesen sein.


Fehim Taştekin ist Journalist. Er schreibt u.a. für die Websites Al-Monitor und Gazete Duvar.

Dieser Artikel basiert auf einer Veröffentlichung in Gazete Duvar vom 16.12.2016 und wurde von Infobrief Türkei aus dem Türkischen übersetzt.