Von
Sinan Birdal
Bedeutet die Moskauer Abmachung, dass
die Türkei sich von der NATO lösen und einem Bündnis mit Russland, China und
dem Iran anschließen wird? Wie stabil ist die Kriegskoalition der AKP
angesichts der Fraktionierung in den Sicherheitsapparaten? Und welche Folgen
hätte eine mögliche Annäherung zwischen den USA und Russland für die AKP?
Im März 2002 hielt der
Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats, Armeegeneral Tuncer Kılınç,
einen Vortrag auf dem von der Militärakademie in Istanbul ausgerichteten
Symposium Wie kann ein Friedensgürtel um
die Türkei gebildet werden? Die Türkei, so seine These, erhalte keinerlei
Hilfestellung von der EU und müsse sich deshalb Russland und dem Iran zuwenden.
Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe: Ein türkischer General, dafür bekannt,
die längste Dienstzeit in der NATO-Kommandantur verbracht zu haben, schlug
einen radikalen Kurswechsel in der Bündnispolitik des Landes vor.
Der damalige Ministerpräsident von
der Demokratischen Linkspartei DSP, Bülent Ecevit, „Veteran des Zypern-Feldzugs
von 1974“, sah sich genötigt, folgende Erklärung abzugeben:
„Der verehrte General mag eine
private Meinung haben. Wie die USA und der Iran zusammengebracht werden sollen,
erschließt sich mir aber nicht. Das hat er als persönliche Meinung geäußert.
Momentan verlaufen die Beziehungen zur EU gut. Falls es in der Zukunft zu
ernsthaften Problemen kommen sollte, dann kann man entsprechend vorsorgen. Aber
momentan gibt es dazu keinen Anlass.“
Atlantische
Islamisten gegen Eurasier
Zu diesem Zeitpunkt war die
Ecevit-Regierung bereits angezählt. In seinem Buch Ankara’da Irak Savaşları (‚Irak-Kriege in Ankara‘) erzählt der
Journalist Fikret Bila, wie durch die Unterstützung der USA und des Verbands
des Großkapitals TÜSİAD für die neu gebildete AKP die ohnehin schwächelnde
Ecevit-Regierung zu wackeln begann. Der Aufstieg der AKP geht mit der
Entmachtung des anti-westlichen „Bannerträgers“ Necmettin Erbakan einher, der
den politischen Islam über drei Jahrzehnte angeführt hatte [1]. Um dessen
Schicksal – einem Sturz durch die Generäle – zu entkommen, holte sich die AKP die
Rückendeckung des ‚Westens‘, dem sie sich andiente. Einige Jahre später, als
die AKP etwas fester im Sattel saß, sollten der General Kılınç und seine
Mitstreiter im Rahmen der Ergenekon-Prozesse unter dem Vorwurf eines
Putschversuchs verhaftet werden.
Ein von Wikileaks 2011
veröffentlichter, im Jahr 2003 vom US-Botschafter in Ankara verfasster Report gewährt
Einblicke, welche Einschätzung die USA zu dieser Zeit von der türkischen Armee
hatten. In dem Report mit dem Titel The
Turkish General Staff: A fractious and sullen political coalition (‚Der
türkische Generalstab: Eine uneinige und mürrische politische Koalition‘)
werden drei Fraktionen beschrieben: Die Atlantiker, die Nationalisten und die
Eurasier.
Dem Report zufolge wird die
eurasische Neigung durch die Ansicht genährt, die Türkei wie auch Russland würden
vom Westen unterdrückt werden, ohne dass die Träger dieser Ansicht wirklich begriffen
hätten, dass eine eurasische Orientierung die Akzeptanz einer Dominanz
Russlands bedinge. Eine weitere Überzeugung der Eurasier sei, dass ein Bündnis
mit Russland auch ohne eine Demokratisierung der Türkei auskomme [2]. Aktuell befänden
sich die Eurasier in einer Koalition mit den Nationalisten [3]. Der
Generalstabschef Hilmi Özkök sei Atlantiker, während Yaşar Büyükanıt, Aytaç
Yalman, Çetin Doğan, Fevzi Türkeri, Şener Eruygur, Köksal Karabay und der
eingangs genannte Tuncer Kılınç zu den opponierenden eurasischen/nationalistischen
Generälen zählten.
Die Verhaftung der „opponierenden
Generäle“ ab 2007 sollte von der AKP als Sieg des zivilen Willens und der
Demokratie präsentiert werden. Nicht verhaftet wurde aber der in der
Zwischenzeit zum Generalstabschef aufgestiegene Yaşar Büyükanıt, der 2006 den
„Atlantiker“ Özkök abgelöst hatte. Das am 5. Mai 2007 zwischen Büyükanıt und
dem damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan erfolgte Treffen, das
für viel Wirbel sorgte und dessen Inhalt bis heute geheim geblieben ist,
stellte sich als Wendepunkt dar. Obgleich Büyükanıt bekannt gegeben hatte, dass
er persönlich das im Vorfeld der Präsidentenwahl 2007 auf der Website des
Generalstabs veröffentlichte Schreiben (das sogenannte
E(lektronische)-Memorandum) verfasst hatte, das weithin als Ultimatum an die
AKP verstanden wurde, von ihrem Kandidaten Abdullah Gül abzusehen, blieb er von
jeder Anschuldigung während der Ergenekon-Prozesse verschont. Ertuğrul Kürkçü,
der später Parlamentsabgeordneter der HDP werden sollte, bewertete damals das
Treffen zwischen Erdoğan und Büyükanıt als Auftakt für ein Bündnis zwischen Militär und Islamisten. Heute wissen wir auch,
dass die verhafteten eurasischen/nationalistischen Offiziere durch nachrückende
gülenistische Offiziere ersetzt wurden.
Eurasische
Islamisten gegen Atlantiker
Die Orientierung am Westen bildete
die geostrategische Grundlage des Bündnisses. Die Unterstützung des Westens ermöglichte
der AKP, die Staatsapparate unter ihre Kontrolle zu bringen. Ungefähr zehn Jahr
später hat sich diese Gleichung offensichtlich aufgelöst. Die Bedingung zur
Kontrolle der Staatsapparate scheint heute in einer eurasischen Orientierung,
in einem Bündnis der AKP mit den Eurasiern zu liegen [4]. In diesem Rahmen sollte
die kürzlich getroffene Moskauer Abmachung zwischen Russland, dem Iran und der Türkei
bezüglich der weiteren Entwicklung des Krieges in Syrien bewertet werden. Die
treibende Dynamik hinter dem außenpolitischen Richtungswechsel, den die Türkei im
Rahmen der Abmachung vornimmt, beruht auf der innenpolitischen Konstellation.
Die Abmachung kann wohl als
bedeutendster Erfolg der Eurasier seit dem Ende des Kalten Kriegs bewertet
werden. Doch welche Aussicht hat das eurasische Unterfangen? Bedeutet die
Moskauer Abmachung, dass die Türkei sich von der NATO lösen und einem
alternativen Bündnis mit Russland, China und dem Iran anschließen wird? Wie
stabil ist ein Bündnis mit eurasischen Kadern, die vor nicht allzu langer Zeit
von der AKP eingebuchtet worden waren? Wie sehr werden sich die beiden Lager
vertrauen können?
Beginnen wir mit der letzten Frage:
Wie die Beziehung zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung eindrücklich aufgezeigt
hat, ist kein Bündnispartner vertrauenswürdig, kein Bündnis hält ewig, egal wie
gesichert es ideologisch erscheint und wie stark die internationale
Unterstützung ist. Die Bedeutung gefestigter Institutionen und von Regelwerken
wie Verfassungen für das Funktionieren eines politischen Systems ist durch
diese Unberechenbarkeit begründet. Indes scheinen die AKP-Kader, deren Wurzeln
in den Klientelnetzwerken von Kommunalverwaltungen liegen, immer noch nicht
begriffen zu haben, dass eine an wechselhafte Tagesinteressen geknüpfte Machtverteilung
permanente Instabilität hervorruft. Vielleicht haben sie das aber auch zu gut
begriffen. Es ist davon auszugehen, dass die Eurasier nach Mechanismen
verlangen, die ihnen das Schicksal der Gülenisten erspart. So stellt der
Verfassungsdeal, den die MHP mit der AKP eingegangen ist, einen bestimmten Teil
der Eurasier nicht zufrieden. Der Perinçek-Flügel fordert zur Absicherung und
zum Ausbau seines neu erworbenen Status in den Sicherheitsapparaten eine
nationale Mobilmachung, die der Verhängung des Kriegsrechts entspricht [zur
Person Doğu Perinçek siehe Verweis in Fußnote 3].
Die
kurdische Frage als gemeinsamer Nenner
Dass die Eurasier sich untereinander
nicht einig sind, auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage sie stehen
möchten, stärkt zunächst einmal die AKP. Hieraus folgt aber nicht, dass die AKP
den Werdegang problemlos wird kontrollieren können. Die Rückkehr zu einer
militärischen Lösung der kurdischen Frage bildet den gemeinsamen Nenner des
Bündnisses. Allerdings zerbrach auch das Bündnis mit den Gülenisten exakt an
diesem Punkt. Es waren nicht die Korruptionsermittlungen vom 17.-25. Dezember
2013, sondern die Vorladung des Geheimdienstchefs Hakan Fidan Anfang 2012 durch
Staatsanwälte des Gülen-Netzwerks, die den Bruch auslöste [5].
Zuvor hatten die Gülenisten ihre
Kritik am Oslo-Prozess – an den geheimen Verhandlungen zwischen der Regierung
und der PKK, die von 2009 bis 2011 in Oslo geführt wurden – verschärft. Sie
forderten zur Lösung der kurdischen Frage statt Verhandlungen einen radikalen
Massenmord, den sie in Anlehnung an die Ermordung der Tamilen-Rebellen „Sri Lanka
Modell“ nannten. Als die Regierung die Verhandlungen mit der PKK schließlich
aufgab, versetzte sie massenhaft Gülenisten in den Südosten. Zur Bekämpfung der
„Kurden“ wurde an vorderster Front die von Gülenisten durchsetzte Polizei eingesetzt.
Die AKP vertraute dem Militär aufgrund der „Ergenekon Verschwörung“ zu diesem
Zeitpunkt nicht. Die Regel des Krieges verschaffte sich auf der Stelle Geltung:
Wer im Krieg gegen die „Kurden“ das Zepter schwingt, erlangt eine von der
Regierung in Ankara nicht mehr kontrollierbare Macht und kann auf dieser
Grundlage noch mehr Macht und Befugnisse von Ankara verlangen.
Was in den 1990ern für die Susurluk-Bande
und in jüngerer Zeit für die Gülenisten galt, die jeweils über die Dynamiken
des Krieges Macht akkumuliert hatten, gilt wohl auch für jene, die jetzt das
Zepter schwingen. Dass die AKP-Regierung die Kriegsfront unausgesetzt in
Richtung Syrien und Irak erweitert, hat meines Erachtens weniger ideologische
denn politische Gründe, die aus den inneren Balancen des Regimes herrühren. Die
kriegsführenden eurasischen Kräfte drängen auf eine Ausweitung des Krieges und in
diesem Zuge ihrer Befugnisse.
Regierungswechsel
in den USA
Betrachten wir nun die Aussichten des
eurasischen Unterfangens. In der amerikanischen Presse wird nicht zu Unrecht
davon gesprochen, dass die Moskauer Abmachung die USA ausschließt. Hierin liegt
sicherlich ein wichtiger, allerdings doch nur ein taktischer Sieg der Eurasier.
Die USA bereiten sich nach dem wohl turbulentesten Wahlkampf in ihrer jüngeren
Geschichte auf einen Regierungswechsel vor. Eine gewisse politische
Schwerfälligkeit kann hierbei auftreten. Russland, Syrien, der Iran und die
Türkei scheinen die Übergangsphase ausnutzen zu wollen.
Es scheint, dass Moskau sich aufgrund
einer ausbleibenden Einigung mit den USA in der Causa Syrien mit der Türkei ein
neues Gegenüber geschaffen hat. Das heißt, die Türkei sitzt derzeit nicht
aufgrund eigener Stärke am Verhandlungstisch, sondern aufgrund eines
Spielraums, den sie von Russland gewährt bekommt. Es ist aber nicht richtig
klar, wen die Türkei an diesem Tisch wirklich repräsentieren kann. In den
internationalen Beziehungen werden die Balancen über die tatsächlichen
Kapazitäten eines Landes gebildet. Russlands Staatspräsident Vladimir Putin
weiß sehr wohl, dass das strategische Gegenüber die USA sind.
Ende Januar wird Donald Trump die
Regierung in den USA übernehmen. Bislang äußerte Trump Sympathien mit Russland.
Den CEO von Exxon Mobile, Rex Tillerson, der Geschäfte mit Russland unterhält,
hat er als zukünftigen Außenminister benannt. Es schließt die Frage an, wie
sich diejenigen verhalten werden, die im Namen eines Anti-Amerikanismus sich
als Freunde Russlands positioniert haben, wenn eine Russland-freundliche
amerikanische Regierung das Ruder übernimmt? Das interessantere Thema, das die
Beziehung der AKP zu den Eurasiern berührt, wird aber ein anderes sein: die
Bekämpfung des Islamismus. Während seiner Wahlkampagne betonte Trump immerfort,
dass seine Sympathie mit Putin hauptsächlich auf dessen Bombardierung
„islamistischer Terroristen“ beruhe. Trump kritisierte Obama und Clinton, sie
würden die Terroristen nicht als islamistisch bezeichnen.
Sofern sich dieses Stimmungsbild
bewahrheitet und Trump sich mit Putin einigen sollte, was geschieht dann mit
der Abmachung zwischen Moskau, Teheran und Ankara? Dass sich Trump eindeutig
auf die Seite Israels und gegen die unter Obama geführte Diplomatie mit dem Iran
stellte, ist kein Geheimnis. Der Iran liegt seit 1979 außerhalb des
Einflussgebiets der USA, nicht jedoch die Türkei. Will sagen: Wenn Trump zur
Bekämpfung des Islamismus eine Partnerschaft mit den türkischen Eurasiern
eingehen sollte, welches Gegengewicht bleibt der AKP dann, um eine eurasische
Fraktion auszutarieren, die sowohl die Unterstützung Putins als auch Trumps
erhält und im Krieg gegen die „Kurden“ das Zepter schwingt?
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[1] Anm. d. Red.: Die erste Koalitionsregierung
mit Beteiligung des politischen Islam (Wohlfahrtspartei) wurde 1996 unter Erbakan gebildet. 1997 wurde die
Regierung durch ein Ultimatum der Generäle wegen islamistischer Umtriebe zuerst
gemaßregelt und schließlich zum Rücktritt gezwungen. Die Partei wurde verboten,
was den Gründungsvätern der AKP die Gelegenheit bot, sich von Erbakan zu lösen.
[2] Anm. d. Red.: Die Generäle verbanden
zu diesem Zeitpunkt mit Demokratisierung vor allen Dingen ihre eigene politische
Entmachtung im Zuge des Heranführungsprozesses an die EU.
[3] Anm. d. Red.: Hinsichtlich der geopolitischen Positionierung, über die sich die Fraktionen bilden,
vertreten die Nationalisten (auf Türkisch „Ulusalcılar“) eine Position
nationaler Unabhängigkeit, bestehen auf einem unitären Staatswesen und einer
ethnisch einheitlichen Definition des Staatsvolks. Sich in der
Tradition Atatürks verortend, sehen sie ihre Aufgabe darin,
die Einheit der Türkei zu erhalten, die sie durch imperialistische Ränkespiele
gefährdet sehen. Siehe zur Beschreibung der Akteure auch den Artikel von Nick
Brauns: Ein Russe in Ankara.
[4] Anm. d. Red.: Die verhafteten
Offiziere und Zivilisten der „Ergenekon Verschwörung“ wurden bereits vor zwei
Jahren nach langjähriger Haft nach und nach wieder entlassen. Das Urteil von
2013 wurde im April 2016 wieder aufgehoben. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli
2016 wurden einige eurasische/nationalistische Offiziere wieder in
die Armee aufgenommen.
[5] Anm. d. Red.: Im
Zentrum des Konflikts standen die geheimen Verhandlungen der AKP
mit der PKK zwischen 2009 und 2011 in Oslo. Das Führen von Verhandlungen mit
der „Terrororganisation PKK“ wurde von gülenistischen Staatsanwälten zum Anlass
genommen, Ermittlungen wegen Landesverrats aufzunehmen. Es galt als
wahrscheinlich, dass der Geheimdienstchef Fidan, der im Auftrag der
Regierung die Verhandlungen führte, dem Vorwurf des Landesverrats ausgesetzt
worden wäre, wenn er der Vorladung der Staatsanwälte gefolgt wäre. Die AKP
wertet das Begebnis als ersten Putschversuch der Gülenisten. Da der
Geheimdienst dem Ministerpräsidenten unterstellt war, war naheliegend, dass die
Ermittlungen sich im nächsten Schritt gegen Erdoğan richten würden. Erdoğan
konnte verhindern, dass Fidan der Vorladung folgen musste.
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Sinan Birdal ist
Politikwissenschaftler und Kolumnist. Der Artikel basiert auf einer Veröffentlichung in Gazete Duvar am 22.12.2016.