Mittwoch, 15. Juni 2016

Das Merkel-Erdoğan-Duell – Volle Fahrt zurück in der türkischen Außenpolitik?

Von Behlül Özkan

Die türkische Außenpolitik gleicht einem Schiff inmitten eines Sturms. Die Schiffsschrauben sind durch mehrere missratene Manöver schwer beschädigt, der schimpfwütige Kapitän und sein Team sind inkompetent und engstirnig. Wie wahrscheinlich ist es, dass sie das Schiff in ruhigere Gewässer lenken werden?


Ahmet Davutoğlu manövrierte die Türkei in strategische Untiefen. Nach seiner Abservierung als Ministerpräsident werden nun aus den höheren Riegen der AKP Signale einer Normalisierung in den Außenbeziehungen gesendet. Der frisch gekürte Nachfolger Davutoğlus, Binali Yıldırım, ließ wissen, „die Anzahl der Freunde wird gesteigert und die der Feinde reduziert“. Der Ingenieur und ehemalige Verkehrsminister Yıldırım nimmt wohl an, dass Außenpolitik dem Straßenbau gleicht und er die Zahl der Freunde und Feinde nach Belieben hoch und runter schrauben kann.

Der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmuş reihte sich in die Schlange derer ein, die eine Revision in der Außenpolitik für notwendig halten: „Selbst wenn wir wollten, haben wir nicht die Macht und die Möglichkeiten, jedes Problem zu lösen“. Angesichts dessen, dass Davutoğlu vor nicht allzu langer Zeit noch auf die Pauke haute, „Im Nahen Osten passiert nichts ohne unser Wissen“, sind die Worte von Kurtulmuş fast schon ein Eingeständnis von Fehleinschätzungen. Etliche Journalisten stimmen optimistisch ein, mit Davutoğlus Abgang stünden die Zeichen auf „Volle Fahrt zurück“. Zweifel sind angebracht. Ein Sturm wütet, die Schiffsschrauben sind schwer beschädigt und dann ist da ja auch noch der notorische Kapitän.

Im Westen Neues

Der Deutsche Bundestag hat mit der Resolution vom 2. Juni die Ereignisse von 1915 als Genozid anerkannt. Noch vor einem Jahr vertagte derselbe Bundestag die Abstimmung der Resolution auf unbestimmte Zeit. Die Bewertung soll den Historikern überlassen werden, hieß es damals. Was ist passiert, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei innerhalb eines Jahres zum Zerreißen gespannt sind?

Auslöser der Krise zwischen Berlin und Ankara ist der Plan des Staatspräsidenten Erdoğan, die in der Türkei befindlichen 3 Millionen Flüchtlinge gegen die EU auszuspielen. Vor den Parlamentswahlen im November befand Erdoğan, dass die von Brüssel versprochenen 3 Milliarden Euro für die Flüchtlinge zu wenig seien. Er drohte hochrangigen EU-Vertretern: „Wir packen die Flüchtlinge in Busse und öffnen die Grenze zu Griechenland und Bulgarien“. Der schmutzige Deal auf dem Rücken der Flüchtlinge wurde ab diesem Zeitpunkt eingefädelt.

Über Monate bemühten sich die EU wie auch Deutschland eine befriedigende Formel für Erdoğan zu finden. Aus Rücksicht auf die türkische Regierung verschob die EU die Veröffentlichung eines kritischen Fortschrittberichts zum Beitrittsprozess der Türkei. Die Kanzlerin Merkel reiste mehrfach in die Türkei, um Erdoğan für eine Lösung in der „Flüchtlingskrise“ zu gewinnen. Innenminister Thomas de Maizière verschloss die Augen vor der schweren Zerrüttung der Demokratie in der Türkei und glänzte durch Opportunismus: „Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein“, so seine Ausrede mit Blick auf die EU-Beitrittskandidatin (!) Türkei.

Das Merkel-Erdoğan-Duell

Es gibt zwei Gründe, warum Erdoğan seine Forderungen an Deutschland immerzu erhöhte. Zum einen nimmt er an, dass Deutschland aufgrund der Flüchtlinge in der Zwickmühle steckt. Folglich gab er sich nicht mit ein paar Milliarden zufrieden, sondern verlangte auch, dass die EU den türkischen Plan unterstützt, im Norden Syriens eine sichere Zone für die von der Türkei unterstützten Milizen einzurichten, um so das Hindernis Russland zu überwinden.

Zum anderen nimmt Erdoğan an, dass Deutschland mit den Gezi-Protesten im Juni 2013 und dem Korruptionsskandal im Dezember desselben Jahres, in den mehrere Minister und deren Söhne sowie Erdoğans eigener Filius involviert waren, hinter einem Umsturzplan gegen ihn steckt. Das Bekanntwerden der Abhöraktionen des BND in der Türkei und die Inhaftierung des Erdoğan-Beraters Taha Gergerlioğlu in Deutschland mit dem Vorwurf der Spionage lassen ihn vermuten, dass der BND Gespräche von ihm und anderen hochrangigen Politikern abgehört und weitergegeben hat. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hat unter diesem Verdacht Ermittlungen aufgenommen. In den Medien der AKP wird außerdem kolportiert, Deutschland versuche den Bau des neuen Großflughafen Istanbuls zu verhindern, habe Agenten zur PKK in die Kandil-Berge geschickt, die bei einem Bombardement der türkischen Luftwaffe gestorben seien.

Erdoğan glaubt offensichtlich an eine Verschwörung aus Deutschland, die er mit der Eskalation der Flüchtlingskrise zu kontern versucht. Seine Taktik blieb nicht ganz ohne Erfolg. Er konnte sogar erreichen, dass Merkel ihre Zustimmung gab, ein Ermittlungsverfahren gegen den Satiriker Böhmermann einzuleiten, der Erdoğan beleidigt haben soll.

Peitsche statt Zuckerbrot

Berlin hat inzwischen begriffen, dass das permanente Zurückweichen vor Erdoğan kein Ende nehmen wird. Statt Zuckerbrot gibt es nun die Peitsche. Die Genozid-Resolution ist ein erstes Signal. Dass das türkische Außenministerium die Resolution als „Versuch der Entfremdung und Assimilation“ von „den Türken“ in Deutschland bezeichnete, signalisierte wiederum, dass es zu weiteren Attacken aus der Türkei kommen wird. Falls Erdoğan, um Merkel in die Ecke zu drängen, weiter provoziert und die in Deutschland lebende Bevölkerung mit Türkeihintergrund für diesen Zweck zu instrumentalisieren versucht, dann wird die deutsche Reaktion mit Sicherheit heftig ausfallen. Denn dieses Thema wird von Berlin als äußerst sensibel eingestuft.

Als erste Reaktion könnte ein Schlag gegen den aufgrund der Spannungen mit Russland ohnehin angeschlagenen Tourismus in der Türkei erfolgen. Die Zollunion könnte zur Diskussion gestellt und die PKK aus der Liste der Terrororganisationen gestrichen werden. Im letzten Jahr entschuldigte sich die PKK mit Nachdruck für militante Aktionen der 1990er Jahre in Deutschland und versicherte, dass so etwas nie wieder vorkommen werde. Im Mai dieses Jahres eröffnete die syrisch-kurdische PYD, mit Wissen und Zustimmung deutscher Behörden, eine Vertretung in Berlin. Falls die Krise weiter eskaliert, kann Deutschland das türkische Argument, „Die PYD ist ein Arm der PKK und folglich eine Terrororganisation“, umkehren: „Die PYD sehe ich nicht als Terrororganisation an, folglich ist auch die mit ihr verbundene PKK keine Terrororganisation“.

Mit Bauernschläue der Welt die Stirn bieten

Die so genannten Außenexperten der AKP haben solche potentiellen Folgen mit Sicherheit nicht auf dem Schirm. Ein paar Schritte Vorausplanung überfordert sie. Es stellt sich daher die Frage, wie sich die Außenpolitik unter diesem Team, das die Welt mit Bauernschläue bezwingen möchte, ändern soll. Ein Team, das mit dem Abschuss eines russischen Kampfjets etwas fertig gebracht hat, das kein anderes NATO-Land in 65 Jahren wagte, und, als der Boden unter den Füßen zu brennen anfing, die Schuld dem Piloten zuschob sowie kleinlaut eine Überwindung der Spannungen mit Russland herbeiwünschte, während man sich gleichzeitig erneut gegenüber Russland aufplusterte, man werde mit aller Entschlossenheit gegen alle kämpfen, die Aleppo zu Fall bringen wollten.

„Volle Fahrt zurück“ mit diesem Team, das den wochenlangen Raketenbeschuss der türkischen Grenzstadt Kilis durch den IS, der den Tod etlicher Zivilisten forderte, als „möglicherweise versehentlich“ bezeichnete, und das die geopolitische Isolation der Türkei als „Position der wertvollen Einsamkeit“ beschönigt?

Es gilt zu bedenken, dass im Äußern mit Nachdruck zwischen Erdoğan und der Türkei unterschieden wird. Putin betont, „Die freundschaftlichen Beziehungen zum türkischen Volk werden aufrechterhalten. Wir haben aber Probleme mit politischen Personen, die linkische Aktionen begehen. Darauf werden wir angemessen reagieren“. In den USA läuft ein von der AKP mit Sorge verfolgter, medienwirksam inszenierter Gerichtsprozess gegen den türkisch-iranischen Geschäftsmann Reza Zarrab, der als Drahtzieher im Rahmen des Korruptionsskandals der türkischen Regierung gilt.

Erdoğan kann auf Europa schimpfen, so viel er möchte. Dass die Zustimmung zum EU-Beitritt in der Türkei bei einer jüngeren Umfrage im Vergleich zum Vorjahr um 13 % auf insgesamt 75 % gestiegen ist, zeigt, dass die meisten wissen, was läuft.

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Dr. Behlül Özkan ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Marmara Universität.


*Der Artikel erschien zuerst in der Tageszeitung BirGün am 5.6.2016 und wurde von Infobrief Türkei übersetzt.