Von Behlül Özkan
Die türkische Außenpolitik gleicht
einem Schiff inmitten eines Sturms. Die Schiffsschrauben sind durch mehrere missratene
Manöver schwer beschädigt, der schimpfwütige Kapitän und sein Team sind inkompetent
und engstirnig. Wie wahrscheinlich ist es, dass sie das Schiff in
ruhigere Gewässer lenken werden?
Ahmet Davutoğlu manövrierte die
Türkei in strategische Untiefen. Nach seiner Abservierung als Ministerpräsident
werden nun aus den höheren Riegen der AKP Signale einer Normalisierung in den
Außenbeziehungen gesendet. Der frisch gekürte Nachfolger Davutoğlus, Binali
Yıldırım, ließ wissen, „die Anzahl der Freunde wird gesteigert und die der
Feinde reduziert“. Der Ingenieur und ehemalige Verkehrsminister Yıldırım nimmt
wohl an, dass Außenpolitik dem Straßenbau gleicht und er die Zahl der Freunde
und Feinde nach Belieben hoch und runter schrauben kann.
Der stellvertretende
Ministerpräsident Numan Kurtulmuş reihte sich in die Schlange derer ein, die eine
Revision in der Außenpolitik für notwendig halten: „Selbst wenn wir wollten,
haben wir nicht die Macht und die Möglichkeiten, jedes Problem zu lösen“. Angesichts
dessen, dass Davutoğlu vor nicht allzu langer Zeit noch auf die Pauke haute,
„Im Nahen Osten passiert nichts ohne unser Wissen“, sind die Worte von Kurtulmuş
fast schon ein Eingeständnis von Fehleinschätzungen. Etliche Journalisten
stimmen optimistisch ein, mit Davutoğlus Abgang stünden die Zeichen auf „Volle
Fahrt zurück“. Zweifel sind angebracht. Ein Sturm wütet, die Schiffsschrauben
sind schwer beschädigt und dann ist da ja auch noch der notorische Kapitän.
Im
Westen Neues
Der Deutsche Bundestag hat mit der
Resolution vom 2. Juni die Ereignisse von 1915 als Genozid anerkannt. Noch vor
einem Jahr vertagte derselbe Bundestag die Abstimmung der Resolution auf
unbestimmte Zeit. Die Bewertung soll den Historikern überlassen werden, hieß es
damals. Was ist passiert, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und der
Türkei innerhalb eines Jahres zum Zerreißen gespannt sind?
Auslöser der Krise zwischen Berlin
und Ankara ist der Plan des Staatspräsidenten Erdoğan, die in der Türkei befindlichen
3 Millionen Flüchtlinge gegen die EU auszuspielen. Vor den Parlamentswahlen im
November befand Erdoğan, dass die von Brüssel versprochenen 3 Milliarden Euro für
die Flüchtlinge zu wenig seien. Er drohte hochrangigen EU-Vertretern: „Wir
packen die Flüchtlinge in Busse und öffnen die Grenze zu Griechenland und
Bulgarien“. Der schmutzige Deal auf dem Rücken der Flüchtlinge wurde ab diesem
Zeitpunkt eingefädelt.
Über Monate bemühten sich die EU wie
auch Deutschland eine befriedigende Formel für Erdoğan zu finden. Aus Rücksicht
auf die türkische Regierung verschob die EU die Veröffentlichung eines
kritischen Fortschrittberichts zum Beitrittsprozess der Türkei. Die Kanzlerin
Merkel reiste mehrfach in die Türkei, um Erdoğan für eine Lösung in der „Flüchtlingskrise“
zu gewinnen. Innenminister Thomas de Maizière verschloss die Augen vor der
schweren Zerrüttung der Demokratie in der Türkei und glänzte durch Opportunismus:
„Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze
Welt sein“, so seine Ausrede mit Blick auf die EU-Beitrittskandidatin (!) Türkei.
Das
Merkel-Erdoğan-Duell
Es gibt zwei Gründe, warum Erdoğan
seine Forderungen an Deutschland immerzu erhöhte. Zum einen nimmt er an, dass
Deutschland aufgrund der Flüchtlinge in der Zwickmühle steckt. Folglich gab er
sich nicht mit ein paar Milliarden zufrieden, sondern verlangte auch, dass die
EU den türkischen Plan unterstützt, im Norden Syriens eine sichere Zone für die
von der Türkei unterstützten Milizen einzurichten, um so das Hindernis Russland
zu überwinden.
Zum anderen nimmt Erdoğan an, dass
Deutschland mit den Gezi-Protesten im Juni 2013 und dem Korruptionsskandal im
Dezember desselben Jahres, in den mehrere Minister und deren Söhne sowie
Erdoğans eigener Filius involviert waren, hinter einem Umsturzplan gegen ihn
steckt. Das Bekanntwerden der Abhöraktionen des BND in der Türkei und die Inhaftierung
des Erdoğan-Beraters Taha Gergerlioğlu in Deutschland mit dem Vorwurf der
Spionage lassen ihn vermuten, dass der BND Gespräche von ihm und anderen hochrangigen
Politikern abgehört und weitergegeben hat. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft
hat unter diesem Verdacht Ermittlungen aufgenommen. In den Medien der AKP wird außerdem
kolportiert, Deutschland versuche den Bau des neuen Großflughafen Istanbuls zu
verhindern, habe Agenten zur PKK in die Kandil-Berge geschickt, die bei einem
Bombardement der türkischen Luftwaffe gestorben seien.
Erdoğan glaubt offensichtlich an eine
Verschwörung aus Deutschland, die er mit der Eskalation der Flüchtlingskrise zu
kontern versucht. Seine Taktik blieb nicht ganz ohne Erfolg. Er konnte sogar
erreichen, dass Merkel ihre Zustimmung gab, ein Ermittlungsverfahren gegen den
Satiriker Böhmermann einzuleiten, der Erdoğan beleidigt haben soll.
Peitsche
statt Zuckerbrot
Berlin hat inzwischen begriffen, dass
das permanente Zurückweichen vor Erdoğan kein Ende nehmen wird. Statt
Zuckerbrot gibt es nun die Peitsche. Die Genozid-Resolution ist ein erstes
Signal. Dass das türkische Außenministerium die Resolution als „Versuch der
Entfremdung und Assimilation“ von „den Türken“ in Deutschland bezeichnete,
signalisierte wiederum, dass es zu weiteren Attacken aus der Türkei kommen wird.
Falls Erdoğan, um Merkel in die Ecke zu drängen, weiter provoziert und die in
Deutschland lebende Bevölkerung mit Türkeihintergrund für diesen Zweck zu
instrumentalisieren versucht, dann wird die deutsche Reaktion mit Sicherheit
heftig ausfallen. Denn dieses Thema wird von Berlin als äußerst sensibel
eingestuft.
Als erste Reaktion könnte ein Schlag
gegen den aufgrund der Spannungen mit Russland ohnehin angeschlagenen Tourismus
in der Türkei erfolgen. Die Zollunion könnte zur Diskussion gestellt und die
PKK aus der Liste der Terrororganisationen gestrichen werden. Im letzten Jahr
entschuldigte sich die PKK mit Nachdruck für militante Aktionen der 1990er
Jahre in Deutschland und versicherte, dass so etwas nie wieder vorkommen werde.
Im Mai dieses Jahres eröffnete die syrisch-kurdische PYD, mit Wissen und
Zustimmung deutscher Behörden, eine Vertretung in Berlin. Falls die Krise
weiter eskaliert, kann Deutschland das türkische Argument, „Die PYD ist ein Arm
der PKK und folglich eine Terrororganisation“, umkehren: „Die PYD sehe ich
nicht als Terrororganisation an, folglich ist auch die mit ihr verbundene PKK
keine Terrororganisation“.
Mit
Bauernschläue der Welt die Stirn bieten
Die so genannten Außenexperten der AKP
haben solche potentiellen Folgen mit Sicherheit nicht auf dem Schirm. Ein paar
Schritte Vorausplanung überfordert sie. Es stellt sich daher die Frage, wie sich
die Außenpolitik unter diesem Team, das die Welt mit Bauernschläue bezwingen
möchte, ändern soll. Ein Team, das mit dem Abschuss eines russischen Kampfjets
etwas fertig gebracht hat, das kein anderes NATO-Land in 65 Jahren wagte, und, als
der Boden unter den Füßen zu brennen anfing, die Schuld dem Piloten zuschob
sowie kleinlaut eine Überwindung der Spannungen mit Russland herbeiwünschte,
während man sich gleichzeitig erneut gegenüber Russland aufplusterte, man werde
mit aller Entschlossenheit gegen alle kämpfen, die Aleppo zu Fall bringen
wollten.
„Volle Fahrt zurück“ mit diesem Team,
das den wochenlangen Raketenbeschuss der türkischen Grenzstadt Kilis durch den
IS, der den Tod etlicher Zivilisten forderte, als „möglicherweise
versehentlich“ bezeichnete, und das die geopolitische Isolation der Türkei als „Position
der wertvollen Einsamkeit“ beschönigt?
Es gilt zu bedenken, dass im Äußern mit
Nachdruck zwischen Erdoğan und der Türkei unterschieden wird. Putin betont,
„Die freundschaftlichen Beziehungen zum türkischen Volk werden
aufrechterhalten. Wir haben aber Probleme mit politischen Personen, die
linkische Aktionen begehen. Darauf werden wir angemessen reagieren“. In den USA
läuft ein von der AKP mit Sorge verfolgter, medienwirksam inszenierter Gerichtsprozess
gegen den türkisch-iranischen Geschäftsmann Reza Zarrab, der als Drahtzieher im
Rahmen des Korruptionsskandals der türkischen Regierung gilt.
Erdoğan kann auf Europa schimpfen, so
viel er möchte. Dass die Zustimmung zum EU-Beitritt in der Türkei bei einer
jüngeren Umfrage im Vergleich zum Vorjahr um 13 % auf insgesamt 75 % gestiegen
ist, zeigt, dass die meisten wissen, was läuft.
_________________________________
Dr. Behlül Özkan ist
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Marmara Universität.
*Der Artikel erschien zuerst in der
Tageszeitung BirGün am 5.6.2016 und wurde von Infobrief Türkei übersetzt.